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Amabilia: Das vergiftete Erbe
Amabilia: Das vergiftete Erbe
Amabilia: Das vergiftete Erbe
eBook371 Seiten5 Stunden

Amabilia: Das vergiftete Erbe

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Über dieses E-Book

Das Universum im 28. Jahrhundert. Die siebzehnjährige Somylea, in einem Waisenhaus aufgewachsen, führt ein ereignisloses Dasein als Bankangestellte in einem fernen Sonnensystem. Doch ihr beschauliches Leben gerät kurz vor ihrem achtzehnten Geburtstag schlagartig aus den Fugen. In allerletzter Sekunde wird sie von einem Unbekannten gerettet, bevor ihre Wohnung von bewaffneten Männern gestürmt wird. Nach und nach erfährt sie, wer es auf sie abgesehen hat und weshalb.

Somylea erbt von ihren toten Eltern die Macht über den Planeten Amabilia. Das bringt sie in die Schusslinie einer mächtigen kriminellen Organisation, die nach den Rohstoffen auf dem Planeten giert. Plötzlich muss sie Entscheidungen treffen, deren Konsequenzen nicht absehbar sind, ohne zu wissen, wer Freund und wer Feind ist.

So gerät Somylea in ein mörderisches Spiel, das ihr zeigt, wie schmal der Grat ist, der Gut von Böse und Liebe von Hass trennt.

"Amabilia" ist das Debüt der zwanzigjährigen Fabia Morger. Spannend, emotional, mit einprägsamen Charakteren und aufblitzendem Dialogwitz schafft es die junge Autorin, die Geschichte von Liebe und Verrat, Macht und Moral auf den Punkt zu bringen. "Amabilia" ist ein bemerkenswertes Buch in einem männerbeherrschten Genre.
SpracheDeutsch
HerausgeberSalis Verlag
Erscheinungsdatum19. Mai 2011
ISBN9783905801491
Amabilia: Das vergiftete Erbe

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    Buchvorschau

    Amabilia - Fabia Morger

    selbst.

    1

    Geburtstagsüberraschungen

    »Dieser Tag hat gute Chancen, in die Top Ten meiner grässlichsten Tage aufzusteigen«, überlegte ich und rieb mir die Augen. Ein hysterischer Kunde unserer Bank war schreiend zurückgekommen und wollte sein Eigentum zurückhaben, nachdem er es in einen Hochsicherheitstresor hatte sperren lassen. Und das für nicht weniger als fünfzehn Jahre.

    »Ich habe meine Uhr mit eingeschlossen. Ein Antiquitätenstück aus dem 23. Jahrhundert«, hatte er verzweifelt gerufen. Natürlich war es mir überlassen geblieben, ihm zu erklären, was er eigentlich schon wusste, aber nicht wahrhaben wollte. Wenn ein Stick – egal, ob er mit einem Vermögen oder nur mit einem Paar Socken gefüllt war – in einen Hochsicherheitstrakt eingesperrt wurde, war es schlichtweg unmöglich, ihn vor der festgelegten Zeit herauszunehmen. Sobald der Stick der Bank zur Verwahrung übergeben worden war, wurden seine Daten auf einer Festplatte mit beinahe grenzenloser Kapazität gespeichert, die unter der Bank in der Erde ruhte. Die Öffnung eines Hochsicherheitsverlieses war im Stick programmiert und konnte nicht geändert werden. Das war natürlich sehr gefährlich – man stelle sich nur vor, jemand würde einen lebenden Menschen in diesen Stick sperren. Meine Aufgabe war es deshalb, mit einem Wärmedetektor, der bei Körperwärme zu vibrieren begann, den Inhalt der Sticks zu überprüfen. Also war ich gewissermaßen für Menschenleben verantwortlich.

    Das klingt um einiges interessanter, als es war. Genau genommen war es eine todlangweilige Arbeit, die nur gerade genug Geld für meine Wohnung und mein Essen einbrachte. Ich musste die Sticks überprüfen, eine Liste mit allen Wertgegenständen anfertigen, sie dem Kunden zur Durchsicht geben, meinen Fingerabdruck darunterdrücken und den Kunden mit einem freundlichen Lächeln verabschieden.

