Gesammelte Erzählungen 1999-2019
Von Gianni Kuhn
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Über dieses E-Book
und Gesamtkunstwerkers Gianni Kuhn.
Gianni Kuhn
Gianni Kuhn, geboren 1955, Besuch der Kunstgewerbeschule in St. Gallen, studierte von 1979-1982 Germanistik und Kunstgeschichte in Zürich, Studienaufenthalte in Paris und New York. Er lebt in Frauenfeld. Von ihm sind zahlreiche Gedichtbände, Erzählungen, Novellen, Prosabände und Romane erschienen. Zuletzt »Die kleinste Galerie der Welt«, ein Band mit Kurzgeschichten und Fotografien, der in mehrere Sprachen übersetzt wurde, die »Trilogie des Verschwindens«, der Gedichtband »Der Büroangestellte, die Prostituierte, der Klempner, die Lehrerin« und die Werkausgabe in vier Bänden.
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Rezensionen für Gesammelte Erzählungen 1999-2019
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Buchvorschau
Gesammelte Erzählungen 1999-2019 - Gianni Kuhn
Inhaltsverzeichnis
Splitter der Tage
I. Splitter der Tage (No. 1-153)
II. Die Ausdehnung der Dinge
Die Katze ist eigentlich ein Hund
Abgehoben
Was denkt der Müllmann?
Vier Frauen betrachten den Mond
Löschpapier auf Tinte
Die Doppelgarage
Olio extra virgine
Nackte Besucher
Peters Hinterkopf
Anschnitt zur Norm
Erste Person Plural
Cramers Katze
Mercier fährt immer Rad
Nachtstücke
Herr Silber
Der Kinderspaziergang
Die Bronzefigur
Der Flieger
Die Maske
Die weisse Katze
Umschlungen
III. Gespräche mit einem Nashorn
IV. Mein Haus in Novosiwinsk
V. Das letzte Licht
Amor als Sieger
Mein Herz
Der gelbe Dom
Der Kirschbaum
Amor als Sieger
Ein kurzer Besuch
Zug nach Pankow
Ausser Atem
Das Fenster zum Hof
Bergwelt
Das Ende der Reise
Die Bahnfahrt
Das Manuskript
Die Schwester von Charlottenburg
Göttliche Infusionen
Wie atmet ein Fahrradfahrer?
Arbeitslos
Auf der Flucht
Ausflug
Beginnen
Blendung
Blumen
Brückensteher
Constanze kreuzt die weissen Lilien
Das Erdbeben
Das erregendste Rot
Das helle Zimmer
Das Hochgebirge
Das Telefon klingelt
Der Autounfall
Der erste Arbeitstag
Der Hund
Der Inspektor
Der Mann vom Zoo
Der Talisman
Die Fliege stört beim Denken
Die fliegenden Hunde von Feldkirch
Die neue Jacke
Die singende Tante
Drei Männer vom See
Dreiklang
Ein alter Bekannter
Ein Märchen
Eine flüchtige Bekanntschaft
Eines Morgens Mönch
Einkauf
Einsetzender Regen
Einweisung
Eisschwimmer
Ende November
Erstes Kind
Fahrrad fahren
Familie
Feuer
Fotografie von Apollo
Freier Fall
Frühling
Gegen Morgen Musik
Hektor
Hoher Schnee
Honzo
Im Lauf der Zeit
Im Park
In der Nacht
In ihrem Reich
Kirschblüte
Landeplatz
Lisa
Malerleben
Mein Vater
Mitten in der Nacht
Mona Lisa lächelt
Nach Sonnenuntergang
Nacht und Tag
Nachtspaziergang
Naomi
Narkose
Neuschnee
Neuschneeverführung
Noch ein Kind
Noch nicht aller Tage Abend
Notfall
Obdachlos
Perlenkette
Petroleum
Piazza San Marco
Poker
Quark
Quitten
Römische Geschichte
Sand holen
Sarka und Irina
Schicksal
Schönes Wetter
Schulfreunde
Stare
Stilles Glück
Tänzelndes Pony
Tochter der Näherin
Toteninsel
Verflossen
Verlorene Liebe
Vögel fliegen in Formation
Vögel im Nebel
Vor den Ferien
Vor langer Zeit
Vor Ort und Stelle
Weisse Wand
Whiskyreise
Wie atmet ein Fahrradfahrer?
Wolf
Wunderland
Xenia
Yggdrasil
Yvonne
Zu Besuch
Calais–Dover
La montagne Sainte-Victoire
Miharu
Fahrerflucht
Geburtstag
Ferienbeginn
Die Blumeninsel
Alles vergessen
Gute Freunde
Calais – Dover
Im Herzen der Stadt
Die Langstreckenläuferin
Vor langer Zeit
Kartäuser
Sur le pont d'Avignon
Der Falkner von Brest
Aufenthalt im Paradies
Ganz alltäglicher Wahnsinn
Beginnen
Zugfahrt
Vorsehung
Unbemerkt
Fahrtenschreiber
Der Brutplatz
Kunststück
Der Zeitungsleser
Die Krankheit
Planetenbahnen
Die Madonna im Zug
Am Ufer
Ihr Liebling
Eine alte Bekannte
Stare
Wo die Toten wohnen
Die Eisprinzessin
Der Blumenstrauss
Ein lächerlicher Mensch
Karawanenmusik
Grossmutter
Gewitteraugen
Der erste Kuss
Eine beliebte Lehrerin
Die Japanerin
Lachend aufwachen
Ganz alltäglicher Wahnsinn
Die Kunstgiesserin
Die schwarze Madonna
Hochwasser
Wo Grossvater ist
Der Postbote
Das Tal
Das Haus am Fluss
Der Schulfreund
Der Offizier
Eine einzige Chance
Kreislauf
Schlafende Schmetterlinge
Prüfungstermin
Blutroter Fuchs
Regenwetter
Eine verrückte Woche
Ganz natürlich
Der blaue Anzug
Der Flaneur
Thénards Blau
Unversehens Linkshänder
Jugendliebe
Weibliche Logik
Die kleinste Galerie der Welt
Wie alles begann
Der Galerist
Der Vorschlag
Kinder hüten
Nachtrag
Blind
Kinderwelt
Erinnerung
Wahre Liebe
Verpasst
Der Anfang vom Ende
In den Bergen
Japanisches Mädchen
Der Beobachter
Tauben
Lieblingsberg
In Erwartung
Der Riese mit der Kelle
Die Schrift in den Wolken
Tagebuch
Fernweh
Der eigene Garten
Das Rätsel der Büroklammern
Auf der Klippe
Landkarte
Grün über alles
Letzter Schnee
Zwillinge
Waldbrand
Abschied
Der Virtuose
Neuschnee
Kumiko
Getas
Junge Liebe
Ort der Liebe
Kindstod
Auf den Fersen
Kirschblüte
Pompeji
Verschollen
Das Mädchen und das Pferd
Verliebt
Strassenwunder
Vesuv
Berge versetzen
Der Schriftsteller
Verstreute und unveröffentlichte Prosa
Algen, verschlossen ohne Pause
Navigation
Durch die Wälder
Die Erfindung der Poesie
Das Schwarze
Inhalt und Form oder Fahrten ins Wutachtal
Soll ich den See als Druckpapier nehmen?
