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Die Stimme
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eBook476 Seiten6 Stunden

Die Stimme

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Über dieses E-Book

Gespenstische Vorkommnisse überschatten das Leben der erfolgreichen und idealistischen Ärztin Kiara. Tag und Nacht verfolgt sie die Erscheinung einer jungen, weißgekleideten Frau, und wiederholt gerät sie in lebensgefährliche Situationen. Was hat Luca, ein schwerkranker Patient, den Kiara aufopferungsvoll betreut, mit den mysteriösen Begebenheiten zu tun? Und warum wird der attraktive Jung-Unternehmer Marcus von ähnlichen unheimlichen Erscheinungen heimgesucht? Die dramatische Beschleunigung der Ereignisse führt Marcus, Kiara und ihre Freundin Katja nach Port-au-Prince, wo sie einem Voodoo-Zauber aus der Vergangenheit ebenso auf die Spur kommen wie den kriminellen Machenschaften von Zeitgenossen.
Marijana Dokozas temporeicher Mystery-Roman schlägt den Leser von der ersten bis zur letzten Seite in seinen Bann.
SpracheDeutsch
HerausgeberDittrich Verlag
Erscheinungsdatum30. Sept. 2019
ISBN9783947373451
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    Buchvorschau

    Die Stimme - Marijana Dokoza

    LXVIII

    I

    Reglos und still lag sie da. Ihr schmächtiges, schmerzgeplagtes Gesicht sah jetzt sorgenfrei aus. Es war nicht starr, wie bei anderen Toten, und die langen, noch immer schwarzen Haare umrahmten in einer Art wirrer Ordnung ihren Kopf. Auf der kleinen Totenbahre lag ein schmächtiger Körper, der viele Jahre gelebt und sich trotz etlicher Qualen bis zum Ende heroisch gewehrt hatte. Sie hatte sich nichts zuschulden kommen lassen, doch diejenigen, die sie in der Vergangenheit verletzt hatten, standen jetzt mit betretenem Blick neben der Bahre.

    Kiara saß bei ihr und weinte. Sie konnte nicht glauben, dass die alte Frau nicht mehr lebte. Warum war das Schicksal nur so grausam zu einem so guten Menschen wie Johanna? Sie versank in Gedanken.

    Zur Beisetzung der alten Frau waren nur wenige erschienen, nur die engsten Verwandten und Kiara. Das machte sie noch wütender. Tränen liefen über ihr Gesicht, doch sie wusste nicht genau, woher dieser tiefe Schmerz kam, hatte sie Johanna doch nur so kurze Zeit gekannt. Plötzlich kam ihr das Leben schmutzig und verlogen vor. Es gab so viele Menschen, die nur auf ihre eigenen Vorteile bedacht waren und über Leichen gingen, um ihre Ziele zu erreichen. Vor lauter Aufregung wurde Kiara übel. Ihre innere Wut brachte sie zum Nachdenken. Es gab nichts Bestandloseres als das Leben.

    Kiara betrachtete ihre Mitmenschen nach Johannas Tod mit anderen Augen. Sie konnte der brutalen, finsteren, materialistischen Welt, in der man die unglückliche alte Frau wegen ihrer Armut, ihres ungewöhnlichen Aussehens und ihres Buckels verachtet hatte, nichts Gutes mehr abgewinnen. Von seinen Mitmenschen verachtet zu werden, war schrecklich, aber nicht das Schlimmste, denn noch schlimmer war es, selbst Verachtung zu empfinden. Genau diese Erkenntnis bewahrte Kiara davor, beim Anblick der alten Frau, die von allen im Stich gelassen worden war, die unentwegt ums Überleben gekämpft und den verschiedensten Krankheiten der modernen Gesellschaft standgehalten hatte, zu resignieren. Johannas langes Leben war gepflastert gewesen mit erlittenen Ungerechtigkeiten und Grausamkeiten, und zum Schluss war sie als Opfer menschlicher Brutalität schmachvoll vor ihrem Wohnhaus zusammengebrochen. Die Leute waren stundenlang an ihrer Leiche vorbeigegangen, und erst am nächsten Tag hatte man festgestellt, dass sie tot war. Die Ärzte hatten keine natürliche Todesursache diagnostizieren können. Man hatte sie auf das Bett in ihrem kleinen Zimmer gelegt. Am nächsten Tag war eine entfernte Verwandte mit ihrer Tochter gekommen, um sich um die Beerdigung zu kümmern.

    Kiara empfand großes Mitleid und dachte über dieses grausame menschliche Verhalten nach. Es verstärkte in ihr den Drang, anderen Menschen zu helfen. Künftig wollte sie nichts mehr mit den Leuten zu tun haben, die keinerlei Mitleid mit Hilfsbedürftigen hatten. Auf einmal kam ihr alles so bedeutungslos vor, auch die Tatsache, dass sie eine junge, schöne und ehrgeizige Frau war, die eine Zukunft vor sich hatte, von der andere nur träumen konnten.

