Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Frankfurt am Mord: Kriminalroman
Frankfurt am Mord: Kriminalroman
Frankfurt am Mord: Kriminalroman
eBook412 Seiten5 Stunden

Frankfurt am Mord: Kriminalroman

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Vom Bahnhofsviertel bis zum Kühkopf: Krüger & Krüger zeigen die Mainmetropole in all ihren Facetten.

Ein Toter im Rotlichtviertel: Was für Hauptkommissarin Karola Bartsch als einfacher Fall beginnt, entwickelt sich zu einem gnadenlosen Katz-und-Maus-Spiel. Verzweifelt wendet sich Karola an ihren Bruder Karsten, der als naturverbundener Ex-Bulle mit seiner Kneipe eigentlich genug Probleme am Hals hat. Die Spuren führen nicht nur mitten hinein ins kriminelle Milieu der Großstadt, sondern auch hinaus ins Grüne, wo ein maskierter Mörder sein Unwesen treibt ...
SpracheDeutsch
HerausgeberEmons Verlag
Erscheinungsdatum19. Sept. 2019
ISBN9783960415381
Frankfurt am Mord: Kriminalroman

Ähnlich wie Frankfurt am Mord

Ähnliche E-Books

Thriller für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Verwandte Kategorien

Rezensionen für Frankfurt am Mord

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Frankfurt am Mord - Uwe Krüger

    Uwe Krüger, geboren und aufgewachsen in Frankfurt am Main, studierte Zoologie, Hydrologie und Mikrobiologie an der Goethe-Universität. Lange Zeit arbeitete er bei einem weltweit agierenden Großhandel für Aquarienfische, bevor er als Marketingmanager zu einem internationalen IT-Unternehmen wechselte. In seiner Freizeit sucht er seltene Pflanzen und Tiere und Ideen für den perfekten Mord.

    Näheres über den Autor unter: www.frankfurterkrimis.de

    Jonas Torsten Krüger kam ebenfalls in der Goethe-Stadt zur Welt, studierte dort und in Marburg Germanistik, Kunstgeschichte, Musikwissenschaft und Botanik. Nach der Veröffentlichung eines Lesebuchs ökologischer Literatur wandte er sich der Belletristik zu und entlässt seit 2002 Kinder- und Jugendbücher, Fantasy- und historische Romane aus der Druckerpresse. Er lebt mit seiner Frau in Berlin.

    Mehr Infos auf www.einbuchwiekingsturm.wordpress.com

    Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

    Lust auf mehr? Laden Sie sich die »LChoice«-App runter, scannen Sie den QR-Code und bestellen Sie weitere Bücher direkt in Ihrer Buchhandlung.

    © 2019 Emons Verlag GmbH

    Alle Rechte vorbehalten

    Umschlagmotiv: Cristian Todea/Arcangel Images

    Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

    Umsetzung: Tobias Doetsch

    Lektorat: Carlos Westerkamp

    eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

    ISBN 978-3-96041-538-1

    Originalausgabe

    Unser Newsletter informiert Sie

    regelmäßig über Neues von emons:

    Kostenlos bestellen unter

    www.emons-verlag.de

    Wir widmen dieses Buch allen,

    die sich mit Sanftmut, Humor und Empathie

    gegen die Tyrannei der Dunklen Triade stellen.

    Und allen Leserinnen dieser Welt, ganz besonders

    Ira, Jutta und Fabiola.

    Es gibt kein richtiges Leben im falschen.

    Theodor W. Adorno,

    »Minima Moralia«, Aphorismus 18

    Wer sich zur Taube macht, den fressen die Falken.

    Deutsches Sprichwort

    Prolog

    Der Kühkopf schmiegt sich an das Ufer des Rheins und atmet aus: Wolken von Stechmücken, Myriaden von ihnen, schweben auf seinen Wangen. Herbstgelb brennen die Bäume und Sträucher im Dämmerlicht, frisch und sumpfig quatschen die Auen, genährt von den ersten heftigen Regengüssen nach dem Sommer. Der Kühkopf, er streckt seinen schmalen Schädel weit in das Wasser hinein. Der Fluss umarmt ihn, die kleinen Wellen kühlen ihn. Manche Menschen dachten, dass der Kühkopf ein Berg sei. Unfug. Dumme, kurzlebige Zweibeiner. Lange Zeit war er eine Halbinsel gewesen, gebildet von einer weit geschwungenen Schlaufe des Rheins. Eine rundliche, schlanke Halbinsel, die an einen Kopf erinnerte: daher sein Name. Namen geben, das konnten sie immerhin, die Menschen. Später war ihnen die Fahrt auf dem Rhein zu lang geworden, wahrscheinlich ob ihrer Kurzlebigkeit, und sie hatten eine Abkürzung ersonnen, einen Stichkanal gegraben, den Kühkopf vom restlichen Land abgeschnitten. Kopf ab, bildlich gesprochen.