    Und, wie gesagt, war es am heutigen Tag mir überlassen geblieben, den aufgelösten Mann zu besänftigen, da alle meine Kollegen fluchtartig aufs Klo gerast waren (zugegeben, ich wäre auch davongelaufen, aber leider hatte ich die Gefahr zu spät bemerkt). Der Mann hatte sich nicht mit einigen verzweifelten Sätzen begnügt – nein, eineinhalb Stunden verbrachte er damit, den Verlust seines geliebten Wertstücks zu betrauern. Nachdem er jedoch seine Trauer überwunden hatte, begann er mir Vorwürfe zu machen. Ich hätte ihm nicht genügend deutlich gemacht, was er in den Stick eingepackt hätte. Es wäre mir ja nur darum gegangen, möglichst schnell zum nächsten Kunden zu kommen. Man konnte sagen, was man wollte, aber das stimmte nicht. Ich gab mir immer größte Mühe, meine Arbeit so gewissenhaft wie möglich zu erledigen.

    Als ich ihn schließlich damit zu trösten versuchte, dass sein einzigartiges Antiquitätenstück für die nächsten fünfzehn Jahre wenigstens sicher aufgehoben war, nannte er mich eine dumme Angestellte, die den Wert solcher Gegenstände nicht zu schätzen wüsste, und lief mit stampfenden Schritten davon, wobei er zwanzig Bring-Abhol-Roboter so ruckartig zum Anhalten brachte, dass sie übereinanderpurzelten.

    Ich fragte mich einmal mehr, weshalb ich mir diesen Job antat.

    Ich war nicht die Einzige, der dieser Gedanke durch den Kopf ging. Oft wurde ich gefragt, was mich im Alter von nur sechzehn Jahren dazu gebracht hatte, das sichere Kinderheim, in dem ich gelebt hatte, für immer zu verlassen. In den Augen der meisten war das purer Wahnsinn gewesen. Meistens erwiderte ich nicht viel. »Es ist halt so gekommen«, etwas in der Richtung. Eine ehrlichere Antwort wäre gewesen, dass ich nicht einfach gegangen bin, sondern gehen musste. Wäre ich geblieben, um noch ein paar Jahre länger den Komfort zu genießen, darauf hingewiesen zu werden, dass ich abends meine Zähne zu putzen und am nächsten Morgen zeitig aufzustehen hatte, wäre ich wahnsinnig geworden.

    Seit ich denken konnte, lebte ich in diesem Heim. Es war nicht so, dass man mich dort gehasst hätte, doch ich war allen vollkommen gleichgültig. Jeder verrichtete seine Arbeit, die meisten machten sie gut, doch die Betreuer hatten vergessen, dass ich etwas nicht besaß, was die anderen Kinder im Heim irgendwo im Hintergrund immer dabeihatten und immer mit sich herumtrugen, wie einen wertvollen Schatz: Eltern. Oder zumindest die Erinnerung an sie. Der Gedanke, dass irgendjemand da war und sich mit mir auseinandersetzte oder zumindest wusste, dass ich existierte, war mir vollkommen fremd. Ich war als Baby zwischen Mülltonnen entdeckt worden. Niemals hatte es in meinem Leben jemanden gegeben, dem ich etwas bedeutet hatte – oder jemanden, der mir etwas bedeutete.

    Nein – niemals war falsch. Eine Person war mir für lange Zeit das Wichtigste auf der ganzen Welt gewesen: Tolmai. Er war für mich wie ein Vater. Als er in meinem siebten Lebensjahr seine Stelle als Betreuer im Heim aufgenommen hatte, war er der Einzige, der bemerkte, dass ich einsam war.

    »Du bist wie die Tochter, die ich mir immer gewünscht habe«, hatte er mir manchmal gesagt, und das hatte mir gefallen. Wir hatten viele Dinge miteinander unternommen und unsere Beziehung wuchs über das Betreuer-Heimkind-Verhältnis hinaus. Mit ihm war ich glücklicher als je zuvor. Plötzlich wurde mir klar, wie schön es sein müsste, Eltern zu haben, Menschen, die einen liebten.

    Doch als ich fünfzehn war, wurde er in ein anderes Heim versetzt. Nie mehr hatte ich danach ein Lebenszeichen von ihm vernommen. Seit diesem Tag war er buchstäblich verschwunden. Niemand wusste, wo er hingezogen war. Auf meine vielen Nachrichten, die ich ihm geschrieben hatte, bekam ich nie eine Antwort. Allein in meinen Träumen war er noch präsent.

    Ein Jahr später zog ich aus dem Heim aus. Die Welt dort erschien mir ohne ihn so tot, dass ich mir manchmal wünschte, ich hätte ihn nie gekannt.

    »Denk nicht immer daran zurück!«, schalt ich mich eine Sekunde später.