    Sie ging bei Johannas Beerdigung im Dorf nicht mit, sondern kehrte über dieselbe Straße, die sie vor etwa einer Stunde hochgelaufen war, wieder zurück. Die Leute wunderten sich darüber, dass sie weinte, aber es war ihr gleichgültig. Es waren Fremde, die sie nicht verstanden, die Menschen wie Johanna nicht sahen und ihnen nicht helfen wollten, wenn sie Hilfe nötig hatten. Sie fragte sich, warum die Menschen so gefühllos waren, sie verstand sie nicht mehr und fühlte sich vollkommen hilflos. Kiara hatte Angst. Sie konnte nicht fassen, dass sie das Leben vor nicht allzu langer Zeit noch wundervoll gefunden hatte. Wie ironisch, dachte sie – eine Achtundzwanzigjährige, die tatsächlich glaubte, das Leben sei wundervoll.

    Vollkommen in ihre Gedanken versunken, bemerkte sie nicht, wie ein schwarzer Mercedes auf sie zufuhr und die Straße überquerte. Plötzlich hörte sie ein Bremsen, den Aufprall eines Autos auf einen menschlichen Körper – und dann Stille. Kiara fiel zu Boden. Das Einzige, was sie spürte, war ein dumpfer Schmerz, kurz darauf sah sie nichts mehr. Sie konnte weder etwas sehen, hören oder spüren … noch machte ihr das etwas aus. Auf einmal sah sie die alte Johanna, ganz in Weiß gekleidet, gen Himmel schweben. Johanna lächelte gutmütig und schaute mit ihren freundlichen Augen, die selbst beim herzlosesten Menschen Güte hervorzurufen vermochten, auf sie herab. Es schien, als wollte sie etwas sagen.

    II

    »Kiara … Kiara«, hörte sie eine vertraute Stimme.

    »Kiara, wie fühlst du dich?«, wiederholte Henning, als er sich über sie beugte. Er wirkte besorgt. Kiara sah sich verwirrt um.

    »Wo bin ich, was ist geschehen? Wo ist Johanna?«

    Henning wusste nicht, was er ihr antworten sollte. Die Ärzte hatten ihn darauf hingewiesen, dass Kiara Ruhe brauche und jede Aufregung zu vermeiden sei. Er wunderte sich, dass sie nach einer Johanna fragte; er wusste nicht, dass sie eine Person mit diesem Namen kannte. Sie hatte sie noch nie erwähnt. Henning schrieb ihre Äußerungen dem Schock zu, den sie durch den Unfall erlitten hatte.

    »Kiara, beruhige dich, du darfst dich nicht aufregen«, redete er behutsam auf sie ein.

    »Henning, was ist mit Johanna? Ich habe sie vorhin gesehen, sie wollte mir etwas sagen …«

    Henning wusste nicht, was er erwidern sollte. Er wusste nicht, ob sie wirres Zeug sprach oder wieder zurechnungsfähig war, und ließ deshalb einen Arzt kommen.

    »Die junge Frau steht noch unter Schock und kann sich offenbar an nichts mehr erinnern. In einigen Stunden wird es ihr besser gehen«, bekam er vom Arzt zu hören.

    Kiara sah wohl, dass der Arzt sich mit ihrem Freund unterhielt, konnte aber nicht hören, um was es sich handelte. Sie sah ihre Mutter Rosie, die weinend an der Krankenzimmertür stand und dem Gespräch zuhörte. Das wunderte sie kaum, war ihre Mutter doch eine sehr ängstliche Person. Als der Anruf gekommen und sie über den Unfall benachrichtigt worden war, hatte sie sich augenblicklich ins Krankenhaus begeben und erst aufgehört zu weinen, als Kiara die Augen geöffnet hatte, und selbst dann hatte sie, blass vor Angst, ihre Tochter angeschaut, als würde diese jeden Moment zerbrechen, obwohl man ihr versichert hatte, dass der Zustand der Patientin nicht kritisch sei. Nachdem sie dem Arzt aufmerksam zugehört hatte, trat sie nun vorsichtig an Kiaras Bett.

    »Alles wird wieder gut, mein Schatz. Du hast dir nur ein bisschen wehgetan. Hab keine Angst. Du musst versuchen, ein wenig zu schlafen«, sagte sie mit sanfter Stimme.

    Kiara war jedoch viel zu angespannt, um einzuschlafen, und selbst wenn sie es geschafft hätte, die Gedanken aus ihrem Kopf zu vertreiben, wäre sie viel zu nervös gewesen. Sie wollte endlich in Erfahrung bringen, warum niemand wusste, was mit der alten Johanna geschehen war. Die im Zimmer anwesenden Personen wussten weder, was mit ihr geschehen war, noch, wer Johanna überhaupt war. Allmählich glaubte Kiara, dass sie sich alles nur eingebildet hatte. Und doch schien alles so wirklich.

    »Guten Tag! Verzeihen Sie die Störung, darf ich hereinkommen?«

    Kiara, Henning und Rosie fuhren auf, als sie die unbekannte Stimme hörten, die von der Tür her kam.

    »Ich bin Marcus. Sie sind vor mein Auto gerannt und ich habe Sie angefahren«, sagte der junge Mann, etwas ängstlich Kiaras Reaktion abwartend, bevor er zögerlich eintrat.

    Sie schaute ihn nur an und deutete schweigend auf einen Stuhl links neben ihrem Bett. Marcus fühlte sich unwohl. Er wusste nicht, was er noch sagen sollte.

    »Entschuldigen Sie, es war meine Schuld. Ich hätte vorsichtiger sein sollen. Zum Glück sind Sie nicht schlimmer verletzt worden …«, sagte er, aber Kiara unterbrach ihn sofort.