    Und aus der halben Insel wurde eine ganze.

    Lautlos und langsam verschwindet die Sonne, lässt ihr farbiges Echo noch lange, sich verschattend und kräuselnd, am Himmel stehen: orangegelb, tiefrot, ernstlila, nachtschwarz.

    Das Licht versickert wie übers Ufer schäumendes Wasser im Sand. Der Kühkopf lauscht dem Herbst, lauscht der einbrechenden Nacht. Hört das hundertfache Gezwitscher der Stare, die sich zu Schwärmen zusammenfinden in den ersten Septembertagen, bis sie wie Wolken aus Federn und Fleisch am Himmel tanzen. Der Kühkopf hört zu. Lauscht dem traurigen Flöten eines Rotkehlchens, dem letzten Schrei eines Schwarzmilans, oben im fast dunklen Himmel einen Kreis schwebend. Er lauscht dem Wind, dem dröhnenden Hupen einer Rohrdommel, dem raschelnden Klatschen des Schilfrohrs.

    Zusammen mit dem vergehenden Licht verstummt das Pfeifen und Kreischen. Der Wind, der eben noch das Schilf streichelte. Stille schleicht sich heran und kommt näher. Stille, das war nicht die Abwesenheit von Klang, sondern etwas Eigenes, eine Entität der Nacht, ein lebendiges Ding. Der Kühkopf erfreut sich an ihr. Lauscht. Wundert sich, als die Dämmerruhe unterbrochen wird. Stampfende Schritte und lautes Sprechen. Zweibeiner, ja, und sie streiten sich. Ungewöhnlich. Nicht der Streit, oh nein, für den Kühkopf streiten sich Menschen nur dann nicht, wenn sie ihn allein bewandern. Aber die Zeit. Die ist ungewöhnlich. Frühe Nacht, da bleibt er sonst meist von Zweibeinern verschont. Sie nähern sich seinem Ufer. Brüllen jetzt, lauter und lauter werdend. Noch lauter …

    Ein Schlag. Ein leises Platschen.

    Und wieder Stille.

    Wie kurzlebig die Zweibeiner doch sind.

    Atemwolken aus Fliegen, Schnaken und Mücken, Myriaden von ihnen, hüllen den Kühkopf ein. Inseln können nicht lachen, aber lächeln, das schon – der herbstgraue Bart aus Schilfrohr wiegt sich spöttisch. Mondlos und kalt wird die Nacht, und die wimmelnden Chitinwesen verschwinden.

    Der Kühkopf schläft.

    1

    Erster Tag

    Kriminalhauptkommissarin Karola Bartsch wachte mit Bauchschmerzen auf: jenes Ziehen im Unterleib, das alle Frauen der Welt zu erdulden hatten. Ein guter alter Bekannter, der ihr mit Krämpfen im Bauch sagte: Nein, auch aus diesem Ei wird keine kleine Karola Bartsch, kein kleiner Mirko Fink.

    Dann halt beim nächsten Mal.

    Karola schnupperte, atmete die regenverheißende Luft, die sich durch das gekippte Fenster zwängte. Sie lauschte, blinzelte in die Dunkelheit und widerstand der Versuchung, einen Blick auf den Funkwecker zu werfen. Beobachtete lieber die im Luftzug hin- und herpendelnden Bastrollos mit aufgedruckten japanischen Lotusblüten. Unser Kompromiss, dachte Karola und musste lächeln. Wie lange hatten sie sich darüber gestritten? Karola hatte – ganz klassisch und weil es sie an ihre Oma erinnerte – Vorhänge am Fenster gewollt, Mirko fand Jalousien praktischer und moderner. Die Bastrollos mochten beide ein bisschen. Manchmal fragte sie sich, ob Kompromisse überhaupt Sinn machten. Hätte nicht einer für den anderen auf seinen Wunsch verzichten sollen?

    Egal, Hauptsache, sie hatten eine Lösung gefunden. Einen Kompromiss. Ob das ein Merkmal für eine funktionierende Beziehung sein mochte?