    Seufzend zog ich meinen Taschenroboter hervor.

    »Seiko. Bist du da?«, fragte ich gelangweilt.

    »Ja, bin ich«, antwortete die Stimme meines Hausroboters.

    »Folgende Aufgaben wurden heute erledigt: das gestrige Essen recycelt, die Wohnung gesaugt, die Fenster poliert, der Müll entsorgt –«

    »Ja ja, danke«, rief ich ungeduldig. »Ich komme in fünf Minuten nach Hause und wollte dir schnell die Pläne fürs Abendessen durchgeben. Ich hätte heute gerne Steak mit Liliengeschmack und Mirabellenkartoffeln.«

    »Madame, ich würde Ihren Befehlen gerne Folge leisten. Aber Sie haben mich am Anfang des Monats beauftragt, Ihnen jedes Mal, wenn Sie zu viel Geld für unnötiges Zeug ausgeben wollen, nicht zu gehorchen.«

    »Das darf nicht wahr sein!« Fassungslos starrte ich meinen Taschenroboter an. »Ich habe heute Geburtstag. Da ist es wohl erlaubt, etwas Ordentliches zu essen.«

    »Tut mir leid, aber Geburtstage stellen laut meinem Programm keine Ausnahme dar, es sei denn, Sie haben ein ärztliches Zeugnis. Sie hätten sich letzten Monat das bewegliche Modell unserer Galaxie nicht kaufen sollen, das ist, meinen Berechnungen zufolge, der Grund für ihre Geldknappheit. Es wird heute Abend nur Kartoffeln geben, angereichert mit einem preiswerten Vitaminpräparat.«

    Zornig beendete ich das Gespräch.

    Na toll! Wieder einmal war bewiesen, dass der Mensch seinen Maschinen hoffnungslos unterlegen war.

    Ich wusste, dass der Roboter recht hatte, doch ich bereute den Kauf der Modellgalaxie kein bisschen. Jedes Mal, wenn ich mir die vielen Sonnensysteme anschaute, bekam ich ein klein wenig Fernweh und schwor mir: Irgendwann würde ich auf einem schöneren Planeten leben als auf unserem riesigen und viel zu dicht bevölkerten Sophrenusi.

    In meinem Kopf tauchten Bilder von riesigen Urwäldern mit tropischen Pflanzen auf, mit weißen Stränden und –

    »Somylea? Kommst du mal kurz?«, durchbrach eine Stimme meine Gedanken.

    Alor, eine andere Angestellte, stand vor mir.

    »Nein!«, sagte ich brüsk. Ich hatte ihr noch nicht verziehen, dass auch sie mich heute Morgen mit dem Kunden schmählich im Stich gelassen hatte. Alor gehörte zu den Leuten, die immer dann nett und freundlich waren, wenn sie etwas von einem wollten. »Ich gehe nach Hause, meine Schicht ist zu Ende.«

    »Aber da ist ein Mann, der eine Frage zu den Hochsicherheitsverliesen hat. Er wollte nur mit dir sprechen.«

    Alor sah mich mit ihren riesigen Rehaugen bittend an.

    »Nein!«, gab ich ungnädig zurück. »Meine Schicht ist zu Ende.

    Sag dem Herrn, er soll morgen wieder kommen.«

    Sie ließ den Kopf hängen.

    »Sag ihm von mir aus, ich sei schon gegangen oder so«, fuhr ich ein wenig sanfter fort – mit unausstehlichen Kunden kannte ich mich aus –, »und ich erkläre ihm das morgen selbst.«

    Ich fragte mich im Nachhinein oft, wie es wohl gekommen wäre, wenn ich den Kunden nicht abgewiesen hätte. Wahrscheinlich wäre ich nicht lange am Leben geblieben. Wahrscheinlich.

    Die Stadt, in der ich lebte, seit ich denken konnte, hieß Sophrenusi Stadt und war die Metropole des gleichnamigen Planeten. Genau genommen konnte man S.S. mit ihren 145 Millionen Einwohnern und ihrer Fläche von 547 000 Quadratkilometern kaum mehr als Stadt bezeichnen, vielmehr als eine riesige Insel inmitten eines noch gigantischeren Ozeans namens Miljan, abertausend Meilen vom nächsten Festland entfernt. In ihm wirkte die Hauptstadt nur noch wie ein kleines, grell leuchtendes Eiland, an dessen steilen Felsküsten nachts zwanzig Meter hohe Wellen brandeten – Sophrenusi war an den meisten Orten kein Badeparadies.