    »Halb so wild. Es ist ja nichts passiert. Ich bezweifle außerdem, dass Sie mich überfahren könnten. Ich bin unverwüstlich, müssen Sie wissen. Wie geht es Ihnen? Ist mit Ihrem Auto alles in Ordnung? Ich war’s schließlich, die ohne zu schauen, ja fast wie ein Zombie die Straße überquert hat«, entschuldigte sich Kiara.

    Marcus war die ganze Situation unangenehm. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sich die junge Frau, die er beinahe totgefahren hätte, bei ihm entschuldigen würde.

    »Im Übrigen wäre die Welt nicht viel ärmer ohne mich …«, fügte sie hinzu, woraufhin Marcus innehielt, weil ihn ihre Bemerkung irritierte – eine Bemerkung, die ihr an dieser Stelle angebracht geschienen hatte, weil sie merkte, dass er sich in der Gegenwart ihrer Mutter und Hennings nicht wohl fühlte.

    ›Wenn ich so etwas von mir gebe, kann man das ja verstehen, aber dass diese Person so etwas sagt, ist wirklich eine Schande‹, dachte er.

    Seine Familie war der Auffassung, dass Marcus Costava nur einen wahren Grund hatte, unglücklich zu sein: seine unerklärlichen Alpträume. Marcus litt, das bescheinigten ihm die Psychiater, die ihn in den vergangenen zehn Jahren behandelt hatten, an »wiederkehrenden Wahnvorstellungen«. Diese Wahnvorstellungen waren, so die Ärzte, die Widerspiegelung einer Unzufriedenheit, auch wenn er selbst nicht wusste, worauf diese Unzufriedenheit beruhte. Er war jung, erfolgreich, besaß ein eigenes Unternehmen zur Parfümproduktion und war auch bei den Frauen sehr beliebt. Die Richtige war ihm bisher allerdings noch nicht begegnet – die Frau, der er sein ganzes Vermögen zu Füßen legen würde. Da er aber erst dreiunddreißig Jahre alt war, war es noch zu früh, um sich ernsthaft Sorgen darüber zu machen.

    »Sie dürfen so etwas nicht sagen, Sie sind doch noch jung«, sagte Marcus zu der Frau, die seinetwegen im Krankenhaus lag.

    Kiara lachte nur, ohne zu antworten.

    »Ich bitte Sie noch einmal, mir zu verzeihen! Ich werde für die Behandlungskosten und alles andere aufkommen«, bot Marcus an.

    »Das wird nicht nötig sein«, sagte Kiara und schüttelte den Kopf.

    Marcus zuckte daraufhin seufzend mit den Schultern, entschuldigte sich noch ein letztes Mal, hinterließ seine Handynummer und betonte, sie solle nicht zögern und sich sofort bei ihm melden, falls sie irgendwann einmal seine Hilfe benötige, und verließ dann den Raum. Henning blieb regungslos sitzen. Ihm hatte Marcus ganz und gar nicht gefallen, auch nicht die Art, wie Kiara ihn ansah. Vorwürfe konnte er ihr jedoch nicht machen, da sie ihm keinen konkreten Anlass dazu gegeben hatte. Er wartete noch, bis sie eingeschlafen war, und machte sich dann auf den Heimweg.

    III

    Kiara erwachte im Morgengrauen und begann sogleich, ihre Sachen zusammenzusuchen. Sie wollte keine Minute länger im Krankenhaus bleiben, obwohl der Arzt ihr empfohlen hatte, noch einen oder zwei Tage zur Beobachtung dazubleiben. Nicht einmal den Arztbrief wollte sie abwarten. Sie hatte eigentlich damit gerechnet, dass Henning bei ihr sein würde, wenn sie aufwachte, nun aber war es schon Mittag und er war noch immer nicht da. Kiara wollte gerade ihre Tasche nehmen, als ein Blumenlieferant an die Tür klopfte und ihr einen mit einem Gruß versehenen Blumenstrauß überreichte. Sie klappte die Karte auf und las laut vor: »Ich hoffe, dass es Ihnen heute Morgen gut geht. Rufen Sie mich bitte an, wenn Sie Hilfe brauchen! Marcus.«

    Kiara fiel ein, dass sie sich Marcus gar nicht vorgestellt hatte. Wahrscheinlich hatte er ihren Namen ihrer Krankenakte entnommen. Sie versuchte, über das, was geschehen war, nicht mehr nachzudenken, steckte die Karte in ihre Tasche und ließ die Blumen im Zimmer zurück.

    ›Kein Mann ist so oberflächlich wie Henning! Die Unzuverlässigkeit in Person‹, dachte sie, als sie die Tür hinter sich zuzog.

    Henning war oberflächlich. Die Menschen, die er kennen lernte, beurteilte er gewöhnlich nach ihrem Äußeren, und hatte er erst einmal eine feste Meinung über jemanden gefasst, behielt er diese auch bei. Er konnte die Lebensauffassung sensibler und nachdenklicher Menschen, wie Kiara es war, nicht nachvollziehen, die Einstellung von Menschen, die sich um Hilfsbedürftige kümmerten und für die Phantasie und Idealismus – ähnlich wie in trivialen Liebesromanen – eine sehr wichtige Rolle spielten. Henning verstand sie nicht; sie hingegen fand immer wieder eine Rechtfertigung für sein Verhalten und hoffte inständig, dass sie irgendeine menschliche Eigenschaft, die sie als wertvoll erachtete, in ihm finden würde.