    Karola schnupperte noch einmal. Das frische Laken roch nach Seife und Mirko. Jedenfalls nicht nach Waschmittel. Nach Farbe? Nein, das musste aus ihrem Schlaf herübergeschwebt sein. Sie hatte von Flo geträumt, von Florian Funke, ein von den Medien gefeierter, aber leider illegal agierender Sprayer. Dessen zum Glück unbekannt gebliebene Partnerin sie selbst gewesen war. Noch jetzt lief Karola ein Schauer über den Nacken, wenn sie daran dachte, wie schnell und unrühmlich ihre Karriere als Kriminalistin zu Ende gegangen wäre, hätte man sie erwischt. Das war damals, dachte sie, auch eine Art Kompromiss gewesen: Abbitte für einen Fehler.

    Karola Bartsch seufzte lautlos. Und fixierte jetzt endlich die roten Ziffern des Weckers: sechs zu zehn. Meistens gewannen die Minuten, die waren ja auch in der Überzahl. Nur noch dreihundert Sekunden bis zum Aufstehen. Da blieb nicht mehr viel Zeit. Oder doch? Sie drehte sich auf die andere Seite, zum höhlenwarmen Körper neben ihr. Mirko Fink war wach und, ja, blinzelte ihr etwas entgegen. S-O-S? Nein. Dreimal kurz für »S«, okay, das stimmte, aber dann? Einmal kurz, das war ein »E«. Und abschließend: einmal lang, zweimal kurz, einmal lang – wenn das mal kein »X« war …

    Karola grinste, stellte sich dumm und funkte einen anatomischen Rhythmus, ein visuelles Oktogon aus acht kurzen Augenaufschlägen zurück. Das Morsezeichen für »Irrtum«.

    Mirko wechselte die Kommunikationsform. »Guten Morgen, geliebtes Karöttchen«, sagte er. Morgens war er oft ziemlich albern.

    »Morgen, Morse-Mirko«, entgegnete Karola und formte einen Kussmund.

    »Schlecht geträumt?«, fragte er, und ihr Lippenkreis platzte. Diese Frage wollte sie weder hören noch beantworten. Karola fuhr ihm mit der Hand durch seine dichten Locken, die sie immer an Merinoschafe erinnerten. »Hat Mann das gemerkt?«

    »Deiner schon!« Mirko betonte das Possessivpronomen. »Du hast geächzt und gestöhnt wie Louis de Funès nach einem fast tödlichen Zusammentreffen mit Fantomas.«

    Sie lächelte. »Ganz so lustig war’s nicht.«

    Mirko drückte seinen Ellbogen in die Matratze, stützte den Kopf auf die Handfläche. Musterte sie neugierig. Ein bisschen wie ein Bernhardiner, dachte Karola. Sein täglicher Umgang mit sensiblen Hündchen musste ja irgendwann auf ihn abfärben. Vielleicht war aber auch diese Sensibilität der Grund dafür, warum Mirko Fink als einer der erfahrensten und besten Hundestaffel-Ausbilder der hessischen Polizei galt.

    »Habt ihr denn einen neuen Fall?«, fragte er. »Ich hatte eigentlich das Gefühl, dass diese Träume dich seit ein paar Monaten seltener heimsuchen.«

    Das stimmte. Der Traum, der sie an den jungen Florian Funke gebunden hatte, jener Alp, der zu einem festen Bestandteil ihres Lebens geworden war, der war zwar noch nicht völlig verschwunden, seine Präsenz aber nur noch ein schwacher Schatten. Mit dem erfolgreichen Abschluss des Schandfleckenprojektes – hundert Graffitis, gesprüht an für die Stadt Frankfurt beschämenden Plätzen – schenkte der Schlaf ihr endlich wieder traumlose Nächte. Karola wusste, dass sie dieses gute Gefühl erstens dem Umstand verdankte, dass sich Florians Leben endlich eingerenkt hatte – schließlich lebte er seinen gestalterischen Drang mittlerweile zur Zufriedenheit seiner Professoren an der Städelschule aus. Und zweitens Mirkos Geduld. Verständnis. Vertrauen: Er hatte sie nie mit Fragen bedrängt, ihre Alptraumzeit wie eine vorübergehende Krankheit ertragen. Und Karola getragen. Für genau dieses umarmende Schweigen liebte sie ihn.

    Jetzt legte er seine Hand auf ihre Brust. Kräftig und warm.

    Sie rutschte an ihn heran, knabberte an seinem Ohrläppchen. »Mirkoschatz?«, hauchte sie. »Machst du mir den Hund?«

    Mirko antwortete mit einem Stöhnen und rückte näher. »Klar, meine Oberunterüberallkommissarin …«

    »Nein, nein Liebster. Nicht so einen kleinen spritzigen Foxterrier, sondern …«

    »Yep, alles, was du willst.«

    »Wirklich alles?«, fragte sie.

    »Ja«, flüsterte er und streichelte ihre Brustwarze.