    Alles, was auf diesem Planeten vorhanden war, sprengte normale Maße. Hier gab es die höchsten Häuser, die meisten Menschen, die größten Einkaufscenter.

    Das Gebäude, in dem unter anderem meine Bank, die Stadtbank, einquartiert war, hieß Chypsel und gehörte mit seiner Höhe von 1463 Metern zu den gigantischsten Sophrenusis. Der eine Teil bestand aus unzähligen, meist überrissen teuren Geschäften, auf der anderen Seite waren tausende von Wohnungen auf- und aneinandergereiht – eine davon gehörte mir.

    Obwohl ich im gleichen Gebäude wohnte und arbeitete, musste ich einen Hindenkautomaten benutzen, denn der Weg vom Untergeschoss, in dem die Bank untergebracht war, zu meiner Wohnung in den oberen Stockwerken war fünf Kilometer lang. Da war es einfacher, die zehn Minuten zum nächsten Hindenkautomaten auf sich zu nehmen.

    An freien Tagen jedoch war der Menschenauflauf von Kauflustigen vom Festland und dem Stadtrand hier im Zentrum so enorm, dass auch das ein beinahe unmögliches Unterfangen wurde, da man selbst mit größtem Kraftaufwand nicht gegen den Menschenstrom ankommen konnte. Man wurde einfach mitgeschleift, ob man wollte oder nicht.

    Um dem entgegenzuwirken, teilten hüfthohe Schranken den Raum, um diejenigen, die in die eine Richtung wollten, von denen zu trennen, die in die andere wollten. Trotzdem konnte es bis zu einer Stunde dauern, bis man zu einem freien Hindenkautomaten gelangt war.

    Das war Sophrenusi Stadt. Eine Großstadt wie aus dem Bilderbuch.

    Ich trat in die gigantische Haupthalle des Gebäudes. Es war kühl, der Mai hatte gerade begonnen. Das war die kälteste Zeit hier, auch wenn die Temperatur niemals so tief sank, als dass es zu mehr als ein wenig Rauhreif reichte.

    Die Stofffasern meines Pullovers verdichteten sich aufgrund der sinkenden Außentemperatur, damit ich nicht zu frösteln begann. Er war schwarz, in der Bank waren andere Farben nicht gestattet. Ich seufzte und blickte mich in der Halle um, die von hunderten von Menschen bevölkert war. Viele Leute, die von der Arbeit nach Hause kamen, durchquerten die Haupthalle. Es war eine riesige Kuppel, deren Glasdecke man nur noch als ein Stück Himmel wahrnahm, so hoch war sie. Draußen war, soweit ich das erkennen konnte, eine wolkenlose Nacht, die von den vielen grellen Lichtern erhellt wurde.

    Ich verschaffte mir Zugang zu einem Hindenkautomaten, streifte mir das kleine, weiche Gerät, das an ein Stirnband erinnerte, über den Kopf und dachte fest an mein Zuhause, worauf ich innerhalb eines Lidschlages in meiner Wohnung stand.

    »Guten Abend«, rief ich missgelaunt hinein.

    »Guten Abend, Madame«, antwortete die sonore Stimme von Seiko. »Hatten Sie einen angenehmen Tag?«

    »Nein, er war beschissen.«

    »Es betrübt mich sehr, das zu hören. Ich bin sicher, ihr morgiger Tag wird besser verlaufen«, erwiderte der Roboter programmgemäß.

    Ich schaute ihn böse an, was der Maschine natürlich nichts ausmachte.

    Für einen Moment blieb wie immer mein Blick an meinem Spiegelbild im Fenster hängen. Oft hatte ich versucht, anhand meines Aussehens einzuordnen, von welchem Planeten oder aus welcher Region ich wohl stammte. Doch bisher war ich nur darauf gekommen, dass es aller Wahrscheinlichkeit nach eine nördliche Region sein musste. Ich glich keinem der Einheimischen von S.S., denn ich war unwahrscheinlich blass, hatte dunkelblondes Haar und wirkte irgendwie zerbrechlich, auch wenn ich mir alle Mühe gab, nicht zerbrechlich zu sein. Unauffällig, aber kein Dutzendgesicht. Wer hatte wohl dafür gesorgt, dass ich so aussah, wie ich aussah?

    In diesem Moment berührte etwas Pelziges mein Bein.