Löschflugzeuge
Rot lackierte Fingernägel
Der Aquarellist
Farben frühmorgens fern I-IV
Neun neue Geschichten
Inhalt
Splitter der Tage
Amor als Sieger
Wie atmet ein Fahrradfahrer?
Calais–Dover
Ganz alltäglicher Wahnsinn
Die kleinste Galerie der Welt
Verstreute und unveröffentlichte Prosa
Splitter der Tage
Prosa
Inhalt
I. Splitter der Tage (No. 1-153)
II. Die Ausdehnung der Dinge
Die Katze ist eigentlich ein Hund
Abgehoben
Was denkt der Müllmann?
Vier Frauen betrachten den Mond
Löschpapier auf Tinte
Die Doppelgarage
Olio extra virgine
Nackte Besucher
Peters Hinterkopf
Anschnitt zur Norm
Erste Person Plural
Cramers Katze
Mercier fährt immer Rad
Nachtstücke
Herr Silber
Der Kinderspaziergang
Die Bronzefigur
Der Flieger
Die Maske
Die weisse Katze
Umschlungen
III. Gespräche mit einem Nashorn
IV. Mein Haus in Novosiwinsk
V. Das letzte Licht
I.
Splitter der Tage (No. 1-153)
1.
In einer Buchhandlung steckte sich eine junge Frau ein Taschenbuch zum linken, ein anderes zum rechten Busen unter ihre lachsfarbene seidene Bluse und sagte beim Hinausgehen, die Auswahl sei hier hundsmiserabel.
2.
Der ehemalige Boxchampion arbeitete neuerdings bei einem Fahrradkurierdienst, wo ihm seine einstige Fitness nichts mehr nützte. Im Gegenteil brachte ihm das konstante Radeln diese erst wieder zurück. Er trete nun gegen die Autos an, und dieser Kampf sei nicht weniger gefährlich.
3.
Im Fernsehstudio nach dem Unfallhergang befragt, antwortete der Flugkapitän, er wisse es selbst nicht mehr genau, weil er zuviel Alkohol getrunken habe, was ja nichts als verständlich sei, nachdem alle Insassen ausser ihm beim Unglück ihr Leben verloren hätten.
4.
Nach dem Studium hatte Friedrich zwei Jahre lang in einer Gärtnerei gearbeitet, wo er die grosse Geschichte der Sukkulenten schrieb. Die rotwangige Rosa und die spindeldürre Rahel waren ihm dabei, so sagte er, wenn sie mit ihren wettererprobten Häuptern, ihren grünen Schürzen über den Jeans und ihren schweren, vor Dreck strotzenden Lederschuhen an ihm vorbeigingen oder in seiner Nähe miteinander plauderten, die eigentlichen Musen seiner Arbeit. Als er dann nach Ablauf der zwei Jahre seine grosse Geschichte der Sukkulenten abgeschlossen hatte und an der Hochschule unterrichtete, fehlten ihm die Musen so sehr, dass er seine Forschungs- und Lehrtätigkeit kurzerhand in die Gärtnerei verlegte.
5.
Sie trug einen gelben Pullover. Durch die kleinen, gelben Herbstblätter der Gleditschie glaubte er sie bei jedem noch so sanften Windstoss über den Gartenweg kommen zu sehen.
6.
Der alte Mann schaute von einem Ende der Kastanienallee zum anderen, doch es war noch keine weitere Kastanie zu Boden gefallen.
7.
Die drei jungen Leute störte es nicht, dass sie die Fotografin nackt ablichtete. Die auf dem Bett sitzende junge Frau setzte sich eben einen Schuss; der eine Jüngling band ihr den Oberarm ab, der andere half ihr, die Spritze in der richtigen Position zu halten.
8.
In einer neurenovierten katholischen Kirche staubten zwei junge Burschen die Monstranz ab, weil sie ideal in ihren Clubraum passte, wo schon ein Dutzend anderer Monstranzen standen.
9.
Erst als die Wand beinahe fertig gestrichen war, spürte der Maler, wie ihm das starke Lösungsmittel den Verstand benebelte, so dass es ihm unmöglich war, auch nur eine Sekunde länger auf dem Gerüst zu stehen.
10.
Die Sekretärin spürte, dass der Chef sie rausekeln wollte, da dieser immer wieder betonte, wie schlecht sie ihre Arbeit verrichte. Sie kündigte schliesslich unter dem Vorwand, sich wieder ins Privatleben zurückziehen zu wollen.
11.
Die Furka-Oberalp-Bahn kreischte durch den langen Tunnel den Berg hinauf. Ramona zog sich den Isländer-Pullover über, vergewisserte sich, ob sie nichts liegen gelassen hatte, als der Zug auch schon zum Stillstand gekommen war, und sie sprang ab. Kaum hundert Meter, und sie stand oben auf der Passhöhe, wo sich eine Motorradfahrerin vor der Tafel »Oberalppass 2046 m« von ihrem Freund im schwarzen Lederkombi ablichten liess. In ihr Notizbuch schrieb die junge Frau: »Sehr schnell fahrende Nebelschwaden, zwei Berggaststätten wie Kain und Abel, graue biwakartige Behausungen für Militär und Schülerskilager im Winter, der Bergsee, bei dem gemäss Hinweistafel der Besitz des kantonalen Fischereipatents allein noch nicht zum Ausüben dieser Tätigkeit autorisiere. Arnika und Glockenblume sind verschwunden. Gehe in die untere Berggaststätte mit den vielen Erkennungsmarken von Soldaten an die Balken gepinnt, bestelle einen Kaffee, den Magen zu wärmen, den Geist zu schärfen.«
12.
Nicht wenige der singenden Mönche im Kloster dachten an den Schinken, der schon am frühen Nachmittag angeliefert worden war und den sie am Sonntag essen würden.
13.
Morgens um vier Uhr stand er auf, einzig und allein, um diese Stunde, wo fast alle noch schliefen, zu geniessen. Die Stunde der Dämmerung, pflegte er zu sagen, sei immer noch das naheliegendste Geheimnis.
14.
Mitten im Einkaufszentrum fiel ihr die Weinflasche aus dem Einkaufswagen und zersprang mit einem erstaunlich dunklen Klang auf dem Boden.
15.
Yvonne sass fest. Die dunklen Granitwände waren mit einer Eisschicht überzogen. Wie ein kleiner Käfer an einem Grashalm, dachte sie.
Eine Windböe hatte ihre Freundin vor wenigen Minuten aus der Wand gerissen und in die Tiefe geschleudert. Sie hing frei baumelnd am Sicherungsseil unterhalb eines Felsvorsprungs. Yvonne konnte sie nicht hochziehen, also musste sie runterklettern. Als sie plötzlich das abgerissene Seilende in Händen hielt, erfüllte sie ein stechender Schmerz und eine stumme Trauer.
