Die Wahrhaftigkeit des großen Betrugs
Von Günter Scholz
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Nach seinem im letzten Jahr bei Lehmanns media erschienenen Erstling „Anleitung zur vergeblichen Gottessuche“ bietet Günter Scholz mit seinem neuen Buch ein weiteres provokantes Lesevergnügen zum Thema: wer bin ich, wer sind wir?
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Buchvorschau
Die Wahrhaftigkeit des großen Betrugs - Günter Scholz
Die Wahrhaftigkeit
des großen Betruges
Günter Scholz
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet abrufbar unter www.dnb.de
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© Lehmanns Media GmbH, Berlin 2019
Helmholtzstr. 2-9
10587 Berlin
Umschlag: Bernhard Bönisch
Satz & Layout: LATEX(Zapf Palatino) Benjamin Zuckschwerdt, Berlin
Druck und Bindung: Totem ∙ Inowrocław ∙ Polen
ISBN 978-3-96543-035-8 www.lehmanns.de
Ich bin klein, mein Herz ist rein
... soll niemand drin wohnen als Jesus allein! Kann ein von der kirchentreuen Mutter eingeübtes Kindergebet anheimelnder sein? Kaum, vor allem wenn man die Situation sieht, in die hinein es gesprochen wird – je flehentlicher, umso besser, je inbrünstiger, umso wirkungsvoller. 1945, der Krieg ist vorüber, aber das Elend geht jetzt erst richtig los. Wer kann den vermissten Vater zurückbringen – „vermisst" als offizieller, als aktenkundiger Status des ehemaligen Soldaten und gleichzeitig auch die Gemütsregung von Frau und fünfjährigem Sohn. Selbstverständlich nur der liebe Gott! Wer denn sonst? Das Rote Kreuz etwa? Das hatte auf Stalin keinen Einfluss – der liebe Gott schon, zumindest vielleicht und ein bisschen. Die Nachbarin betete auch, genauso flehentlich, aber sie redete drum herum, kam mit der Sprache nicht so richtig heraus, war es doch für den lieben Gott kaum möglich, gegen seine Prinzipien zu verstoßen: Hier sollte er den Ehemann möglichst nicht zurückholen, also zumindest wenn’s eben ging, denn der neue Freund, der war toll im Bett und konnte Zigaretten besorgen! Nun, und da sind wir ja gleich bei einer besonderen Eigenschaft des lieben Gottes: ER macht doch, was er will. Mein Vater kam nicht zurück, der Mann der Nachbarin schon und mitten hinein in ein (Ehe-)Drama, das er selbst, beziehungsweise der liebe Gott, dem es in seiner Allmacht gefallen hatte ihn nach Hause zu schicken, ausgelöst hatte.
Gottes Wege sind eben wunderbar! Und da tritt ein weiterer Wesenszug des Gottes zutage, von dem irgendwie immer die Rede ist, wenn es um den Allmächtigen geht: Wunder – entweder tut er sie oder sie sind, eben als wunderbar, eine Eigenschaft von ihm selbst. (Bitte nicht verwechseln mit wunderlich, was eine Eigenschaft alter Damen ist – manchmal auch als Demenz bezeichnet. Diese sind allerdings häufig gleichzeitig fromm, womit auch hier die Verbindung wieder hergestellt ist.) Anders gesagt: Der Mensch kann Gottes Handeln, sei es nun im Großen als Lenker der Geschichte, sei es im Kleinen, gewissermaßen für den Hausgebrauch, nicht verstehen. „Höher als alle Vernunft" beten die Gläubigen konsequenterweise im Gottesdienst, nachdem sie selbige Vernunft an der Garderobe als hier nicht nur überflüssig, sondern auch als lästig, ja sogar als hinderlich abgegeben haben. Jetzt lassen sich die ganzen Wundergeschichten viel leichter glaubend begreifen, ist doch der eigene Intellekt selbst wunderlich, Verzeihung: wunderbar geworden – ein besonderer Gnadenakt des lieben Gottes, der das Wunder des Glaubens möglich macht.
Doch zurück zu dem kleinen Jungen, der angelernt worden war, wie er Kontakt zum lieben Gott aufzunehmen hatte, oder: der fromm gemacht worden war, bevor er danach gefragt hatte, dem es als so selbstverständlich wie Essen und Trinken und andere Elementarfunktionen des Lebens beigebracht worden war. Da war die Situation am abendlichen Bett: Diese Schlafstatt bestand aus drei durchgelegenen Matratzenteilen, die in Ermangelung eines Bettgestells in einer Zimmerecke direkt auf den Holzboden gelegt worden waren und so einen gemütlichen Winkel ausmachten. Wenn dann die Mutter an diesem Bett saß und vorlas, dann wurde es richtig kuschelig und das Kind kroch unter die Decke, drückte sich in das Kissen und folgte den Reitern über die Weite der Prärie und den Piraten durch die tosende See. Das Besondere aber an der Situation war der Kontrast zwischen den gehörten und in der Phantasie erlebten oft blutigen, bedrohlichen Abenteuern und der Geborgenheit im kuscheligen Bett, beschützt und bewacht von der davor lesenden Mutter, deren Geschichten das Gruseln lehrten und die doch gleichzeitig sicheren Schutz bot.