    Es fiel ihr schwer, die Geschehnisse der vergangenen Tage zu verarbeiten, weil sie sich mit den darauf folgenden Ereignissen, die geradezu unfassbar schienen, auseinandersetzen musste. Kiara kam es vor, als gäbe es zwei verschiedene Realitäten – in der einen gab es die schmächtige alte Johanna, und in der anderen wusste kein Mensch von ihrer Existenz. Wie war es möglich, dass niemand von Johanna gehört hatte? Sie führte all das auf den Schock zurück, den sie bei ihrem Unfall erlitten hatte, und beschloss, alles wieder zu vergessen. Ihr Gemütszustand hatte sich wieder stabilisiert, als sie ihre kleine Wohnung betrat, in der Henning manchmal über Nacht blieb. Die Versuche ihrer Mutter Rosie, die schon eine ganze Weile alleine wohnte, sie dazu zu überreden, vorübergehend zu ihr zu ziehen, stießen bei ihr auf taube Ohren. Kiara lehnte ihr Angebot vehement ab und wollte sogar schon am nächsten Tag wieder zur Arbeit zu gehen.

    Sie arbeitete als Wissenschaftlerin in einem renommierten medizinischen Institut, das sich der Erforschung menschlicher Anomalien verschrieben hatte. Bereits vor Beginn ihres Studiums war sie mit diesem Fachgebiet in Berührung gekommen, als sie auf einen Zeitungsartikel über die dreijährige Luhra Fernandez gestoßen war.

    Luhra hatte ihren Namen von Nonnen bekommen, die sie 1936 in einem Wald in Portugal aufgefunden hatten. Die Leute hatten ihr den Namen »Nachtkind« gegeben. Man hatte das kleine Mädchen des Nachts gefunden, und sie war von den anderen Kindern als Monster ausgelacht worden, weil sie kein Gesicht hatte. Den Grund dafür kannte niemand. Manche Leute behaupteten, dass es sich um eine angeborene Krankheit handele, andere, dass sie von einem wilden Tier angegriffen worden sei. Aber genau wie David Lopez, der auch von Nonnen gefunden worden war – allerdings in einem Wald in Peru –, hatte auch das Mädchen viele Jahre später keinen Mund, keinen Oberkiefer und keine Nase mehr. Die Geschichte des Mädchens war Kiara nicht bekannt, aber, wie viele andere auch, hatte sie vorher schon von David Lopez gehört und war überzeugt, dass die Geschichte, die man sich über ihn erzählte, der Wahrheit entsprach. Warum dieser intelligente Junge unter seinen Altersgenossen keine Freunde hatte finden können, war ihr unbegreiflich. Glücklicherweise hatte ein Heim für ihn eine Reise nach Großbritannien und genügend Geld für eine kosmetische Operation organisiert. Die schwierigsten Eingriffe hatte der Chirurg Adam Jackson vorgenommen, ohne dafür eine Gegenleistung zu verlangen. Er und seine Frau hatten danach beschlossen, David zu adoptieren. Nach zahlreichen Operationen war es David schließlich gelungen, ein normales Leben zu beginnen. Was mit Luhra geschehen war, wusste dagegen niemand. Man hatte nie wieder etwas von ihr gehört.

    Kiara hatte sich schon immer dazu berufen gefühlt, hoffnungslosen Menschen zu helfen. Daher beschloss sie, dem medizinischen Fachbereich einer der kleinsten, aber renommiertesten Universitätsstädte nicht nur Deutschlands, sondern auch Europas, anzugehören: Tübingen. In diesem kleinen, am Neckar gelegenen Städtchen fand sie ihr zweites Zuhause. Aufgewachsen war sie in einem kleinen Ort in der Nähe von Stuttgart, wohin sie im Alter von zehn Jahren mit ihrer Familie gezogen war, weil ihr Vater in Stuttgart gearbeitet hatte. Als dieser bei einem besonders tragischen Vorfall, der den Einwohnern Stuttgarts noch lange in Erinnerung bleiben sollte, verunglückt war, zog Kiaras Mutter Rosie zusammen mit ihrer Tochter nach Tübingen. Wenige Jahre später kehrte Rosie aus beruflichen Gründen jedoch wieder nach Stuttgart zurück.