    Sie kicherte. Natürlich war er auf etwas ganz anderes aus als sie.

    »Bitte den Bernhardiner!«, sagte Karola und kuschelte ihren monatlichen Schmerz ganz dicht an Mirkos Oberschenkel, verweilte dort für ein paar Herzschläge und sprang aus dem Bett. Als sie Mirkos enttäuschtes Gesicht sah, beugte sie sich hinab, strubbelte ihm die Wolle und grinste.

    Tapfer kroch auch er aus dem Bett. »Bernhardiner, ausgerechnet. Die Lebensretter mit ihrem um den Hals gebundenen Fässchen.«

    »Genau«, bestätigte sie und schlappte Richtung Bad.

    Mirko dagegen trottete in die Küche. Das Lebenselixier für Karola Bartsch hieß nun mal Kaffee. Und der war in der Dose. Da brauchte er an diesem Morgen gar kein Fass aufzumachen.

    ***

    Karsten ließ sich treiben. Kurz vor der Staustufe mit dem viereinhalb Meter hohen Walzenwehr nahm der begradigte, eingezwängte Fluss wieder Fahrt auf, fast so, als wollte er Anlauf nehmen, um die in sein Bett getriebene Schwelle besser überwinden zu können. Das Wasser war trübe, aber das war es fast immer, und so verdreckt wie in den siebziger Jahren war der Main schon lange nicht mehr, sondern immerhin so sauber, dass man sich gefahrlos darin erfrischen konnte. Man musste das Wasser von Papa Main ja nicht gleich zum Zähneputzen verwenden – obwohl Karsten Bartsch das auch schon gemacht hatte. Und die Kopfschmerzen am nächsten Tag waren damals wohl eher dem letzten Glas Äppler geschuldet, das wie immer eines zu viel war. Schon seltsam, dass H2O so ganz anders wirkte, wenn zwei oder drei Kohlenstoffatome zusätzlich mitspielten. Im Grunde war das Universum so einfach gestrickt wie die Farbtafeln im Baumarkt. Die Welt bestand aus rund hundert Farben: That’s it. Der Trick bestand in der Kombination dieser Elemente. Wahrscheinlich hatte Gott seine hundert Farben auf ein paar Würfel geklebt, in einen Becher gesteckt und sich sechs Tage lang köstlich über die Ergebnisse amüsiert.

    Der Fluss zerrte an ihm. Ein Stück Treibholz, das es über die Wehrstufe zu wuchten galt. Und mit dem Hochwasser im Rücken war das nicht schwer: Die ganze letzte Augustwoche hatte Wetter-Petrus seine Kübel ausgekippt, die kleinen Bäche aus Spessart und Fichtelgebirge in Wildwasser verwandelt und so den trägen Main abgefüllt und angeschoben, dass man schon froh sein konnte, wenn die Uferwege trocken blieben.

    Karsten stieß die Luft aus und schwamm Richtung Wildnis, vierhundert Meter Dschungel mitten in der Stadt, ausschließlich erreichbar mit Boot oder Badehose. Die Halbinsel war einer jener vergessenen Orte, die sich nur noch selten in Großstädten finden ließen: ein weißer Fleck auf Frankfurts Stadtplan. Ein Unort. Nicht einsehbar, nicht bewohnt, nicht für die Öffentlichkeit. Das Treiben und Wirken der Natur an diesem Ort wurde von den Stadtplanern toleriert, weniger aus Einsicht oder Naturschutzgründen, sondern weil das Stadtsäckel nicht ausreichend gefüllt war für einen fachgerechten Rückschnitt dieses naturnahen Auenwaldes zwischen Griesheim und Schwanheim.

    Karsten Bartsch war froh darüber. Genoss das Privileg, sich in sommerlicher Hektik eine kleine Auszeit auf dem zu gönnen, was er »seine« Insel nannte. Robinson mit Rückfahrticket, Freiheit für ein rares Stündchen.

    Er tauchte unter einem ins Wasser hängenden Vorhang aus silbernen Weidenblättern hindurch, ertastete das Ufer und kletterte durch eine Lücke des aus uralten Sandsteinblöcken gebauten Inselfundamentes an Land. Unter dem Schattenhalbkreis der herabhängenden Äste wucherte die Vegetation weniger dicht als auf der Südseite der Insel, rings um den mächtigen Baumstamm hatten die Hochwasser vergangener Jahrzehnte die Kieselsteine des Mutterbettes freigelegt. Karsten wusste aus langer genießerischer Erfahrung, dass hier genau zu dieser Tageszeit ein Spot Nachmittagssonne durch die Lücke im Baumdach fiel und den Boden wärmte. Er hockte sich hin, legte die langen Arme wie einen Ring um die angezogenen Knie und starrte durch die Blätter hindurch auf das lehmbraune Wasser des Mains.