War dann der Fantasieausflug in die weite Welt zu Ende, diese gefährliche Erde, wo der Herr dieser Welt dem lieben Gott durchaus Konkurrenz macht und man darum sehr auf der Hut sein muss, von Gottes Pfaden nicht abweichen darf, denn dort im Abseits lauert überall das Böse; waren dann die Bücher mit ihren Geschichten, all das schön Schauerliche, wieder in einer Kiste verpackt und verschlossen – dann wurde gebetet. Und wie das jetzt passte, sich genau in diese Situation hineinfügte: Zuerst kam die Beschwörung des eigenen reinen Herzens, in dem, gewissermaßen als Untermieter, eine liebreizende und gütige Gestalt wohnt, die kleine Kinder besonders liebt und sie im Auftrage des Vaters, des allmächtigen lieben Gottes, bewacht und beschützt. Nach diesem eher etwas allgemein gehaltenen Gebetsauftakt folgte der persönliche Teil des bittenden Anrufes an die Allmacht und Güte der Gottheit: „Lieber Gott, mach doch bitte, dass … Bei diesen Bitten musste jetzt der liebe Gott höchst persönlich entscheiden, ob er den Wünschen mithilfe seiner Allmacht nachkam – oder eben nicht. Zu diesem Zweck musste er seine Allwissenheit bemühen, mit der er dann herausfand, ob die Erfüllung für den Bittenden auch wirklich in Anbetracht zukünftiger Umstände, die der Bittende selbst natürlich nicht wissen konnte, tatsächlich sinnvoll, also nützlich war. Dann erst wurde entschieden: Der Ehemann der Nachbarin kam zurück, was sich ihrer nur menschlichen Vernunft nicht erschloss, mein Vater blieb im Status des Vermisstseins, bis die weltlichen Behörden ein Einsehen hatten und ihn für gefallen erklärten. Die höhere Vernunft des lieben Gottes, die aus seiner Allwissenheit resultierte, hatte es so entschieden. „Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen, der Name des Herrn sei gelobt!
Basta! So ist die Welt eben! Doch was unterscheidet denn eine Welt – die durch Zufall entstanden ist und die sich in einer Evolution entwickelt hat – von einer göttlichen Schöpfung, geplant vom Allmächtigen, der sich allerdings partout nicht in die Karten sehen lassen will? Wie sieht das aus der Perspektive des Geschöpfes, des (vorläufigen) Endpunktes der Evolution aus? Gibt es da einen Unterschied? Ja, es gibt ihn! Der Mensch kann versuchen, den Ablauf der (Welt-)Geschichte zu seinen Gunsten zu beeinflussen, gewissermaßen Gott Konkurrenz zu machen – und sich damit gegen den Allmächtigen, seinen Herrn, in Hochmut vergehen, also dem Herrn dieser Welt dienen; er kann aber auch in Demut den Allmächtigen bitten, alles zum Guten zu wenden. Dazu hat er nämlich beste Möglichkeiten: Er kann zu dem offiziellen Vertreter des Gottes hier auf Erden, gewissermaßen dem Vizegott, direkt und sogar in menschlicher Sprache reden und seine Bitten vortragen; oder er kann direkt mit jemandem aus dem Hofstaat des Allmächtigen reden. (Es gibt ausführliche Literatur darüber, wer aus der direkten Umgebung Gottes für was zuständig ist, also Verzeichnisse von Gotteslobbyisten, manchmal auch Heilige genannt.) Dafür ist nur eines notwendig: Man muss in dem richtigen (Interessen-)Verein Mitglied sein, seinen monatlichen Beitrag dort pünktlich abliefern und die Versammlungen regelmäßig besuchen. Hier ist also etwas zu machen! Man muss es nur richtig anstellen.