    Adrian Horst, Kiaras Vater, war unter äußerst bizarren Umständen in einem Aufzug des Salamiherstellungsunternehmens »Marc & Co.« verunglückt. Gegenüber der Salamifabrik hatte ein Haus gestanden, von dem plötzlich Ratten, die eine alte Frau in ihrer Wohnung gehalten hatte, herabgefallen waren. Die Frau hatte überraschend ins Krankenhaus eingeliefert werden müssen, und die Ratten waren ihr gefolgt, da sie von ihr Futter bekommen hatten. Augenzeugen hatten berichtet, die Ratten seien so fett und schwer gewesen, dass sie sich nicht auf dem Dach hätten halten können, und seien deswegen auf die Passanten herabgefallen und hätten schließlich in der Salamifabrik Zuflucht gesucht. Die Polizei hatte die Straße zwar abgesperrt, aber einige Personen waren trotzdem von den Ratten gebissen worden. Unterdessen befand sich Adrian mit zwei weiteren Personen in einem Aufzug, der nach oben hin geöffnet war. Eine von ihnen war Silvia Wieter. Sie hielt eine frühgotische Skulptur aus dem Naumburger Dom in den Händen, die sie vom Chef des Unternehmens geschenkt bekommen hatte und in ihrem Museum ausstellen wollte. Als sie das Tier sah, fing sie zu schreien an und die Skulptur wurde gegen Adrians Kopf geschleudert, fiel zu Boden und zerbrach. Ein tragisches Ende für Kiaras Vater, der auf der Stelle tot war. Aber das war nicht das einzige Unglück gewesen. Die Ratten waren in der Fabrik zwischen die Maschinen geraten und zusammen mit dem Salamifleisch in kleine Stücke zerhackt worden. Drei von mehreren Dutzend Menschen, die diese Salami dann gekauft und verzehrt hatten, waren später ihren Vergiftungen erlegen. Hinterher wurde bestätigt, dass die Vergiftung ursächlich auf die Ratten zurückzuführen war.

    IV

    Kiara war stolz darauf, eine derart bekannte und angesehene Universität zu besuchen, und erachtete es als großes Glück, zu den ersten Bewerbern zu zählen, die aufgenommen wurden. Als sie dann eine Tätigkeit in einer von insgesamt siebzehn Kliniken in Tübingen aufnahm und die Stadt hin und wieder verlassen musste, um an Symposien teilzunehmen, nutzte sie jede Gelegenheit, um andere, die mit der Geschichte der Stadt nicht vertraut waren, ausführlich zu informieren. Auf einem dieser Symposien hatte sie auch ihren jetzigen Freund Henning kennen gelernt.

    »Die Tübinger Universität wurde aus einem eher ungewöhnlichen Anlass gegründet. Die Gattin des Tübinger Grafen Eberhard war Italienerin und stammte aus Bologna. Da eine der ältesten europäischen Universitäten in ihrer Geburtsstadt Bologna gegründet worden war, hielt sie es für eine gute Idee, auch in ihrem neuen Heimatort eine Universität zu errichten. Ihr Gatte hatte nichts dagegen einzuwenden. Das Vorhaben der Gräfin überraschte viele, erwies sich jedoch als ein ausgezeichnetes Projekt, da schon im 16. Jahrhundert viele namhafte Wissenschaftler, Philosophen, Literaten und Doktoren nach Tübingen kamen, um dort ihre Studien fortzuführen, und die Universität so sehr schnell an Ansehen gewann. Vielleicht interessiert es Sie, welche zeitgenössischen Berühmtheiten diese Universität besucht haben. Der Bundespräsident Horst Köhler, der Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Günter Oettinger, der ehemalige Außenminister Klaus Kinkel sowie der einstige Profi-Fußballer und heutige Hertha-BSC-Berlin-Manager Dieter Hoeneß haben an dieser Universität studiert. Sogar Joseph Ratzinger, unser neuer Papst, Benedikt XVI., war dort. Er hat in Tübingen Theologie gelehrt.« So referierte Kiara, wobei sie auf den letztgenannten Universitätslaureaten besonders stolz war.

    Während sie begeistert erzählte, wurde sie von einigen jungen Männern, unter ihnen auch Henning, enthusiastisch beobachtet. Allerdings beruhte diese Begeisterung mehr auf dem Aussehen der Rednerin als auf der geschichtlichen Bedeutung des am Neckar gelegenen Städtchens.

    Kiara war eine ausgesprochen anziehende junge Frau. Blonde Locken umrahmten ihr schönes Gesicht, an dem besonders die graublauen Augen auffielen. Aber mehr noch als ihr Gesicht, ihre schönen Augen und ihr langes Haar zogen ihre Brüste, die sich aufgrund ihres engagierten Vortrags noch deutlicher unter ihrer weißen Seidenbluse abzeichneten, Hennings Aufmerksamkeit auf sich. In diesem Augenblick wusste er, dass er sie um jeden Preis haben musste. Im Grunde keine böse Absicht, doch er setzte sich dieses Ziel zu seinem eigenen Vergnügen. In seiner Klinik in Stuttgart, etwa 40 km von Tübingen entfernt, galt er als großer Verführer, dem keine Frau widerstehen konnte.

    Als er aber merkte, dass Kiara nicht so leicht zu beeindrucken war wie die meisten anderen Frauen, mit denen er anbändelte und die er als seine »Trophäen« bezeichnete, beschloss er, es langsam angehen zu lassen; aber unter keinen Umständen wollte er zulassen, dass sie ihn abblitzen ließ. Auf der Arbeit schloss er sogar mit ein paar Kollegen, die Kiara auch kannten, eine Wette ab, wie es mit den beiden enden würde. Henning »garantierte« ihnen, dass er sie schon nach zwei Wochen ins Bett kriegen würde. Weit gefehlt! Nichtsdestotrotz fingen die beiden an, sich öfter zu treffen, und Henning belog seine Kollegen, indem er verkündete, er habe inzwischen schon mit Kiara geschlafen, und gewann so die Wette. Hätte Kiara damals die Wahrheit erahnen können, wäre sie jetzt mit Sicherheit nicht mehr mit ihm zusammen gewesen. Später imponierte es ihm, eine derart hübsche Freundin an seiner Seite zu haben, eine Freundin, um die ihn alle seine Kollegen beneideten – was ihn jedoch nicht davon abhielt, sich nebenher mit anderen Damen zu vergnügen –, und er beschloss daher, mit Kiara zusammenzubleiben. Er zog es sogar in Betracht, sie eines Tages zu heiraten. Kiara hingegen gefiel dieser Gedanke überhaupt nicht. Ihrer Ansicht nach waren sie beide noch zu jung, um diesen großen Schritt zu wagen, und außerdem war ihr ihre Arbeit wichtiger als ihre Beziehung mit Henning und der Gedanke, mit ihm eine Familie zu gründen. Sie stellte sich hin und wieder die Frage, ob sie überhaupt irgendwann dazu bereit sein würde, ihr Leben mit ihm zu teilen.