    Wenn der Wind die Backen dick machte, funkelten die Wellen im Nachmittagslicht wie Rubine zwischen dem Weidenvorhang. Heute hatte der Fluss dagegen hochwasserfestes Rouge aufgelegt. Bartsch musste an seinen Lieblingssatz aus der Odyssee denken: »Segelnd auf weindunklem Meer hin zu Menschen anderer Sprache.« Nicht, dass er Homer gelesen hätte, abgesehen von der Reader’s-Digest-Version der »Sagen des klassischen Altertums« vom alten Schwab. Nein, Bartsch kannte das Zitat vom Eisernen Steg her, der beliebten Frankfurter Brücke über den Main. Dort hatte in den Neunzigern der Mühlheimer Künstler Hagen Bonifer diesen Satz hingebildhauert – in griechischen Buchstaben. Das hatte Karsten damals genervt, bis er die Übersetzung raushatte: Segelnd auf weindunklem Meer hin zu Menschen anderer Sprache. Als Ebbelwoi-Trinker wurde das sofort zu seinem Lieblingszitat. Und dem einzigen, das er kannte von Homer. Jedenfalls passte der Spruch ganz wunderbar als literarischer Brückenschlag, wenn die Spaziergänger über den Eisernen Steg von Hibbdebach nach Dribbdebach flanierten. Oder – wohl auch näher an der eigentlichen künstlerischen Intention – als weltoffener Gruß an die Touristen aus aller Herren und Frauen Länder. Aufpolierung des Images: Bankfurt, das Mainhatten in Hessen, hatte lange genug unter einem schlechten Ruf gelitten.

    Karsten blinzelte im vormittäglichen Sonnenspot. Genau so schimmerte die dunkle Brühe des Flusses heute: wie dünner Rotwein. Und genau so, wie Odysseus sich an fremden Ufern gefühlt haben musste, so fühlte sich der Ex-Drogenfahnder und ehemalige verdeckte Ermittler Karsten Bartsch. Hier auf dieser versteckten Insel im Großstadtdschungel.

    Er nickte dem funkelnden Schwanken des Wassers zu und schloss die Augen, lauschte den sich abwechselnden Geräuschen: links das Grollen der stürzenden Endloskaskade am Wehr, weit weg die startenden Flugzeuge im Süden Frankfurts. Am gegenüberliegenden Ufer der blubbernde Motor einer Möchtegern-Yacht der Griesheimer Wassersportfreunde. Und ganz nah, ganz leise, das Klatschen eines Fisches im Wasser. Ein Springen und Plätschern. Doch kein Fisch? Dann Schmatzen, Schnalzen, Schnurren. Ein vorwitziger Kormoran? Karsten unterdrückte den Impuls, die Augen zu öffnen. Mit den Ohren wollte er das Wesen identifizieren – so wie es sich für einen Orni gehörte. Karsten war schließlich nicht nur ehemaliger Bulle, sondern auch Vogelliebhaber seit der Kindheit, seit seinem ersten Wellensittich namens Trolli. Und ornithologische Ohren musste man stets schulen, schließlich sah man nur selten die kleinen Singvögel im Gebüsch. Des Birders Lauscher waren seine wichtigsten Werkzeuge, und wie jedes Werkzeug galt es, sie regelmäßig zu schärfen. Am lebenden Objekt natürlich. Also, welcher gottverdammte Vogel war das? Karsten hörte ein nasales Trompeten, ein Knarzen und Muhen, ein anschwellendes … Wiehern?

    Gänse, dachte er. Irgendwelche blöden Gänse.

    Dann wieder ganz nah: ein Knirschen, Hopsen, Watscheln. Das Tier schien an Land gesprungen zu sein. Doch kein Vogel? Vielleicht ja ein Nutria, das Wasserschwein am Main? Oder gar ein Biber? Was auch immer, das Viech kam direkt auf ihn zu. Unmöglich konnte Bartsch die Augen jetzt noch länger verschließen.

    Er machte sie auf und blickte in das Gesicht von Zorro. Dem Zorro unter den Tieren. Keine zwei Meter vor ihm stand ein Pinguin und musterte ihn mit einem unübersehbaren Grinsen zwischen dem Schnabel.

    Es schien so, als hätte Robinson Bartsch seinen Freitag gefunden.