Doch nun zurück zu dem kleinen Jungen, der sich auf seinen drei Matratzenteilen wohlig kuschelt und wilden Abenteuern lauscht, die von einer weiten und bösen Welt erzählen. Dabei ist er in der sicheren Obhut der Mutter (den Vater hat ihm der liebe Gott in seinem unergründlichen Ratschluss vorenthalten) und in der Geborgenheit eben dieses lieben Gottes. Ja, so war das: Sicherheit lieferte die (leibliche) Mutter, Geborgenheit der (göttliche) „Vater unser …"
Aber die Matratze hatte drei Teile! Und damit fing die Bosheit des Herren dieser Welt an. Woher sollte das Kind wissen, was Sünde ist, beteuerte es doch jeden Abend, dass sein Herz rein sei. Der Junge fing gerade erst an, in der Schule lesen zu lernen, woher sollte er etwas von der raffinierten Erfindung des Kirchenvaters Augustinus wissen, von der Erbsünde, der sich damit nicht nur als kluger Vater der Kirche, sondern auch als geistiger Sklavenhalter der geistlichen Untertanen erwiesen hatte? Von dieser Theorie des Glaubens wusste der Junge noch nichts, doch mit dem Älterwerden geht’s irgendwann los! (Kant hat schon Recht, wenn er seine „Kritik der reinen Vernunft beginnen lässt: „Dass alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anfange, daran ist gar kein Zweifel
.) Nichts macht erfinderischer als der Drang zur begehrten Sünde, auch die Not kann da nicht mithalten. Und so ein Spalt zwischen zwei Matratzenteilen, auch noch im Bett, das so langsam zum Sündenpfuhl wird … Jedenfalls mit der kantischen praktischen Erfahrung fing es an, die Theorie der Sünde folgte. Sie, die theologische Theorie, machte aus dem atemraubenden Erlebnis eine Sünde, die von dem jetzt gar nicht mehr so lieben Gott strengstens bestraft wird, Hölle und so.
Aber nicht nur Gott war jetzt gar nicht mehr so lieb, auch das Herz des Kindes war von nun an alles andere als rein. Nein, der Herr dieser Welt, oder einfacher gesagt der Teufel, hatte Besitz von ihm ergriffen. Doch warum war das so, wo kam denn dieser Gott her, und wo dieser seine Gläubigen bekämpfende Bösewicht? Und wie gelang es ihm, ein kindliches Herz, man ist versucht zu sagen: ein kindliches Gemüt, so leicht und ohne Umschweife zu erobern? Die Antwort ist verblüffend einfach: Es war nicht, wie die Mutter behauptet hatte, der vom Himmel auf die Erde gefallene Engel, der sich gegen Gott aufgelehnt hatte. Nein, der Böse, auch das Böse genannt, kam aus dem Inneren des Kindes selbst, aus genau der (kindlichen) Frömmigkeit, die von der dem Glauben ergebenen Mutter eingepflanzt worden war. Kleine Kinder übernehmen alles, was die Mutter (oder eine andere Respektperson) ernst und wichtig berichtet. Doch dann tritt plötzlich das Hormon Testosteron in diese heile Lebenswelt, ein fantastisches Hormon, ohne das es das (menschliche) Leben nicht gäbe, und vor allem, ohne das das Leben auch nicht lebenswert wäre. Nein, das Böse entsprang nicht einem gefallenen Engel, dem Herrn dieser Welt – es wurde geboren aus der naiven Frömmigkeit des Kindes selbst, eingepflanzt durch die fürsorgliche Mutter, die ihrer Pflicht gegenüber Gott nachgekommen war.
Diese Frömmigkeit machte eine natürliche, eine lebensnotwendige Entwicklung zu einer Sünde, zu einem Vergehen gegenüber einem Gott, der sich als „lieb eingeschlichen hatte, dann aber, einmal Fuß gefasst, wie ein bös-hinterhältiger Stief-„Vater unser …
anfing zu drohen und zu strafen. Diesen konnte das Kind jetzt aber nicht mehr so ohne weiteres wieder loswerden, den schlimmen lieben Gott, der als Strafandrohung, als ein giftiger Dorn in seinem Herzen stach: So beginnt die psychische Versklavung. Denn: Die Sünde gehört zur Frömmigkeit wie die Wellen zum Meer. Ohne Wasser keine Wellen, ohne Frömmigkeit keine Sünde. Und genau diese ist vielen, ja, den meisten Menschen in den modernen Industrienationen verloren gegangen, diese herrliche Sünde, weil ihnen die sie erst möglich machende Frömmigkeit abhanden gekommen ist. Sie ist nicht denkend überwunden, nicht im intellektuellen Streit, im Kampf besiegt und vertrieben worden, nein, sie ist nur abhanden gekommen.
Doch diesen armen Leuten entgeht etwas, entscheidendes Lustpotenzial ist ihnen versagt. Betrachten wir es von der praktischen Seite: Ein homosexuell-pädophiler Mann vergeht sich an einem Nachbarjungen. (Wir wählen hier aus Sprachfaulheit das völlig fantasie- und anspruchslose Verbum „vergehen", obwohl es den Tatbestand nur unzureichend beschreibt und entschuldigen uns dafür, setzen dagegen wieder einmal auf die Vorstellungskraft des Lesers.) Die dabei empfundene sexuelle Lust wird zweifelsohne dadurch gesteigert, dass es sich hier um etwas gesetzlich Verbotenes handelt, ihm also Strafe droht – aber es ist keine Todsünde, noch nicht einmal eine stinknormale Sünde, nur eine banale Straftat.
Wie anders dagegen bei dem Priester, der dieselben Handlungen an sich und seinem Lustobjekt fingert: der begeht eine