    »Na hallo, Samba«, sagte ich zärtlich zu meinem Kater. »Hattest wenigstens du einen schönen Tag?«

    Samba schnurrte behaglich als Antwort. Seitdem er kurz nach meinem Einzug in die Wohnung vor meiner Türschwelle aufgetaucht war, lebte er bei mir und war mein Gefährte in allen Lebenslagen. Sofort fühlte ich mich ein wenig besser. Ich versuchte ihn zu streicheln. Er wand sich, wie jedes Mal, geschickt davon und blickte erwartungsvoll auf Seiko.

    »Gut«, sagte ich aufgeräumt. »Essen wir Kartoffeln.«

    Seiko servierte das Essen und schaltete sich dann selbst aus. Nun war es in meiner Wohnung schon fast unheimlich ruhig, man hörte nur das Klirren meines Bestecks und mein und Sambas leises Kauen und Schlucken. Ich fühlte mich vollkommen alleine.

    Ein weiterer Grund, weshalb ich auf einen anderen Planeten auswandern wollte, war, dass mich hier nichts hielt. Ich hatte keine richtigen Freunde. Niemand, der mit mir zu Abend aß, mit mir lachte oder stritt. Die Kollegen aus der Bank ließen mich in einem unkomfortablen Moment wie heute Nachmittag alleine stehen, und zu keinem meiner unzähligen Nachbarn pflegte ich Kontakt.

    Tolmai war mein einziger Freund geblieben.

    »Alles Gute zum Geburtstag, Somylea«, sagte ich leise zu mir selbst.

    Samba starrte mich mit seinen grünen Augen an, als würde er mich haargenau verstehen. Dann begann er seine Kartoffeln aufzufressen. Merkwürdig an dem Kater war, dass er kein Katzenfutter fraß. Nach zahlreichen, erfolglosen Versuchen, ihm Katzennahrung schmackhaft zu machen, gab ich es auf und ließ ihn mit mir essen. Er brachte mich jedes Mal zum Lachen damit.

    »Ach, Samba.« Ich versuchte ihn zärtlich hinter dem Ohr zu kraulen, auch wenn ich wusste, dass er das nicht mochte. »Du bist wirklich mein allerliebster –«

    KNALL!

    Es zischte und funkte, dann wurde es dunkel.

    »Verdammter Mist!«, fluchte ich und suchte mit der Hand nach Sambas Fell, doch ich konnte ihn nicht mehr finden. Wahrscheinlich war er vor Schreck unter den Tisch gesprungen.

    War das ein Stromausfall?

    Vorsichtig tastete ich mich zum Fenster durch, öffnete es und lehnte mich hinaus. Merkwürdig. In den unteren Etagen brannte noch Licht. Nur meine schien vollkommen dunkel zu sein.

    Wie war das möglich?

    Auf einmal meinte ich, neben meinem Fenster eine Bewegung zu bemerken. Tatsächlich, da kletterte ein Mann die Fassade entlang auf mein Fenster zu. Aber wir waren im 154. Stock, und der Mann sah nicht aus, als wäre er gesichert. Er würde herunterfallen und sterben. Ich wollte gerade meinen Mund öffnen, um ihn zu warnen – da zog mich jemand von hinten zurück und warf mich zu Boden.

    »Was zum …«, begann ich und wollte mich wieder aufrichten, doch der Angreifer hielt mich fest, sodass ich auf dem Bauch liegend meinen Hals recken musste, um zu sehen, was mir gerade passiert war. Er hatte mich gerade noch rechtzeitig heruntergezerrt, denn in diesem Moment durchschlugen zwei Pistolenschüsse meine Fensterscheibe. Handtellergroße Scherben flogen wie Granatensplitter durch den Raum. Eine traf mich am Arm und ritzte die Haut auf, doch ich war zu erschrocken, um Schmerzen zu spüren.

    »Beinahe hättest du eine große Dummheit gemacht«, murmelte der Unbekannte, »und Dummheiten kannst du dir heute Abend nicht leisten. Und jetzt lauf, was das Zeug hält!«

    Er zerrte mich auf die Beine und rannte mit mir zur Tür. Ich warf einen kurzen Blick zurück und erstarrte. Leute in schwarzer Kleidung, die nur einen Schlitz für die Augen offen ließ, kletterten mit Sturmgewehren in meine Wohnung. Es waren mindestens zwanzig, und immer mehr quetschten sich wie Ungeziefer durch das Fenster. Ich begann zu verstehen, dass diese Menschen nicht hier waren, um mir zum Geburtstag zu gratulieren.