    2

    Franz Komtschewski rieb sich die wenigen verbliebenen Haarstängel auf dem rundlichen Schädel. Normalerweise hatte er nichts gegen Leichen, schließlich bezahlten sie seine Miete, waren sein täglich Brot. Aber ausgerechnet hier? Warum wurden die Toten nicht auch mal im Bankenviertel entsorgt oder wenigstens im Nordend? Bis auf etwas Blitzgewitter und Medienrummel wären die Auswirkungen dort eher gering. Passierte so etwas aber hier in einem der sozialen Brennpunkte, dann hieß es gleich: »Musste ja so kommen.« Und zukünftige Investitionen wurden wieder in »sicheren« Vierteln getätigt.

    Komtschewski taxierte das, was er vom Toten sah. Viel war’s nicht. Ja, ganz eindeutig ein Rückschlag in der öffentlichen Wahrnehmung des Viertels. Seines Viertels, des Bahnhof-»Quartiers«, wie man jetzt sagte. Ein Kapitalverbrechen gerade in dieser Phase urbaner Entwicklung gab knisternden Brennstoff für die Lobbyisten, die das ganze Gebiet inklusive Bewohner am liebsten abreißen, platt planieren und mit modernen Eigentumswohnungen à la Osthafen aufwerten wollten. Schon klar, was die Spekulanten dabei unter »Aufwertung« verstanden.

    »Chef, sollen wir anfangen?«, holte ihn ein junger Mann aus seinen Gedanken, der plötzlich wie aus dem Pflaster gewachsen neben ihm stand und eine Handkamera vor sich hertrug.

    Komtschewski quälte sich ein Lächeln ab. »Jaja, aber erst mal nur sichern und dokumentieren. Mit dem Toten warten wir noch, bis sich die Damen und Herren aus dem Präsidium herbemüht haben. Sonst haben wir nachher wieder alles falsch gemacht.«

    »Jawoll«, antwortete der Kerl etwas zu zackig. Komtschewski konnte sich nicht an den Namen erinnern. Irgendwas Nordisches. Ein Wikingername, der zu diesem blonden Typen sogar passte. Thor? Nein, verflucht. Wurde er schon senil und vergesslich? »Aber bitte«, sagte er, »sperr zuerst den Fundort ab! Hier rennen ja Hinz und Kunz rum.«

    Sein neuer Mitarbeiter mit Kamera und nordländisch klingendem Namen – vielleicht Sven? – nickte. Zumindest sah sein Kopfwackeln für Franz Komtschewski, den obersten Leiter der kriminalistischen Spurensicherung in Frankfurt, so aus.

    Nur Fundort oder auch Tatort?, fragte er sich. Normalerweise folgte er stur seiner Routine, beschränkte sich aufs Handwerk und überließ die eigentliche Ermittlung den Frauen und Männern der Mordkommission. Normalerweise. Aber hier ging es eben um sein Viertel.

    Missmutig starrte er auf die mit den Sohlen zum Frankfurter Morgenhimmel zeigenden Wanderschuhe des Toten. Auf die braunen Socken und die helle Hautfarbe des Unterbeins. Mehr gab’s nicht zu sehen, der Rest des Torsos versteckte sich unter Wasser. Reizend, ganz reizend. In seiner Verdopplung durch das Spiegelbild fast irreal. Oder surreal. Oder subreal.

    Franz Komtschewski hasste Spiegel. Und dieses spezielle Spiegelbild ohnehin: ein Kleeblatt aus Männerbeinen. Den restlichen Körper verbarg eine Blechtonne, die so verbeult aussah, als würde sie schon seit der Gründung der Stadt hier herumstehen.

    »Hmmm«, brummte er.

    Bis zum Rand war die Tonne mit Wasser gefüllt, etwa einen Meter über ihr endete ein Regenrohr. Wozu brauchten die denn im Rotlichtviertel Regenwasser? In welchem Film spielte er hier eigentlich mit? Er kniete sich hin, legte die zur Faust geformten Finger auf den Boden direkt neben der Tonne. Die Erde war feucht, das Wasser musste übergelaufen sein, als der Körper hineingelegt worden war. Oder hineingefallen war? Komtschewski zuckte mit den Schultern. Was, wenn der Mann aus Versehen … einfach besoffen, den Kopf in das Wasser stecken, um wieder nüchtern zu werden, und zack … Vielleicht ist dem auch die Brille von der Fuselnase ins Wasser gerutscht. Beim Fischen in der Tonne verliert der das Gleichgewicht und kopfüber, plumps, in die Röhre gerutscht. So was war ja schon oft genug vorgekommen. Dann wär’s ein Unfall gewesen.

    Quatsch. Wahrscheinlichkeit ging anders.