Die Kälte kroch weiter in ihr hoch. Ein weiterer Abstieg war wegen der zunehmenden Vereisung äusserst riskant, doch Yvonne wollte trotz ihrer klammen Glieder weiter absteigen, um ihre Freundin zu suchen. Und es war niemand da, der sie davon hätte abbringen können.
16.
Schwer zu sagen, woher das leise Plätschern des Wassers kam. Zuerst glaubte die Hausfrau, die sich bei einer Tasse Kaffee im Wohnzimmer eine Pause gönnte, das Geräusch käme vom Geschirrspülbecken, doch dort war alles blitzblank, kein einziger Tropfen war gefallen. Dann meinte sie, dieses Gurgeln käme aus den Heizungsrohren, doch als sie ihr Ohr an diese legte, konnte sie nichts hören. Schliesslich blieb sie vor dem Aquarium des Sohnes stehen. Offensichtlich hatte sich ein Wasserpflanzenblatt in den Ansaugschlitzen der Umwälzpumpe verklemmt.
17.
Der Graphiker fand im Himmel den gleichen blassen Blauton wieder, den er im Andruck des Lithographen bisher vermisst hatte. Also zeigte er ihm mit einer Kopfbewegung den Ort des richtigen Tons, und der Lithograph verstand.
18.
Die schwangere Frau genoss den zärtlichen Sex um so mehr, als kein Verhütungsmittel mehr von Nöten war.
19.
Er hätte sich wohl nicht so weit vom Ufer entfernen sollen, denn dort geriet er in eine Strömung, die ihn noch mehr vom Ufer fort trieb. Da nützte es ihm auch nichts mehr, dass er ein ausgezeichneter Schwimmer war.
20.
Herz und Hirn des Fötus beginnen sich in der dritten Schwangerschaftswoche auszuformen. Die Hand der werdenden Mutter auf dem Bauch oder auf den schwellenden Brüsten, die grösser, stärker, aber auch empfindlicher geworden sind. Die Nippel und der Vorhof werden dunkler, praller, voller. Die Venen auf der Brust treten mehr hervor. Ab und zu tritt aus den Brüsten eine gelblich klare Flüssigkeit aus.
Sarah konnte sich nicht erklären, wieso sich ihr Freund in letzter Zeit so rar gemacht hatte. Schliesslich würden sie doch bald zu dritt sein.
21.
Auf einer hässlichen Baustelle schippte ein bildschöner Jüngling Kies, ohne jemals daran gedacht zu haben, sein smartes Aussehen in den Dienst der Werbung zu stellen.
22.
Der Mann war in der kalten Winternacht zu betrunken und zu müde, um sich noch ins warme Hause zu begeben. Der einsetzende Schneefall legte ihm eine Isolationsschicht um den Körper, so dass er diese Nacht überlebte.
23.
Er fuhr ihr mit der Hand über das hell schimmernde Haar, als wollte er so auch ihre Gedanken streicheln.
24.
Die linke Hand des Schriftstellers ruhte auf der Doppelseite eines geöffneten Manuskripts. Er musste eben noch gesprochen haben, denn die feinen Speicheltröpfchen auf den Buchseiten waren noch nicht eingetrocknet. Da sich aber in der letzten halben Stunde nachweislich niemand ausser ihm in diesem Raum aufgehalten hatte, hatte der Schriftsteller offensichtlich ein Selbstgespräch geführt. Wahrscheinlich hatte er sich die zu schreibende Textpassage vorgelesen, um sich Klarheit über deren Wirkung zu verschaffen. Dabei musste er einem Hirnschlag erlegen sein.
25.
Immer wieder musste der Maler die Löcher in der Wand, die von Betrunkenen herrührten, mit Gips verspachteln, um sie nachher weiss überstreichen zu können. Ein Ende dieser immer wieder neu anfallenden Arbeit war nicht abzusehen, und der Maler fand nach dem anfänglichen Ärger allmählich etwas Meditatives in diesen Ausbesserungsarbeiten. Als die Wand längere Zeit nicht mehr mit Flaschen beschädigt worden war, sah er sich gezwungen, selber Hand anzulegen.
26.
Im Auto fahrend hatte sie Lust bekommen, sämtliche Geschwindigkeitsbeschränkungen zu ignorieren, was für einmal gut ausging.
27.
Der Wind hatte an Stärke immer mehr zugenommen, bis schliesslich Ahornblätter, Papierfetzen und selbst Hüte durch die Luft flogen. Hier in ihrem Rollstuhl stehen zu können, war nicht minder schwierig, als ein Kajak durch einen Strudel zu rudern.
28.
Seppuku, die rituelle Selbsttötung, war seine letzte Rechtfertigung. Er hielt das Schwert an der Klinge und stiess es nicht weiter als drei Zehntel seiner Länge in seinen Bauch, um so den Darm nicht zu verletzen. Als zweites durchschnitt er sich die Halsschlagader. Wäre ein Helfer bei ihm gewesen, er hätte ihm mit einem Schwert einen Hieb in den Nacken versetzt.
29.
Der junge Mann ging grölend durch die nachmitternächtliche Stadt und kippte ein Geranienbeet nach dem andern von den Fensterbrettern, dass die Erde hoch in die Luft spritzte, nachdem das jeweilige Kistchen mit einem dumpfen Klang zersprungen war.
30.
Die Orte, wo sich die ersten Hautwucherungen zeigten, wurden immer mehr, bis es endgültig zu spät war.
31.
Vom Flughafenpersonal konnte sich niemand erklären, wieso das Rotkehlchen für die Aufzucht seiner Brut ausgerechnet das kleine Biotop zwischen der Gepäcklagerhalle und dem Gebäude der Flughafenfeuerwehr ausgesucht hatte, gab es doch in der näheren Umgebung ausgedehnte Wälder.
32.
Konrad stand auf der Aussichtsterrasse des Hotels Belvédère; unten lag Gletsch wie ein Würfelspiel, und auf der gewundenen Strasse aufwärts erreichte man selbst zu Fuss in kurzer Zeit den Furkapass. Die Zunge des Rhônegletschers, der noch um 1870 bis nach Gletsch hinuntergereicht hatte, lag hinter einem Gebäude, in dem der Souvenirshop untergebracht war und vor dem die motorisierte Menschheit über den kleinen Parkplatz kurvte. Eben riss eine Windböe einem Kind seine Baseballmütze vom Kopf und wirbelte sie hinunter in die Tiefe, wo anstelle des einstigen Eises blankpolierte Felsen der Steilstufe den Zugang zu Quarzbändern erlaubten. Gewiss war der Eisrest dieses Gletschers im Vergleich zu früheren Zeiten kläglich, doch Konrad sah den Rhônegletscher nicht nur als einen sterbenden, sondern er gewahrte auch die junge Rhône, die von den Wallisern Rotten genannt wird und deretwegen wohl die meisten Touristen hierherkamen.