    »Weg hier, nur weg!«, dachte ich. Zuerst schien es, als würden sich meine Beine dem Befehl widersetzen, doch dann setzte mein Körper mit dem Verstand gleich und sie gehorchten.

    »Ich hab noch einen Kater in der Wohnung«, keuchte ich verzweifelt zu dem Mann.

    »Keine Sorge, deinem Kater geht es gut«, antwortete er. »Aber jetzt mach, dass du hier rauskommst!«

    Wir stürmten zur Treppe.

    »Da sind sie!«, hörte ich jemanden rufen. »Bringt sie mir! Betäubt sie meinetwegen, aber wir brauchen sie lebendig!«

    Schüsse schlugen neben uns ein. Meine Nachbarn schauten verdutzt aus ihren Wohnungen. Das konnte nicht sein, das konnte nicht sein! Das war das Einzige, was ich dachte. Solche Dinge geschahen vielleicht in Filmen oder in Kriegszonen, wer weiß, vielleicht noch an vielen anderen Orten, doch nicht hier. Nicht in meinem Leben. Das konnte, nein, das durfte nicht wahr sein! Als ich den Kopf noch einmal zurückwandte, sah ich, dass Seiko sich selbst eingeschaltet hatte und auf unsere Verfolger feuerte.

    »Was macht der da, verdammt noch mal?«, schoss es mir durch den Kopf.

    Zwei Verfolger brachen unter seinen Schüssen zusammen. Wir rannten weiter, die Treppen hinunter. Das musste ein furchtbarer Albtraum sein. Irgendetwas Schreckliches war mit dieser Welt geschehen.

    »Da!«, rief der Mann neben mir und stoppte vor einem Fenster im Flur.

    Er stieß es auf und deutete auf ein Auto, das etwas unterhalb des Fensters geparkt war.

    »Du springst zuerst, ich komme nach!«

    Bevor ich mir überhaupt irgendwelche Gedanken machen konnte, schubste er mich zum Fenster raus. Unsanft landete ich in seinem Wagen, der Fremde sprang behände auf den Sessel neben mir.

    Er machte eine rasche Fingerbewegung, so als wollte er etwas zu sich winken. Kurz darauf landete Seiko hinter uns auf der Gepäckablage. Der fremde Mann startete den Motor, während sich das Dach schloss.

    Dann flog das Auto los, weg von Chypsel, hinein in die Großstadt.

    2

    Seltsame Geschichten

    Zum ersten Mal konnte ich den Fremden neben mir richtig anschauen. Ich hatte das merkwürdige Gefühl, dass er nicht ganz wie ein Mensch aussah. Etwas an ihm war anders und kam mir irgendwie vertraut vor. Von irgendwoher kannte ich ihn.

    Die ungewöhnlich hohe Stirn betonte sein bartloses Gesicht, seine grauen Haare schmiegten sich wie Fell an seinen Kopf. Von Zeit zu Zeit warf er mir aus seinen grünen, unergründlichen Augen einen kurzen Blick zu. Seine kleinen Hände führten den rasend schnell in dreißig Metern Höhe fahrenden Wagen geschickt aus den Häuserschluchten von S.S. hinaus in die meernahen Vorstädte.

    Ich betrachtete forschend sein Gesicht. Was war es bloß, was mir an diesem völlig unbekannten Mann so vertraut vorkam?

    Die Erkenntnis traf mich wie ein Donnerschlag.

    »Nein!«, schrie ich auf.

    »Doch«, gab mein Kater ungerührt zurück.

    »Du, du – bist Samba?!«, fragte ich mit zittriger Stimme.

    »Master Foxx, wenn ich bitten darf«, antwortete er herablassend.

    Verdattert starrte ich ihn an.

    »Ich werde dir niemals verzeihen, dass du mich Samba getauft hast.«

    Das verschlug mir endgültig die Sprache. Langsam wurde mir klar, dass mein Haustier sich in einen Menschen verwandelt hatte. Nein, es hatte – was?

    Ich blinzelte zweimal, doch der Mann, der neben mir saß, verschwand nicht.

    »Das ist kein Traum und keine Wahnvorstellung – falls dir das gerade durch den Kopf geht«, erriet er meine Gedanken. »Merke dir eines: Für jedes Phänomen auf dieser Welt gibt es eine wissenschaftliche Erklärung.«

    »Und … und … was für eine wissenschaftliche Erklärung gibt es für das hier, dass Sie …«

    Fassungslos konnte ich dabei zusehen, wie Master Foxx sich in Samba und wieder zurück in den grünäugigen, grauhaarigen Mann verwandelte.