    Komtschewski stand wieder auf und reckte sich, ignorierte den bedenklich knackenden Rücken. Wer wohl die Polizei gerufen hatte? Und hatte eigentlich schon jemand den Tod des Mannes offiziell festgestellt? Was – zum Henker – wenn der Typ noch gelebt hatte, als die ersten Schupos hier eintrafen?

    Komtschewski unterdrückte das starke Bedürfnis, den Mann sofort und unter Missachtung sämtlicher kriminaltechnischer Maßnahmen aus seinem nassen runden Blechsarg zu zerren. Stattdessen beugte er sich über die Tonne und legte seinen handschuhbeschützten Zeige- und Mittelfinger auf die linke Wade, oberhalb des Knöchels. Fühlte natürlich keinen Puls, fühlte nur nasse, kalte Haut. Und ein Ziehen im Bauch.

    Eine schwere Hand legte sich auf seinen Rücken. Komtschewski keuchte erschrocken und fuhr herum. »Mann, Günter. Musst du dich so anschleichen?«

    Günter Lambrecht, Chef der Frankfurter Gerichtsmedizin, stand da wie ein vergessener Osterhase und zwinkerte ihm vertraulich zu. »Bist doch sonst nicht so schreckhaft«, meinte er und klopfte Komtschewski beruhigend auf die Schulter. »Hast du was ausgefressen?«

    »Von wegen. Und was machst du hier? Kannst es nicht erwarten, mal wieder an ’ner Leiche herumzuschnippeln? Jetzt kommen die Corpi nicht zu dir, sondern du zu ihnen?«

    »I wo. Karola hat mich informiert – morgens eine App und der Tag ist dein Depp! Da ich seit ein paar Wochen mit der Bahn zur Arbeit fahre, liegt das hier praktisch auf dem Wege. Solltest du auch machen.«

    »Was denn?«, knurrte Komtschewski, der sich immer noch über seine Schreckhaftigkeit ärgerte. »App-Deppen? Der Spruch mit ›Joint‹ und ›Freund‹ ist mir lieber.«

    »Mit der Bahn fahren. Schneller und entspannter. Übrigens wird dein Tatort gerade verunreinigt …«

    Komtschewski folgte mit den Augen Lambrechts ausgestrecktem Zeigefinger. Fühlte sich plötzlich sehr alt und ausgelaugt. Manchmal schaffte ihn das Leben aber so was von: Ein Dutzend Japaner, vielleicht waren’s auch Chinesen, stürmte gerade den Hinterhof des Bordells. Einzelne Satzfetzen verstand er sogar auf diese Entfernung: »This is a typical redhouse in Frankfurt downtown« und »The source of sex and sin«. Bevor noch einer der Schutzpolizisten, Lambrecht, Komtschewski oder der Kameraträger reagieren konnten, tapste einer dieser Touristen dicht an die missbrauchte Regentonne heran, betrachtete die dort steckenden Beine und sagte mit hoher Fistelstimme: »Ah, you ale doing a new ›Tatolt‹ movie hele. This is vely intelesting. Ale you an actol? May I take a pictule with you?«

    Komtschewski spitzte die Lippen wie ein junger Kuckuck. Sollte er lachen? Sollte er weinen? Nein, einfach fluchen: »No, never ever! Verpiss you and make you from the Acker! Ich glaub’s ja nicht. Warum ist dieser Fundort immer noch nicht abgesichert? Wo sind wir denn hier? Hey, schrecklicher Sven, oder wie immer du heißt, mach dich gefälligst mal nützlich! Zum Teufel und Beelzebub! Wie soll ich … Ah, na endlich. Da kommt ja auch das Dreamteam von der Moko. Morgen, Fräulein Ahrens, Morgen, Herr Holzmann! Und, wo bleibt die Chefin?«

    ***

    Karola Bartsch trat in die Pedale. Die Wolken hatten sich verzogen, die Sonne spielte wieder mit Lust Spätsommer. Konrad Gisselberg – Faktotum kurz vor der Rente, der meist Telefondienst und Bereitschaft für die dritte Mordkommission übernahm – hatte den Anruf kurz vor neun durchgestellt: Leichenfund im Rotlichtviertel. Das roch nach Schlagzeilen in der Boulevardpresse und viel Stress.