So waren denn diese Rinnsale in diesem glazialen Kindbett auch der Grund, wieso Konrad diesen Ort aufsuchte, den er, obwohl Geologe, als einen mythischen bezeichnete.
33.
Das Spezielle am Garten war zu dieser Jahreszeit die Farbe Gelb, die dem Bankangestellten die Augen immer wieder vom Monitor weg- und dann hochzog, so dass selbst der Chef auf sein Verhalten aufmerksam wurde. Als er den Angestellten fragte, was denn sei, zeigte dieser nur mit einer Augenbewegung gegen den Garten, der von diesem Herbstgelb überzulaufen schien. Der Chef schüttelte verständnislos den Kopf.
34.
Nasse Unterarme, nasse Hosenbeine, nasse Haare, durchnässte Schuhe und Socken, die Brille vom Wasserdampf beschlagen. So kam er im Kloster an, nachdem er auf dem Hinweg beim Beobachten der Forellen im Bach in diesen gefallen war. Den Beginn seines Klosterlebens hatte er sich zwar anders vorgestellt, doch irgendwie war er glücklich über diesen Zwischenfall, der ihm die Augen geöffnet hatte.
35.
Mitten im Umbau der Wohnung seiner Familie ging der Ehemann und Vater von fünf Kindern ins Freie und folgte der Strasse, ohne sich noch einmal umzudrehen.
36.
An einem hellen, gleissenden Morgen war sie mit ihrem Motorrad von der Fahrbahn abgekommen und in eine graue Betonwand gerast als wär's eine Leinwand. Sie war augenblicklich tot.
37.
Der Priester wäre nicht das grosse Kreuz mit dem Christus hochgeklettert, wenn sich dort oben nicht dieser Luftballon verfangen hätte.
38.
Das Durcheinander von Büchern, Zeitungen, zerknüllten Faxbotschaften, Nachtkleidern, Schminkzeug, Tonfiguren, Planskizzen, Fotoapparaten, Steinen, Muscheln, vergoldeten Bilderrahmen, schwarzen Schallplatten, Leimtöpfen, Salzgebäckpackungen, Super-8-Kameras, Dias, angebrochenen Milchpackungen, überfüllten Aschenbechern, leeren Bierflaschen, Handtüchern, schwimmenden Fischen in Aquarien und zwei schlafenden, halb abgedeckten Körpern von einem Paar, über welches die Sonne ein gesprenkeltes Licht goss, erschien der Putzfrau an diesem Morgen als die natürlichste Landschaft, die sie sich vorstellen konnte.
39.
Eben erst von Venedig zurückgekehrt, verspürte die achtzigjährige Frau eine Müdigkeit, welche sie auf die lange Zugsreise zurückführte.
Als sie jedoch tags darauf notfallmässig ins Spital eingeliefert werden musste, wo man feststellte, dass sie an Leukämie im Endstadium litt, fiel auch sie aus allen Wolken. Zu Hause von den Kindern umsorgt, verlangte sie im Bett essend noch ein Glas Wein, den sie allerdings als seltsam bitter empfand. Dann wurde ihre Haut stündlich mehr wie Wachs, bis sie schliesslich ihre Augen nicht mehr öffnete.
40.
Es war ihr zur lieben Gewohnheit geworden, mit dem Treppenhaus zu sprechen, wann immer sie hochstieg oder herunterkam. Für sie war das eine Form von Zärtlichkeit.
41.
Der Lastwagenfahrer fuhr sein Gefährt mit der wunderbar blauen Blache Russ spuckend an, als wäre er der Ätna höchstpersönlich.
42.
Das Geräusch des siedenden Kaffeewassers erinnerte sie an den Kinderschlitten, auf dem sie ihr Vater jeweils durch den karstigen Schnee zu ziehen pflegte. So kam es, dass sie immer wieder kaltes Wasser nachschütten musste.
43.
In einer Regenlache sah er ein Blatt Papier schwimmen, ausgelaugt und aufgeweicht. Beim Versuch, dieses aufzuheben, verstauchte er sich den Knöchel. Darüber liess er den Zettel fahren und ärgerte sich später mehr darüber, nicht erfahren zu haben, was auf dem Zettel gestanden hatte, als über die Verstauchung.
44.
Gefunden wurde er von einem Strassenkehrer. Er lag verborgen unter einem gelb und ocker schimmernden Blätterhaufen, so dass es dem Arbeiter unmöglich war, seiner Arbeit nachzugehen und die Blätter in das mit Rädern versehene Behältnis zu kippen. Und eigentlich mochte er ihm die so natürliche Wohnung auch nicht einfach wegwischen.
45.
Die Hausfrau hatte die ganze Nacht kaum ein Auge zugetan, weil sie wegen des hustenden Babies immer wieder hatte aufstehen müssen.
Von den zwei älteren Geschwistern war das eine auf dem Pausenplatz von anderen Schülern zusammengeschlagen worden, das andere fühlte sich von der Mutter zurückgesetzt und schüttete ihr während des Mittagessens absichtlich die Tomatensauce der Spaghetti über ihr Kleid. Das Telefon klingelte, und ihr Mann am Apparat sagte, es würde heute wahrscheinlich ziemlich spät werden. Der Himmel war, das sah sie durchs kleine Küchenfenster, bedeckt an diesem Novembertag, ein wenig grau und ein wenig weisslich. Und sie wusste nicht mehr wo ein und wo aus.
46.
An einem Herbsttag im Oktober, dichter Nebel lag über Zürich, die Nachtschichtarbeiter trotteten nach Hause, die Enten schliefen auf dem kalt dampfenden Wasser der Limmat, der erste Frühzug setzte sich in Bewegung, als zwei Polizeibeamte in Zivil Bernasconi aus seinem Schlaf im Mansardenzimmer unsanft weckten. Als er nicht gleich öffnete, traten sie ihm die Türe ein, zerrten ihn, ohne dass er sich hätte anziehen können, die schmale Treppe hinunter und warfen ihn in das mit laufendem Motor bereitstehende Polizeigefährt. Allein das Schlagen der Glocken der St. Peterskirche schien Zeuge dieses Vorfalls zu sein.
47.
Der Sprachphilosoph scherzte mit einer Kollegin aus dem Fachgebiet der Paläobotanik, lächelte auch noch, als er ihr schon den Rücken zugekehrt hatte und warf seinen ausgetrunkenen Pappbecher, obschon noch ein kleiner Kaffeezuckerrest auf dessen weiss gerilltem Boden sichtbar war, in die metallene Röhre, die dafür vorgesehen war, kaum dass der Dreiklang ertönt war. Er betrat den Vorlesungssaal, deutete mit der linken Hand auf den Stapel weisser Blätter im Din A4-Format, der vor ihm auf dem Pult lag, nahm eines dieser Blätter zur Hand, zeigte zuerst dessen mit Füller beschriebene Vorderseite, dann dessen weisse Rückseite seiner Studentenschaft, als wäre dies der Beginn eines magischen Kunststücks. Er zwinkerte seinen Studenten und Studentinnen zu. Sprache sei nicht nur eine Codiermaschine, nicht nur eine Informationsmaschine, nicht nur die zum Gesetz erhobene Konvention. Bei der Sprache handle es sich um einen energetischen Zustand, vergleichbar mit dem Konzert aller Herzschläge in diesem Raum, vergleichbar auch dem Hintergrundrauschen aller hier Atmenden. Seine Geste vom Anfang könne daher von allen, obschon sie in diesem Zusammenhang neu und unerwartet sei, wenn sie, die Studenten und Studentinnen, nur genügend lange darüber nachdächten, verstanden werden. Als dann eine Studentin die Hand über ihren Kopf hob, um so anzuzeigen, dass sie zum Gehörten eine Frage habe, kam es den anderen einen Augenblick lang so vor, als hielte sie eine Flagge in die Höhe.