    Ich stieß einen spitzen Schrei aus, der nicht nach mir klang. »Eine evolutionsgeschichtliche.«

    Das Auto fuhr nun auf eine Meeresklippe zu. Gischt spritzte auf und ich holte tief Luft, um loszuschreien, doch da befanden wir uns schon mitten über dem Ozean. Offenbar hatte Master Foxx sein Auto nun beinahe auf Lichtgeschwindigkeit gebracht.

    »Wie du bestimmt weißt, war der Homo Sapiens auf Golimat zum Zeitpunkt der Entdeckung des Planeten sehr ›jung‹. Auch wenn es fälschlicherweise oft behauptet wird, unterscheidet sich der Golimatmensch genetisch in nichts vom normalen Menschen. Aber er war nicht das einzige weit entwickelte Lebewesen auf seinem Planeten. Es existierte noch ein gleichzeitig entstandenes anderes humanoides Lebewesen. Zu Beginn allen Lebens, im Meer von Golimat, entwickelte sich eine Fehlmutation. Die Fähigkeit zu einer blitzartigen Metamorphose machte diese Duplikatlebewesen, wie ich sie getauft habe, zu einer sich schnell ausbreitenden Spezies, deren Entwicklung zu einem bilateralasymmetrischen Neumund und weiter zu Amphibien-Reptilien, Vogelsäugern, und Säugersäugern, alles sogenannte Duplikatlebewesen, nur ungenau erforscht wurde. Du kannst mir doch hoffentlich folgen?«, fragte er mit einem kurzen Seitenblick zu mir, doch er fuhr fort, bevor ich etwas erwidern konnte. »Neben dem Homo Sapiens Sapiens, der mit den Duplikatlebewesen nichts zu tun hatte, existierte also noch eine zweite Art, der ich angehöre: der Homo Sapiens Gemini, der sogenannte Zwillingsmensch. Der Homo Gemini mied die normalen Menschen, denn er hütete ein Geheimnis. Er besaß die Fähigkeit, sich in ein von Zeugung an festgelegtes Tier zu verwandeln.«

    »Äh … ist das ein Scherz?«, fragte ich heiser und hoffte inständig, dass es einer war, auch wenn ich tief in mir drinnen ahnte, dass niemand auf die Idee kommen würde, mich so grausam reinzulegen.

    Beleidigt schaute mich Master Foxx an. Dann verwandelte er sich innerhalb einer Hundertstelsekunde in Samba.

    Ich zuckte zurück, als wäre irgendeine grauenerregende Kreatur vor mir erschienen, doch sogleich saß wieder Master Foxx neben mir.

    »Deine Auffassungsgabe ist bemerkenswert langsam«, erwiderte er in arrogantem Tonfall. »Nein, das ist kein Scherz.«

    »Ja aber … das ist … völlig unmöglich …«

    »Von wegen!«, rief er aufgebracht. Dann glättete sich sein Gesicht wieder und er seufzte. »Viele Leute denken so. Aber es ist in gewissem Sinne nichts anderes als eine weiterentwickelte Metamorphose. Es ist alles schon hier. In gewisser Weise bin ich jetzt immer noch der Kater von vorhin. Du fragst dich bestimmt, warum niemand von uns je seine Existenz preisgegeben hat? Vor etwa tausend Jahren gab es auf Golimat noch ganze Stämme von Zwillingsmenschen – Reptilienmenschen, Vogelmenschen, Katzenmenschen. Aber schon damals wurden es immer weniger. Zwillingsmenschen fanden selten einen passenden Partner, und selbst wenn, war nicht sicher, dass ihre Kinder das Tier-Gen in sich hatten. Als Golimat vor vierhundert Jahren von den Menschen der Vereinigten Sonnensysteme entdeckt wurde, waren wir so wenige, dass meine Vorfahren es vorzogen, ihre Eigenschaft verborgen zu halten. Sie gaben sich als normale Menschen aus und schlossen sich diesen auch an, als der Homo Sapiens Sapiens begann, Schulen und Städte zu bauen. Unsere Anzahl nahm jedoch weiterhin ab. Heute gibt es nur noch dreiundzwanzig von uns und in schätzungsweise hundert Jahren überhaupt keine mehr.«

    »Aha«, war das Einzige, was ich herausbrachte. In meinem Kopf breiteten sich Gedanken aus, die so verwirrend waren, dass ich das Gefühl hatte, platzen zu müssen. Mir war noch immer nicht klar, was für einen Zusammenhang dies mit den Geschehnissen von heute Abend hatte.