    Karola sauste auf zwei Rädern durch die Stadt. Vom Präsidium aus fuhr sie Richtung Zentrum, durchquerte den winzigen Holzhausenpark mit seinem barocken Wasserschlösschen, lenkte ihren Chromhengst in den Oeder Weg und hügelabwärts bis zum Eschenheimer Tor. Sie querte die Kreuzung, tauchte in das herrlich dichte Grün der Bockenheimer Anlage ein, strampelte vorbei am Hilton samt künstlichem Teich, an dem manchmal Graureiher wie erstarrte Kunstobjekte nach Goldfischen zielten. In den Sechzigern war das hier der städtische, teilweise sogar nationale Treffpunkt der Drogenszene gewesen. Heute, im Zeitalter von Aids, dem gezähmten Monster, hatte sich das Drogenproblem verlagert, eher ins Private hinein. Obwohl gerade ihr Ziel, das Bahnhofsviertel, nach wie vor im kriminalsoziologischen Jargon als »sensibler Ort« eingestuft wurde. Wie wohl so ziemlich jedes Großstadt-Bahnhofsviertel dieser Erde.

    Leicht keuchend erreichte Karola den Opernplatz mit seinem kreisrunden Lucae-Brunnen, einem Springbrunnen wie ein Degengriff mit Glocke, wobei der Strahl aus Wasser dem Stahl der Klinge entsprach. Hundertzwanzig Tonnen Reinersreuther edelgelber Granit. Frankfurt, die Bankenstadt der Superlative eben.

    Weiter. Slalom um Touristen, Einkaufsbummler und Bänker. Fahrradfahrer wurden von den Behörden in der Fußgängerzone nicht gern gesehen, aber in den letzten Jahren meist toleriert. So nutzte auch Karola Zeil und Freßgass – die Achse des Wohlstands, die beiden beliebtesten Einkaufsstraßen der Mainstadt – für ihre Nord-Süd-Passage durch die Stadt.

    Und außerdem, dachte sie lächelnd, war sie ja schließlich dienstlich unterwegs. Blaulicht auf dem Fahrrad, das hätte schon was.

    Auf Florian Funkes Rad übrigens. Ein Geschenk an Karola und seine Art, Danke zu sagen, vor allem aber: »Es ist gut so, wie es ist: Unser gemeinsamer Alptraum ist zu Ende.« Das abgeschlossene Schandfleckenprojekt setzte Punkt und Ausrufezeichen hinter ihr altes Leben – das neue wartete bereits.

    Auf sie beide.

    Fliegend, fast beschwingt, radelte Karola Bartsch durch die Frankfurter Straßen. Genoss den Moment, die Fahrt auf dem Drahtesel, den schönen Tag Anfang September. Passierte ihr selten genug. Viel öfter rutschte ihre waagschalige Balance zwischen Work und Life dauerhaft auf die Seite der Arbeit. Eigentlich seit sie zur damals jüngsten Leiterin der Kriminalinspektion 03-10 ernannt worden war. Oder doch schon vorher, als sie auf den Spuren ihres großen Bruders wandelte und die Ausbildung bei der Polizei begann?

    Egal.

    Karola musste scharf bremsen, das Hinterrad rutschte rechts an ihr vorbei, ein halber Dreher und nur knapp konnte sie den Sturz auf das Frankfurter Pflaster verhindern. Sie sprang vom Sattel. Der Typ war plötzlich und ohne vom Smartphone aufzublicken aus dem Schatten des Schiller-Denkmals in der Taunusanlage getreten. Kopfschüttelnd schaute er Karola an und hastete weiter, die Augen schon wieder am Handy klebend.

    Der grün angelaufene Bronze-Schiller von 1864 blickte stoisch-heroisch in die Ferne.

    Arschlöcher, dachte die Kommissarin. Beide.

    Und sagte gleich drauf Sorry, weil die Rechtslage eindeutig war: Sie durfte hier nicht fahren, er jedoch hatte alles Recht der Welt, sich seine Whatsapp-Nachrichten oder die neusten Internet-Meme auf dem Weg zur Arbeit anzusehen. Karola schüttelte den Kopf. Über sich selbst und die Welt.

    Schiller stand immer noch da. Auf den wuchtigen Sandsteinsockel hatte jemand ein Graffiti gesprüht, das einen auf den Kopf gestellten Dichterfürsten zeigte mit der Unterschrift »put this clown … upside down«. Karola grinste und gab sich grünes Licht. Hievte sich zurück in den Sattel und fuhr weiter – die Finger jetzt sicherheitshalber noch enger an der Handbremse –, bis sie endlich die Kaiserstraße erreichte. Wahrlich ein nobler Name für das Puffzimmer der Region, das Tor zum Rotlichtviertel. Die Politiker wurden nicht müde zu betonen, dass es im Bahnhofsquartier im Vergleich zu früher viel gesitteter zuging. »Geregelter Verkehr«, witzelten ein paar Mandatsträger. Sogar Führungen für

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1