48.
Mehr als tausend leere Flaschen lösten sich vom Gabelstapler genau in dem Augenblick, in dem unten ein Clochard mit einer halbgeleerten Rotweinflasche in der Hand durchschlenderte. Den einen Arbeitern in ihren blauen Überkleidern kam es so vor, als wäre der Müssiggang dieses Mannes die Ursache des Unfalls gewesen. Die anderen Arbeiter konnten jedoch keinen solchen Zusammenhang erkennen.
49.
Das Geräusch des Bohrers der Heizungsmonteure unten im Keller, das er zuerst unwillig beiseite schob, liess ihn allmählich aufhorchen. Es erinnerte ihn nämlich an etwas in seiner Vergangenheit, dessen er sich erst an diesem langen Nachmittag bewusst wurde.
50.
Die beiden Taubstummen gingen hinaus in die Dämmerung, die sich auf das Dorf zu legen begann. Es erschien den beiden Männern überaus verheissungsvoll, die Eisblumen an den Fenstern anzuhauchen.
51.
Der Novize sass seit Stunden in einer Reihe, und als er eben eine innere Helligkeit zu sehen glaubte, traf ihn der Stock des Meisters, und er meditierte von neuem mit voller Konzentration.
52.
Das Mädchen sagte, sie hätte gerne ein Fahrrad, doch ihre Eltern konnten ihr kein Fahrrad kaufen, denn es herrschte Krieg, und man musste in solchen Zeiten auf alles gefasst sein.
53.
Seit ihr Mann gestorben war, konnte Frau Oder nachts nicht mehr schlafen. Jedes kleinste Geräusch schreckte sie auf. Frau Oder sass da, starrte auf die geweisste Wand, wo sich gelegentlich ein Zimmermann wie eine Kugel mit acht Beinen durchhangelte. Wie ein Virus auf der Haut der Wand, dachte sie. Frau Oder sah den blanken Gasherd. Die blauviolette Flamme. Wenn sie das Fenster nicht in Kippstellung brachte, ging die Flamme ins Orange, sprühte kleinste weisse Funken wie damals unterm Christbaum. Die drei Töchter mit ihrem strohblonden Haar. Wie das Stroh in der Krippe des Herrn Jesus, dachte sie. Frau Oder trank ihren Lindenblütentee. Früher am Abend hatte sie einen Zitronenmelissentee aufgegossen. Macht mich müde, hatte sie gedacht, er beruhigt. Frau Oder schlief meistens erst ein, wenn das Gegurre der Tauben einsetzte. Und das war zwischen vier und fünf.
54.
Die Schülerin hatte es sich zum Sport gemacht, das Geheimnis eines jeden Tages zu finden. Vielleicht war es die spezielle Form der Schnürsenkelschlaufe, vielleicht der Blick eines Autofahrers, der sie über den Zebrastreifen gehen liess, vielleicht die feinen Wolken von verwischter Kreide auf der Wandtafel.
55.
Was für ein Dreiklang. Der erste Blutstropfen fiel in den frischen Schnee, der zweite auf ihre weisse Hose, der dritte ins weisse Taschentuch, das sie eilends und doch vorsichtig aus der Hosentasche zu ihrer Nase geführt hatte, um dem Nasenbluten Einhalt zu gebieten.
56.
Im März noch auf das schon von der höher stehenden Sonne beschienene Eis des Weihers zu gehen, war vielleicht leichtsinnig, doch weder sie noch ihre Kinder konnten der Versuchung widerstehen.
57.
Sie pflegte mit Leib und Seele ihre Fische, Wasserpflanzen und Schnecken im Aquarium, während er leidenschaftlich gerne schwimmen ging.
58.
Offensichtlich beim Kirschenlesen ausgerutscht, blieb er in einer von unten wegen des vielen Blattwerks nicht einsehbaren Stelle so unglücklich hängen, dass er sich mehrere Rippen quetschte. Die lustigen Geschichten, die seine Zimmernachbarn im Krankenhaus zum Besten gaben, brachten ihn zum Lachen, was ihm gewaltige Schmerzen verursachte.
59.
Am Morgen pflegte sie instinktiv an den Heizkörper zu greifen, und so wusste sie gleich, ob es draussen warm, lau, kühl, kalt, bitterkalt oder arktisch war. Trat sie dann ins Freie, war es ein Schock, wenn es wärmer oder kälter war, als sie sich das vorgestellt hatte. Meistens aber stimmte die Temperatur mit ihrer Vorstellung überein, und der Tag war gerettet.
60.
Am Schulpult sitzend, fragte sich der Schüler immer wieder, ob das Gegenteil vom Lesen eines Buches das Zersägen eines Buches sei.
61.
Bei ihr fing es meistens mit Schmerzen in der Tiefe des linken Auges an. Dann pulsierte es weiter in den Backenzähnen der linken Gesichtshälfte. Schliesslich spürte sie diesen Druck im Ohr. Dann wurde sie unausstehlich und war aufs Äusserste gereizt.
62.
Als der Beamte nach Büroschluss das Regierungsgebäude verliess, war es ihm, weil er den ganzen Tag auf den Monitor geblickt hatte, kaum möglich, die vorbeifahrenden Autos, die hastenden Menschen, die ziehenden Wolken zu fokussieren. Alles kam ihm vor wie Farben und Formen, die in einen Schüttelbecher gegeben worden sind, den jemand kräftig bewegt hat und dessen Inhalt nur ganz langsam zur Ruhe kommt.
63.
Der Junge hatte das Fahrrad seines älteren Bruders ohne dessen Wissen ausgeliehen, da dieser den ganzen Nachmittag in der Schule sein würde. Der Wald, den er damit etwas genauer erkunden wollte, war indessen grösser, als er gedacht hatte. Zudem hatten die Waldarbeiter verschiedene Wege neu angelegt, so dass ihm der Wald bald wie ein Labyrinth vorkam. Schneller als ihm lieb war, stand die Sonne schon tief und hatte eine rote Färbung angenommen. Immer wieder schoss es ihm durch den Kopf, dass er vor fünf Uhr hätte zu Hause sein sollen, um noch genügend Zeit zu haben, das Fahrrad vor dem Eintreffen seines Bruders zu reinigen, so dass dieser nichts von seiner Spazierfahrt erfahren würde.