    »Ähm«, gab ich schließlich von mir, »also sind diese … Menschen in meine Wohnung gekommen, um dich … Sie zu entführen oder so?«

    »Nein«, war seine reservierte Antwort. »Das, was heute Abend passiert ist, hat mit meiner Besonderheit nichts zu tun.«

    Ich wollte nachfragen, was denn sonst so ungeheuerlich war, dass es zu einer Schießerei in meiner Wohnung führen konnte.

    Doch in diesem Augenblick fiel mein Blick erneut aus dem Wagenfenster und ich sah, dass meine Heimatstadt nur noch als winziger, hell leuchtender Punkt in einem schwarzen Meer zu erkennen war. Mein Fernweh von vorhin verflüchtigte sich. Mir wurde auf einmal bewusst, dass ich hier mit einem Mann zusammen in einem Auto saß, von dem und von dessen Absichten ich keinen blassen Schimmer hatte.

    »Und wo fahren wir jetzt hin?«, fragte ich und war mir nicht ganz sicher, ob ich es wirklich wissen wollte.

    »Verxon«, antwortete er.

    »Der Metallplanet? Aber das dauert mindestens zwei Stunden in Lichtgeschwindigkeit. Warum haben wir uns nicht hingedacht? Schließlich sind wir auf der Flucht, oder?«

    »Alle Hindenkautomaten in der Umgebung deiner Wohnung werden wahrscheinlich vom Feind überwacht. Und außerdem dauert es nur eine Stunde und achtundvierzig Minuten«, berichtigte mich Master Foxx. Er saß ungerührt am Steuer. Ich versuchte meine aufs Äußerste angespannten Nerven zu beruhigen: »Er ist doch dein Kater. Er wird dir garantiert nichts tun.« Doch dass dieser Mann mal mein Haustier gewesen sein sollte, machte ihn mir nicht gerade sympathischer.

    »Ich – ich hab mich manchmal ausgezogen, während Sie in meinem Zimmer waren«, sagte ich und betrachtete ihn angewidert. »Wer, denkst du, bin ich?«, rief er, ehrlich empört. »Wenn es sich nicht vermeiden ließ und ich mit dir in einem Raum bleiben musste, habe ich immer die Augen zugemacht.«

    »Na gut.« Ich spannte meine Schultern. Allmählich kam wieder Leben in mich. »Ich will jetzt auf der Stelle klare Antworten auf alle meine Fragen: Wer sind Sie? Wieso haben Sie eineinhalb Jahre bei mir als Kater verbracht? Und was, verdammt noch mal, sollte diese Schießerei heute Abend? Sind Sie ein Schwerverbrecher, der bei mir Unterschlupf gesucht hat?«

    Mit unbeweglicher Miene steuerte Master Foxx das Auto durch die Unendlichkeit des Alls. »Ich denke, die Antworten auf deine Fragen werden nur noch mehr Fragen aufwirbeln«, antwortete er nach einer Weile. »Aber nach dem, was heute Nacht passiert ist, geht es wohl nicht anders. Du musst alles erfahren. Um eines vorwegzunehmen: Nein, ich bin kein Schwerverbrecher, ich stehe im Dienste der Wissenschaft.«

    Ich schnaubte kurz auf – das erklärte einiges.

    »Ich habe –« An dieser Stelle stockte er und er schien nicht zu wissen, wie er weitererzählen sollte. »Ich bin beauftragt worden, dich gegen allfällige Angreifer zu verteidigen«, fuhr er schließlich fort.

    Ich brauchte eine geschlagene Minute, bis ich meinen Mund wieder schließen konnte. »Was?«, würgte ich schließlich hervor.

    Master Foxx schien meine Verwirrung zu gefallen.

    »Du bist in einem Waisenhaus groß geworden, oder?«, fragte er sachlich.

    »Ja. Na und?«

    Das Auto begann zu piepsen. Master Foxx lenkte es ein wenig nach links und es verstummte wieder.

    »Die Wahrheit ist«, begann er langsam, »ich kannte deine Eltern.«

    »Unsinn«, sagte ich in unwirschem Ton, doch in mir drin begann sich ein Keim der Hoffnung zu regen – ich hatte mir immer gewünscht, jemanden kennenzulernen, der mir etwas über meine Familie sagen konnte. »Meine Eltern wissen sehr wahrscheinlich nicht einmal, dass ich noch

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