    V

    »Herrgott! Was ist das?«, stieß Kiara hervor, als sie zum ersten Mal die Fotoaufnahmen von Joseph Merrick sah, besser bekannt als der »Elefantenmensch«. Die Welt hatte schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von Joseph Carey Merrick erfahren, als er die Hauptattraktion eines Ladens in der Whitechapel Street in London gewesen war. Die Leute waren in den Laden gekommen und hatten einen Penny bezahlt, um ihn zu sehen, ihre Neugierde zu befriedigen und sich über dieses menschliche Wesen, das kaum noch Ähnlichkeit mit einem Menschen aufgewiesen hatte, lustig zu machen oder es zu bemitleiden. Die Ärzte waren damals der Überzeugung gewesen, dass es sich bei dem Leiden des Unglücklichen um das so genannte Proteus-Syndrom handelte, weswegen sich auf dem Kopf und der ganzen rechten Körperhälfte Tumore ausgebreitet und Knochendeformationen gebildet hatten. Als Merrick einundzwanzig Jahre alt gewesen war, hatte sein Kopfumfang aufgrund der Geschwülste 92 cm betragen, und mit der Zeit war er so schwer geworden, dass er nur noch sitzend oder mit dem Kopf auf den Knien schlafen konnte.

    »Weißt du, in welchem Alter er starb? Mit dreißig Jahren. Er ist erstickt, nur weil er beweisen wollte, dass er nicht anders war als normale Menschen. Er versuchte, wie normale Menschen zu schlafen!«, sagte Luca Illoni sichtlich erschüttert.

    Luca war einundzwanzig Jahre alt und hatte selbst erste Gesichtsdeformationen erlitten. Die Ärzte konnten nicht herausfinden, unter welcher Krankheit er litt, doch als er irgendwann auf Fotoaufnahmen von Joseph stieß, erkannte er seine eigene Krankheit wieder. Da er von der bekannten Wissenschaftlerin Kiara Horst gehört hatte, nahm er die weite Reise aus Italien auf sich, um sie um Hilfe zu ersuchen. Das war genau am 12. November, aber auch nach drei Monaten, in denen sie ihn untersucht, ihm Gewebe entnommen und es analysiert hatte, hatte sich Lucas Zustand nicht im Geringsten verbessert.

    »Ich will nicht sterben, und schon gar nicht von allen ausgelacht werden. Ich glaube an Sie und werde die Laboratorien nicht eher verlassen, als bis Sie einen neuen Menschen aus mir gemacht haben. Stellen Sie mit mir an, was Sie wollen, aber helfen Sie mir!«, flehte er sie an.

    Sie war unglücklich, weil sie ihm nicht helfen konnte. Ihr Team stellte dem unglücklichen jungen Mann ein Zimmer zur Verfügung, das sich in der Nähe des Laboratoriums befand und das normalerweise Eltern, die ihre Kinder zur Beobachtung dalassen mussten, als Übernachtungsmöglichkeit diente. Das Zimmer war stets verdunkelt, und außer Kiara und dem Personal, das Luca Essen brachte, hatte niemand Zutritt.

    »Menschen wie ich werden ausgelacht, ausgenutzt und aus der Welt der Normalen ausgeschlossen. Sie betrachten uns als Monster, als Menschen mit angeborenen oder erworbenen Deformationen, die so selten sind, dass sie glauben, unser Leben würde nur im Zirkus einen Sinn ergeben. Aber ich bin keine Zirkusattraktion! Unter dieser verfluchten äußeren Verunstaltung bin ich ein Mensch, ein ganz normaler Mensch! Bitte, helfen Sie mir!«, flehte er sie an, als sich seine Krankheit bereits in einem Stadium befand, da sie nicht mal mehr seine Augen erkennen konnte.