64.
Der neue Gehörschutz mit eingebautem Radio inspirierte die Bildhauerin dermassen, dass sie während des Meisselns kaum mehr ruhig stehen konnte; es kam sogar soweit, dass sie ihr Arbeitsgerät zur Seite stellen musste, um in aller Ruhe tanzen zu können.
65.
Die Schülerin stand oft stundenlang im Fischladen und schaute sich die bunten Barsche aus dem Malawi- und dem Tanganikasee, die Salmler aus dem Kongo, die Regenbogenfische aus Neu-Guinea an, ohne dass ihr das Geld für mehr als ein paar wenige Guppys und eine einfache Wasserpflanze gereicht hätte.
66.
Die Lederjacke blutverschmiert, rostrot auf schwarz, kaum sichtbar der Kondensstreifen von eingetrocknetem Blut um seinen Hals, Totenschmuck. Den benützten Draht habe man nicht gefunden, geschweige denn die Täter, stand unter der Fotografie, die den oberen Körperteil des getöteten Motorradfahrers, gleichsam seinen Torso, zeigte. Der braune kreisförmige Abdruck ihrer Kaffeetasse ging sowohl durch den schon leicht vergilbten Abdruck der Fotografie als auch durch den Text der Zeitung, die auf dem kleinen runden, silbrig glänzenden Tischchen vor Ilonka lag. Gestempelt, dachte sie. Sie zog ihre Lippen nach, während sie auf ihre Freundin wartete, mit der sie sich in diesem Bistro zu treffen pflegte. Sie schaute, während sie ihre Wimpern nachzog, wieder auf das Bild mit dem Ermordeten in der Zeitung, das mit diesem braunen Ring der Kaffeetasse verziert worden war. Wie die gestempelte Briefmarke auf einer Ansichtskarte, dachte sie und kam sich dabei vor wie eine Postbotin.
67.
Und noch eine Zigarette. Sie stellten den Aschenbecher hin, um sich zu küssen, sich an die Ereignislosigkeit des Tages zu erinnern, in die Nacht einzuziehen, die Nacht in den Betten der billigen Pensionen zu inhalieren, sich in einer Art Liebesgeschichte zu finden, sie, die sich kaum kannten. So fuhren sie fort, während sich ihr Auto von der trübsinnigen Fahrt durch das flache Land draussen auf dem Gehsteig erholte. Sie rauchten sich durch ihre leidenschaftliche Traurigkeit, sie küssten sich rauchig, sprachen schliesslich vom Aschenbecher, von der Zufälligkeit, vom zerbröselnden Grau, von den Rändern. Sie zählten die gerauchten Zigaretten und legten sich zusammen in das Bett. Sie liebten sich, und die Decke roch nach Rauch. Draussen die ganze Banalität der wenigen Neuigkeiten, der Nieselregen, die Ereignislosigkeit. Der Aschenbecher war voll, doch sie gab ihm weiterhin Feuer. Sie kippte den Inhalt des vollen Aschenbechers in die Kloschüssel, selber ein grosser ereignisloser Aschenbecher.
68.
Der Bäcker, der eben noch in aller Ruhe diesen und jenen Teig geknetet hatte, wurde mitten in der Nacht von einem Warmlufteinfall von den Alpen her überrascht, so dass alle Teigsachen, die er vorbereitet hatte, viel schneller aufgingen, als dies nach seinem Zeitplan hätte der Fall sein sollen, was ihn arg in Bedrängnis brachte.
69.
Die Lippen des Mädchens waren blauviolett, und sie zitterte am ganzen Körper, als sie in der Umkleidekabine der örtlichen Badeanstalt ihr nasses Badekleid auszog, sich abtrocknete und die wärmenden Kleider überstreifte, während von draussen das Geräusch scheppernder Abfalleimer an ihr Ohr drang, das vom Bademeister und seinem Gehilfen herrührte, die wie jeden Abend, nur wenige Worte miteinander wechselnd, der Reinigung der Anlage nachgingen.
70.
Was von seinem Sonntagsspaziergang hängenblieb, waren die Spuren der mehrfach übereinander geklebten und wieder von der Backsteinwand des Bahnhofgebäudes gerissenen Plakate.
71.
Der Pfiff des Eisenbahnzugs schien mit dem Wind gemeinsame Sache zu machen.
72.
Sie sagte, Lanzarote habe diese Wildheit und diesen Wind, man müsse sich abends auch im Sommer lange Hosen anziehen. Gran Canaria sei da viel milder, besonders an der Ostküste, wo es ab und zu vorkomme, dass der Landwind von der Sahara her Sand bringe. Über Teneriffa könne sie nichts sagen, da sie noch nie dort gewesen sei. Für die Qualität des Blaus fand sie keine Worte.
73.
Obschon es im September auf Kreta normalerweise schön warm war, regnete es dieses Mal ohne Unterbruch, was dazu führte, dass sich die zwei jung Verliebten in der Pension noch dichter aneinanderschmiegen mussten, als sie dies eh schon vorhatten.
74.
Die junge Sportlerin verliebte sich Hals über Kopf in ihren neuen Trainer. Ihre Eltern verlangten von ihr die sofortige Trennung. Sie entschied sich für ihren geliebten Trainer.
75.
Die Töpferin hatte es immer wieder geschafft, die behinderten Menschen für das Herstellen von Töpfen, Krügen und Vasen zu begeistern, hatte sie soweit wie möglich unterstützt, doch dann kam der Tag, an dem sie nicht einmal mehr das kleinste Geräusch ertragen konnte, jedes Wort verursachte ihr physische Schmerzen, jedes Räuspern wurde für sie zu einem gewaltigen, unerträglichen Gewitter.
76.
Der Frühzug ratterte über die Schienen. Eugen nickte immer wieder ein, öffnete seine Augen bei jeder der zahlreichen Haltestellen, wo ab und zu jemand aus- oder zustieg. Er war müde von der Nachtschicht, doch wenn die Dämmerung einsetzte, das Licht beinahe unmerklich die Dinge aus der Dunkelheit zu ziehen begann, die Vögel bei jedem Halten des Zuges in den Morgen hineinzwitscherten, dann wurde auch er hellwach.
77.
Auf die Minute genau um die Zeit, zu der die Kinder während der Woche aufstehen mussten, um vor der Schule noch das Frühstück einnehmen zu können, erwachten sie auch am Wochenende, um so, wie sie sagten, ihre Freizeit voll geniessen zu können. Tatsächlich lagen sie schon um sieben auf dem weichen Hirtenteppich aus dem Atlasgebirge Nordafrikas und waren je mit einem kleinen Notizblock und einem Bleistift bewaffnet, um sich so gegenseitig die Panzer abschiessen zu können. Dazu verhandelten und kommentierten sie ihre Angriffstaktik, während draussen die Amseln aufgeregt ihr tschuk-tschuk zwitscherten, weil die rote Nachbarskatze durch den Garten strich.
78.
Der Regen war wie Nadeln auf Petras Haut. Der Entzug von der Sonne, dachte sie. Unten am Bachlauf die Eschen über den angeschwollenen Strom des Wassers gebeugt. Kleine Energiebündel schossen hoch hinauf bis zu den Gehöften mit den bellenden Hunden. Die wollen dir an die Waden, hatte sie immer gedacht. Und sie hatte recht. Die blanken Tropfen knallten hart auf die scharfgezackten Fichten. Jetzt musst du das Wasser schlürfen oder dich schnellstens übergeben, dachte sie. Der Regen wie Nadeln. Petras gestichelter Kopf, genadelt von den triefenden Fäden. Die Bäume gekämmt, die Nebelschwaden geteilt. Die Wassermassen wälzten sich durch Petras Körper. Nass hockte sie auf einem dieser blitzsuchenden Hügel. »Ich bin ein kleines Mädchen und sitz ganz oben auf diesem Rücken aus Kalk und Mergel.«
79.
Der Intercity fuhr voll und ganz durch das grosse Fenster, das auf die Veranda führte. Olga sass in ihrem Wohnzimmer vor der Grossleinwand, auf der pünktlich jede Stunde dieser Film ablief, dieser rollende Zug auf dem Bahndamm, dieses Lichtband mit den Silhouetten von Personen, dieses Sirren, dieses Schleifen. Und wieder Stille. Die Erinnerung an Karl, der vor fünf Jahren gestorben war, vermochte dieses Ereignis zwar nicht zu tilgen, doch es war ein Blick in die Welt, an der sie nicht teilhatte, ein kleines Häufchen Sehnsucht.
Olga war zwar schon neunundsechzig, doch sie konnte immer noch selber einkaufen, selber kochen, selber die Wohnung reinigen. Darauf war sie stolz. Olga wohnte immer noch in derselben Wohnung, sass an demselben Tisch aus Eichenholz, vor dem gleichen Glas voller Rotwein, das jeden Tag zu trinken ihr Karl noch auf dem Sterbebett aufgetragen hatte.
80.
Hier hatte sich die Feuchtigkeit einen geeigneten Ort gewählt. Die Nebelschwaden hatten sich nur über den Geruchsinn wahrnehmbar mit dem Rauch eines unsichtbaren Feuers in der Ferne verbunden. Der Nieselregen hatte nachgelassen, und das Aufleuchten des Nebels deutete auf das Sinken seiner Obergrenze hin. Jetzt wurde der fein und weiss blühende Salomonssiegel sichtbar, ein Haufen gesammelten Holzes an einer Scheunenwand, der Buchenwald in hellstem Grün, der matschige Feldweg.
Diana hatte ihr Motorrad an den Maulbeerbaum gelehnt, letzter Zeuge der Hoffnung eines Bauern, der zu Beginn des Jahrhunderts in dieser Gegend eine Seidenraupenzucht hatte aufziehen wollen. Diana ging zum Saum des Buchenwaldes. Zu dieser Jahreszeit würde sie hier sicherlich Morcheln finden. Hinter dem Waldrand warteten die abgedunkelten Räume, darin einige alte Eschen, die Aaronstäbe und schliesslich die Pilze, die jedes Jahr vom Sand profitierten, den der Fluss hier bei seinen Überschwemmungen ablagerte.
Der Saum der Wälder – dieser Ausdruck schmeckte in Dianas Mund beinahe noch besser als die hellbraunen Morcheln in Butter geschmort. Vorfreude, dachte sie, vielleicht auch Nachfreude, die länger hält, als der Genuss des Essens jemals dauern kann.
81.
Der Strassenarbeiter zog an einem nebligen Tag in einer Arbeitspause an seiner Zigarette, blies den Rauch wieder aus, hielt plötzlich inne, und er fragte sich, ob er nicht den Nebel, die Abgase der Autos oder gar das Kerosin der Flugzeuge ausatme.
82.
Statt eines leeren Stuhles hatte die Frau ein Aquarium. Statt eines Aquariums hatte ihr Mann einen leeren Stuhl. So hatten beide das ihre und trotzdem das des anderen.
83.
Die Heimfahrt dauerte länger wegen des dichten Nebels, so dass er in die Nacht hineinfahren musste, obschon er um seine partielle Nachtblindheit wusste. Als er am Rande der Autobahn riesige schwarze Rauchwolken erblickte, glaubte er, gleich an eine Unfallstelle mit brennenden Autos zu gelangen. Mit Erleichterung stellte er fest, dass es sich lediglich um einen Waldrand handelte.
84.
Zwei Katzen pflegten täglich seinen Garten zu durchqueren. Die eine mit dem schwarz-ocker und weissen Fell besass keinen Schwanz mehr, da sie einmal von einem Auto angefahren worden war. Die andere hatte ein helles rötliches Braun, die Farbe von Butter, Zucker und Rahm, die man in einer Pfanne bei niedrigem Feuer aufkocht, um sie dann zum richtigen Zeitpunkt vom Feuer zu nehmen. Oder die Farbe der Erde in der Gegend von Livorno, die, wenn es heftig regnet, zu etwas dunklerem Lehm wird. Was Kant, der wegen einer Stauballergie nicht ins Freie gehen durfte, am meisten erstaunte, war die Tatsache, dass sich nie beide Katzen gleichzeitig im Garten aufhielten. Dabei beobachtete er beide mindestens einmal früh morgens, das andere Mal abends. Er stellte sich vor, die rötliche gebe winzige Signale von sich, um die andere zu informieren, dass der Weg im Augenblick nicht zu betreten sei. Oder aber auch umgekehrt. Nachts schreckte Kant nicht selten aus dem Schlaf auf, geweckt von einem Fauchen und Jaulen, das sich schrecklich anhörte. Hatte er sich dann endlich durchgerungen, das Fenster zu öffnen, stoben sie davon, ohne dass er in der Dunkelheit hätte feststellen können, ob es die zwei Katzen waren, die sich tagsüber aus dem Weg gingen.
85.
In den Garderoben des Theaters roch es nach Champagner, Schweiss und Schminke. Der frenetische Applaus war verebbt, die Zuschauer hatten den Zuschauerraum wie kleine Vögel die zerbrochene Schale hinter sich zurückgelassen. Auch die Schauspieler hatten sich verzogen. Allein Peter, der Regisseur, stand auf der Bühne, ging auf und ab wie ein Vater, der wartet, bis der Arzt oder die Schwester kommt und sagt, er könne jetzt reinkommen. Es sei ein Knabe. Oder es sei ein Mädchen.
86.
Die Tür war verschlossen. Er versuchte einzuschlafen. Ihn fröstelte. Hätte es beim Überfall auf die Tankstelle nicht diese blöde Schiesserei gegeben, er wäre direkt in eine dieser Zellen gewandert, die er gut kannte. Diesmal hatten sie ihn in die Intensivstation verfrachtet. Schläuche waren ihm an der Nase, am Arm, am Bauch befestigt. Er war froh, sich nicht im Spiegel betrachten zu müssen. Er hörte die Krankenschwester zu einer anderen sagen, den Sicherheitsbeamten vor der Tür könnten sie getrost nach Hause schicken. Der Patient habe keine Chance zu fliehen, mehr noch, es wäre eine Überraschung, wenn er diese Station lebend verliesse.