    Ihr Herz blutete bei dem Gedanken an die Qualen, die er in so jungen Jahren bereits hatte erleiden müssen. Sie zog ihre weiße Hose und ihren Kittel an, band ihre langen Haare zu einem festen Dutt zusammen und ging die Treppe zum Laboratorium hinauf. Sie nahm ihren kostbarsten Besitz – eine Uhr, die ihr Vater ihr zum zehnten Geburtstag geschenkt hatte – vom Handgelenk ab. Das war eines von zwei Dingen, die ihr von ihrem Vater, an dem sie sehr gehangen hatte, geblieben waren. Kiara war ein Einzelkind, und ihr Vater sah in ihr bis zu seinem Tod das kleine Mädchen, das niemals erwachsen werden würde. Er war gestorben, als sie zwanzig Jahre alt war, woraufhin sie sich von ihrem damaligen Freund, mit dem sie für den Rest ihres Lebens hatte zusammenbleiben wollen, getrennt hatte. Sie hatte aufgehört, ihn zu lieben. Er sah den Trennungsgrund in ihren Verpflichtungen an der Universität, wo sie gleichzeitig studieren und ihr Praktikum als angehende Ärztin ableisten musste. Kiara hatte lange darüber nachgedacht, wie es mit ihrem Leben und ihrer Beziehung weitergehen sollte. Eines aber wusste sie ganz gewiss: Sie liebte Christian – so hieß ihr damaliger Freund – nicht mehr und konnte sich auch keine gemeinsame Zukunft mit ihm vorstellen. In dieser Zeit befand sich die junge Frau am Rande eines Nervenzusammenbruchs. Sie hatte Christian gebeten, sie in Ruhe zu lassen, aber er wollte ihre Bitte nicht akzeptieren. Er wusste, dass in ihrer Beziehung etwas nicht stimmte, dass sie sich vollkommen verändert hatte und er sie nicht mehr wiedererkannte.

    Eines Tages jedoch sprach er offen mit ihr und gab ihr zu verstehen, dass sie sich entscheiden müsse. Kiara aber brachte es nicht übers Herz, eine endgültige Entscheidung zu treffen, weil er so unendlich gutmütig war. Ihr schlechtes Gewissen zerriss sie, sie weinte jeden Tag, nachts wurde sie von unerträglichen Alpträumen heimgesucht, in denen sie stets die Übeltäterin war; gleichzeitig konnte sie aber auch seine Nähe nicht ertragen. Ihr Verhältnis war nicht mehr dasselbe wie früher, beide litten darunter. Für beide wurde die Belastung unerträglich. Die vollendete Liebesbeziehung war ihrer Ansicht nach ein Kompromiss zwischen Verstand und Gefühl. Sie war ausgesprochen sensibel, und Christian war es auch. Sie war immer der Auffassung gewesen, dass sensible Menschen die intensivsten Beziehungen hatten, aber inzwischen hatte sie eingesehen, dass sich in ihrer Beziehung zu viele negative Gefühle angestaut hatten.

    Kiara und Christian waren in vielerlei Hinsicht sehr verschieden. Sie sehnte sich nach der romantischen Liebe, denn für sie war die Liebe die größte Glückseligkeit auf der Welt, ein uneigennütziges Gefühl des Aushaltens und der Hingabe. Sie glaubte an die Liebe und erachtete sie als einzigen Antrieb im Leben. Christian dagegen war der Auffassung, man solle die Liebe nicht herbeisehnen, da sie rational sei. Man tue besser daran, sie mit dem eigenen Verstand zu erforschen, zu kontrollieren. Er war ein unverbesserlicher Realist, in seiner Weltauffassung war kein Platz für etwas, das eines Tages vielleicht möglich sein würde. Er betrachtete und plante sein Leben im Hier und Jetzt, und jede ihrer Vorstellungen von zukünftigen Möglichkeiten versuchte er im Keim zu ersticken, sobald sie nur anfing, darüber nachzudenken. Obwohl ihr Altersunterschied nicht groß war, hatte er im Gegensatz zu Kiara eine ganz genaue Vorstellung vom Leben und nahm sich vom Leben das, was er kriegen konnte. Konsequent verfolgte er seine Ziele und legte großen Wert auf ein geordnetes Leben. Sie hingegen lebte in einer Welt, in der es verschiedene Versionen der Realität gab. Sie wollte das menschliche Dasein erforschen, das Unbekannte spornte sie an. Ihre Augen glänzten beim Gedanken an ferne Länder und unzählige unerforschte Routen, die einen völlig unbekannten Ort offenbarten. Auf alles in ihrem Leben war sie gefasst, nur nicht auf einen vorhersehbaren Alltag. Sie war hin- und hergerissen zwischen Christians Lebenskonzept und ihrem eigenen. Dieses Dilemma machte ihr immer schwerer zu schaffen, bis es schließlich unerträglich wurde. Es war ihr unmöglich, ihm in die Augen zu schauen und zu sagen, dass sie ihn liebte, wenn er es von ihr verlangte. Das schlechte Gewissen plagte sie, die Nächte und Alpträume zerrten mindestens genauso an ihren Nerven wie das Bewusstsein, ihn bei Tagesanbruch aufs Neue anlügen zu müssen. Es gab Augenblicke, in denen sie sich gar nicht des Schmerzes bewusst war, den sie ihm zufügte. Zuweilen gelang es ihr, ihr ungerechtes Verhalten ihm gegenüber zu verdrängen. Auf diese erholsamen Augenblicke folgten jedoch erneut Schmerz, Depression und schreckliche Träume, die ihr keine Ruhe ließen, auch nicht, wenn sie die Realität zu vergessen versuchte.