87.
Ein idiotischer Tag für das Aufstellen der Grossformatkamera, dachte Rolf. Seit sein Augenlicht nachgelassen hatte, fehlte ihm die Freude an seiner Arbeit. Seine Augen schmerzten, wenn er versuchte, den Scheinpflug so über die Landschaft mit den Mädchen zu legen, dass sowohl jedes einzelne Haar als auch jedes Sandkorn und jede Schaumkrone im Hintergrund in der grösstmöglichen Schärfe abgebildet wurden. Er steckte seinen Kopf unter das schwarze Tuch, um noch einmal das Bild auf der Mattscheibe bis in die Ecken hinaus zu kontrollieren. Und auch diesmal passierte es ihm, dass er von den Geräuschen der Wellen, die sich an dem hellbraunen, von grobkörnigem Sand übersäten Strand brachen, vom Pfeifen des Windes über dem Tuffgestein und vom Flattern der Haare und Kleider seiner Modelle derart angezogen wurde, dass er seine schmerzenden Augen unwillkürlich schloss, um nur noch zu lauschen.
88.
Beim Betreten der Kundenhalle der Bank fiel Eva ein etwa fünfunddreissigjähriger Mann mit glattrasiertem, leicht vorstehendem Kinn und Koteletten bis auf die Höhe der goldenen Kugel im linken Ohr auf. Die Augen zusmmengekniffen, schaute er listig unter den vorstehenden Augenbrauen, die ihn als guten Beobachter auszeichneten, hervor. Eva sah ihn blinzeln. Unwillkürlich schob sie eine Haarsträhne ihres blonden Haars hinter das linke Ohr und schaute gebannt in die Richtung, woher das blendende Licht zu kommen schien. Doch da waren nur Bankangestellte hinter Sicherheitsglas, davor einige Kübel mit Hydrokulturen. Keine Sonne, die sich dort irgendwie hätte spiegeln können, kein Scheinwerfer, nicht einmal eine Kerze.
89.
Während sie im Zugabteil sassen, flog ein anderer Zug vorbei. Carmen schaute von der Zeitung auf, und für kurze Zeit nur konnte sie als Spiegelung an den vorbeirasenden Fenstern die Frau im Abteil vor ihr sehen. Sie hatte ihren Blick ebenfalls von der Zeitung gehoben, so dass ihr ebenfalls grünes Kleid und ihre ebenfalls kastanienbraunen Haare noch besser zu erkennen waren. Nur um sich zu versichern, dass dies nicht ihr Spiegelbild sei, liess Carmen die Zeitung vollends auf ihren Schoss fallen und hob die Arme zu allerlei Verrenkungen, von denen die andere zwar einiges nachzuahmen versuchte, es aber nicht ganz schaffte. Mit Entsetzen wurde Carmen sich bewusst, dass sie diesem Spiegelbild immerzu in die Augen schaute. Sie hatte wohl eine ihr nicht bekannte Frau angeglotzt. Mittlerweile starrten sie die Mitreisenden in ihrem Abteil an und fragten besorgt, ob sie ihr in irgendeiner Art helfen könnten.
90.
Die Seife schäumte über seinen Körper. Das Handtuch war in Sichtweite. Dann der grässliche Druck in seiner Brust, dieser höllische Schmerz aus möwenblauem Himmel, diese weisse Sichel. Seine Frau alarmierte die Ambulanz. Mit dem Morphium verflog die Todesangst.
91.
Er hatte nur den Berg im Auge, so dass er von einem Schritt auf den andern bis zur Hüfte in einem Sumpf steckte. Hätte er sich nicht gleich instinktiv umgedreht und sich an einem Grasbüschel wieder rausgezogen, niemand hätte je erfahren, wo auf seiner Wanderung in diesem fremden Land er ums Leben gekommen wäre.
92.
Die Kinder kämpften, bis ihre Eltern riefen, sie sollten doch mit dieser ewigen Kämpferei aufhören. Sie hörten aber nicht auf, also schlugen die Eltern ihre Kinder. Kaum hatten die Eltern das Kinderzimmer verlassen, kämpften die Kinder weiter.
93.
Als der betagte Herr Kramer zu Bewusstsein kam, hörte er ein Rauschen, ein Blubbern, dazwischen immer wieder ein Piepen, Stimmen, Schreien. Er wollte sich bewegen, doch es war ihm nicht möglich. Überall waren Schläuche, die ihn behinderten. Er riss sie sich weg. Wieder setzte einer dieser Alarme ein. Die Intensivschwester erschien zwischen den weissen Wänden, den Abtrennungsvorhängen. Herr Kramer wurde von einem Licht geblendet, hörte eine Stimme, doch er konnte nichts verstehen. Er meinte, er sei auf dem Meer und jemand versuche ihn hinunterzudrücken ins Salzwasser. Er konnte kaum noch atmen. Die Schwester gab ihm ein noch stärkeres Beruhigungsmittel. Jetzt hörte er das Meer nur noch von Ferne. Er glaubte, das Blubbern des Sauerstoffbefeuchters sei Regen, die Schläuche an seinem Körper seien Seetang, die vielen Alarme hielt er für Feuerwehrwagen. Offensichtlich brannte es dicht am Ufer. Die Schwester hatte Herrn Kramer festgebunden, damit er sich die Schläuche nicht noch einmal wegriss, was das letzte Mal zu einem grossen Blutverlust geführt hatte. Herr Kramer war trotz der vielen Geräusche und dem grellen Licht eingenickt.
94.
Das Dorf lag in einem Gebiet, in dem bei den momentanen Schneeverhältnissen jederzeit eine Lawine losgehen konnte. Gertrud hatte nur in die Stadt fahren können, weil ihr Haus direkt bei der Galerie stand, die eigens wegen der Lawinen gebaut worden war. Als sie wieder in ihrem Haus war, wusste sie nicht, ob sie darüber glücklich sein sollte, oder ob sie nicht besser bei ihren Verwandten in der Stadt hätte bleiben sollen.
95.
Ein mit Steinplatten belegter Pfad stieg zwischen Schwertlilien und Blutweiderichen hinunter in den flachen Teil des Gartens, wo Rotbuchen und hinten in der Ecke bei der alten Mauer Eiben standen. Das kleine Mädchen hüpfte, und als sie stillstand, war es ihr, als hörte sie Stimmen, die Stimmen der Gräser vielleicht, der Blumen, das Schaben der Hirschhornkäfer, das Kriechen der Würmer, den Gesang der Schmetterlinge, das Säuseln des Windes in ihrem hellen Haar. Und selbst die Bäume schienen zu ihr zu sprechen.
96.
Ein lautes Scheppern. Robert war beim Rückwärtsfahren in den Laternenpfahl gedonnert, der schon seit Jahr und Tag am selben Ort vor seinem Haus stand.