    Auf ihre Apathie folgte ein nervlicher Zusammenbruch. Diese emotionale Verfassung führte schließlich zu einem Wendepunkt in Kiaras Leben – sie beschloss, fortzugehen, obwohl Christian sie mit allen Mitteln davon abzuhalten versuchte. Sie erinnerte sich daran, wie er damals zu ihr gesagt hatte: »Wenn du willst, gehe ich.«

    Sie zwang sich, seine traurigen Augen und seinen noch traurigeren Blick zu vergessen. Als sie fortging, zerriss es ihr das Herz, aber sie wusste auch, dass, wenn sie jetzt nicht ging, die Qualen nie aufhören würden. Also verließ sie ihn. Als sie später versuchte, wieder Kontakt zu ihm aufzunehmen, war er verschwunden. Eine unbestimmte Furcht hielt sie davon ab, sich bei ihren gemeinsamen Freunden nach ihm zu erkundigen. Ihre Freunde deuteten ihr Verhalten als Gefühllosigkeit, da sie der Mann, mit dem sie ihre Jugend verbracht hatte, überhaupt nicht mehr zu kümmern schien. Der wahre Grund, warum sie nie nach ihm fragte, war jedoch der, dass sie unter Umständen hätte erfahren müssen, wie sehr sie ihm tatsächlich wehgetan hatte. Das ahnte sie zwar, befürchtete aber, sie selbst würde es nicht ertragen können, wenn es jemand wirklich aussprechen würde.

    Einige Monate waren verstrichen, als sie durch einen Zufall erfuhr, dass Christian eine neue Freundin hatte. Ihre Freude war grenzenlos. Bald kam ihr jedoch zu Ohren, dass diese Beziehung nur von kurzer Dauer war, was sie sehr bedauerte. Sie wünschte ihm alles Glück dieser Welt, das Glück, das sie ihm nicht mehr schenken konnte. Christian hatte immer gedacht, er hätte es mit Kiara gefunden. Kiara war am Boden zerstört. Ihr Vater hatte von Anfang an ein wachsames Auge auf sie gehabt, ihre Probleme miterlebt, mit ihr gelitten und ihren Schmerz mit ihr geteilt. Er war zu dem Zeitpunkt gestorben, als es ihr am schlechtesten ging. In den darauf folgenden Monaten war Kiara nur noch ein Schatten ihrer selbst. Sie lief ziellos in den Straßen Stuttgarts umher, manchmal bis tief in die Nacht hinein, wie ein Zombie. Der Herr allein legte zu dieser Zeit seine schützende Hand über sie und bewahrte sie vor den Lastern der Großstadt.

    In einer dieser Nächte, etwa um Mitternacht, als es bitterkalt war, ging Kiara eine Straße entlang, auf der man die ganze Nacht über Leute antraf. Kiara merkte nicht einmal, dass Weihnachten vor der Tür stand. Halb erfroren, nur in einen dünnen Mantel gehüllt, schritt sie die Straße hinauf und dachte ununterbrochen an den Mann, dessen Herz sie gebrochen hatte. Sie bemerkte dabei nicht die alte Frau, die nun schon zum vierten Mal in Folge vor dem Schaufenster eines großen Kaufhauses stehen blieb und wahrscheinlich die einzige Person war, die wusste, wo sich Kiara in den vergangenen Tagen aufgehalten hatte.

    »Sie sollten gnädiger zu sich selbst sein«, hörte sie an jenem vierten Abend eine Stimme sagen.

    Kiara hatte den Eindruck, die Stimme komme von einem der Fenster eines Wohnhauses, das über zweihundert Jahre alt war. Als sie sich umdrehte, sah sie eine magere alte Frau mit tiefschwarzen Augen.

    »Verzeihung?«

    »Sie sehen unglücklich aus. Das lässt sich unschwer erkennen, weil es nun schon die vierte Nacht ist, in der Sie hierherkommen, als wären Sie eine Untote. So verhalten sich nur Menschen, die verloren sind, und Sie scheinen mir verloren«, fuhr die Alte fort.

    »Es ist nichts weiter, es geht bestimmt bald wieder vorbei«, erwiderte Kiara und ging weiter.

    Nach einigen Schritten drehte sie sich um, weil sie noch etwas sagen wollte, doch die alte Frau war nicht mehr da. Kiara schaute in alle Richtungen, konnte sie aber nicht sehen. Es war ihr unerklärlich, wohin die Frau so schnell verschwunden sein konnte. In der darauf folgenden Nacht ging Kiara wieder dieselbe Straße entlang, und als sie am Schaufenster vor dem alten Gebäude, in dem auch das Kaufhaus untergebracht war, angekommen war, sah sie dort keine Menschenseele. Sie blickte ins Schaufenster, und als sie sich umdrehte, glaubte sie für einen Augenblick gesehen zu haben, wie die alte Frau von gestern mit einer Leiter auf das oberste Stockwerk des alten Hauses hinaufstieg. Sie schaute noch mal hin, aber diesmal sah sie nichts. Aus dem Haus ließen sich keine Geräusche vernehmen. Es war menschenleer und teilweise erleuchtet, wie immer zu dieser Zeit. Kiara dachte, sie hätte sich alles nur eingebildet. Das wäre schließlich nicht das erste Mal gewesen. Sie musste an ihre Kindheit denken, als sie eines Morgens aufgewacht und felsenfest davon überzeugt gewesen war, dass ihr Traum der vergangenen Nacht kein Traum, sondern Wirklichkeit gewesen war. Die Beteuerungen ihrer Mutter Rosie, die ihr erklären wollte, dass sie nur schlecht geträumt und die ganze Nacht über tief und fest geschlafen habe, waren fruchtlos.

    Auch am nächsten Abend ging Kiara zu dem

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