Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Passerelle: Veras Aufbruch
Passerelle: Veras Aufbruch
Passerelle: Veras Aufbruch
eBook345 Seiten4 Stunden

Passerelle: Veras Aufbruch

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Ein Wanderer macht einen speziellen Fund. Es handelt sich um die Geschichte einer Frau, die sich in der Lebensmitte zu finden glaubt und nicht nur Bilanz ziehen will, sondern die Suche neuer Wege erwägt.

Wir folgen in dieser Geschichte den Spuren von Vera, die uns in aller Offenheit Teile ihres Lebens anvertraut. Suchend, vor allem durch spannende Begegnungen, lernt sie, sich dem Leben neu zu öffnen und ein Gefühl dafür zu entwickeln, was Leben im natürlichen Seins - Zustand bedeutet.
Als Kind einer durchschnittlichen Familie lässt sie uns teilhaben an ihrer Gedankenwelt und ihrer Philosophie, an ihren Reisen in verschiedene Regionen und Kulturen und an Begegnungen mit Menschen aus verschiedenen Schichten, die manchmal - wie sie selbst - vor den komplexen Seiten des Lebens und des Verstehens zu kapitulieren drohen.
Sie beschreibt Situationen, die sie an sich selber zweifeln lassen, aber bewahrt immer die Hoffnung, irgendwann einmal den ersehnten Schritt nach vorne zu machen.
Sie stößt in ihrer Gedanken- und Erlebniswelt wiederholt an die Grenzen zwischen Realität und Fiktion und zwischen Wissenschaft und Intuition. Dabei wird sie gewahr, dass das Leben weit über rationales Denken und Handeln hinausgeht.
Zum Schluss wird klar: Kommen wir zurück zu unserer Wesensnatur, offenbart sich die Multidimensionalität des Lebens wie von selbst. Es ist nicht ein Abheben, sondern im Gegenteil ein Zu-sich-selber-kommen, das die Tore öffnet.
SpracheDeutsch
HerausgeberVerlag Kern
Erscheinungsdatum3. Juni 2019
ISBN9783957162908
Passerelle: Veras Aufbruch

Ähnlich wie Passerelle

Ähnliche E-Books

Allgemeine Belletristik für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Passerelle

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Passerelle - Paul Martin Kesselring

    Bibliografische Informationen der Deutschen Bibliothek:

    Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte Dateien sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

    Impressum:

    © Verlag Kern GmbH, Ilmenau

    © Inhaltliche Rechte beim Autor

    1. Auflage, Mai 2019

    Autor: Paul Martin Kesselring

    Titelmotiv: Adobe Stock | © Sondem

    Umschlag/Layout/Satz: Brigitte Winkler, www.winkler-layout.de

    Lektorat: Dorothea von der Höh, www.lektorat-vonderhoeh.de

    Sprache: deutsch

    E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2019

    ISBN: 978-3-95716-271-7

    ISBN E-Book: 978-3-95716-290-8

    www.verlag-kern.de

    Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Nachdruck, Übersetzung, Entnahme von Abbildungen, Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege, Speicherung in DV-Systemen oder auf elektronischen Datenträgern sowie die Bereitstellung der Inhalte im Internet oder anderen Kommunikationsträgern ist ohne vorherige schriftliche Genehmigung des Verlags auch bei nur auszugsweiser Verwendung strafbar.

    Paul Martin Kesselring

    Passerelle

    Veras Aufbruch

    Inhalt

    Cover

    Impressum

    Titel

    I

    II

    Die Aufzeichnungen der Veritas

    1.

    2.

    3.

    4.

    5.

    6.

    7.

    8.

    9.

    10.

    11.

    12.

    13.

    14.

    15.

    16.

    Der Autor

    I

    26. Dezember 1999

    Es stürmt in ganz Westeuropa. Ich liebe die Stürme, wenn uns die Natur ihre ganze Macht demonstriert. Sie offenbaren uns oft Unerwartetes, wecken Faszination und verdienen Respekt. Die Wolken am Himmel jagen einander, und zwischendurch senden einige Sonnenstrahlen für kurze Zeit funkelnde Lichter auf den Boden, ehe es wieder finster und verhangen wird. Schneeböen und Regenschauer spielen die zweite Stimme in dieser gigantischen Symphonie. Ich breche mit meinem Hund Brusco auf zu einer Wanderung.

    Wir lassen das Dorf hinter uns auf einem schmalen Sträßchen, das zur Allmend hinaufführt, und treffen einige andere Unentwegte, die ihre Hunde auch spazieren führen.

    Vorbei geht es an umgelegten und gebrochenen Bäumen zur Allmend hinauf zu den paar lauschigen Hüttchen, die im Frühling als Ställe fürs Vieh genutzt und sonst von Feriengästen aus der Stadt bewohnt werden. Es gießt mittlerweile wie aus Eimern und wir suchen Unterstand in einem der Hüttchen und warten eine Weile.

    Sobald der Regen nachgelassen hat, brechen wir erneut auf und verfolgen das Sträßchen mit seinen Haarnadelkurven bergaufwärts, kürzen hier und dort ab und gelangen in einer weiteren Kurve zu einer Verzweigung, ab der wir nun einen Forstweg verfolgen. Er biegt in ein romantisches kleines Tal ab.

    Im Bachbett neben uns, in dem normalerweise ein sanftes Rinnsal fröhlich talwärts gurgelt, tost ein Wildbach, dessen mitgeführte Steine zum Rauschen eine dumpfe Bassbegleitung beisteuern, die das Ganze als dramatische Symphonie in meinen Ohren ertönen lassen. Wir überqueren den Bach über eine Brücke, die behelfsmäßig aus unbearbeiteten Baumstämmen zusammengezimmert wurde. Vermutlich hat die alte Brücke einer anderen Naturmanifestation nicht mehr standgehalten.

    Auf der anderen Seite führt nur noch eine schmale Wegspur aufwärts. Sie beginnt sich auch gleich zu verlaufen und die Spuren enden in weichem Moos mit Heidelbeerstauden. Weglos wandern wir weiter. Ein paar Sonnenstrahlen erleuchten den moosigen Boden und erblassen anschließend. Wenige Minuten später schneit es in großen Flocken. Der Sturm beruhigt sich, und es wird so still, dass das Aufkommen jeder einzelnen Schneeflocke auf dem Boden hörbar wird.

    Wir wandern gemütlich und beschwingt aufwärts, weglos, aber ohne große Hindernisse. Die Intensität des fallenden Schnees legt in kurzer Zeit einen weißen Teppich über den Moosboden.

    Wir haben bereits jene Höhe erreicht, wo der Schnee der vorigen Woche noch liegt. Der Wärmeeinbruch vermochte ihn nicht völlig abzuschmelzen. An einigen Stellen ist er sogar leicht gefroren, sodass jeder Auftritt einen Bruch der Oberfläche bewirkt. Brusco schnüffelt an allerhand Tannenästen und verfolgt hier und dort eine Tierfährte.

    Die Zeit verrinnt, der Wald wird dichter, und man könnte sagen, er würde auch unheimlicher. Da und dort klettern wir über gebrochene oder entwurzelte Tannen und gelangen ganz nah an ein Dickicht. Ich habe einen Moment Brusco nicht beaufsichtigt, ich sehe ihn nicht mehr. Er muss in das Dickicht eingedrungen sein, eine Fährte verfolgend. Ich rufe, doch nichts regt sich. Das Bimmeln seiner zwei metallenen Hundemarken kann ich nirgends lokalisieren und die Schneeflocken machen immer noch den Grundrhythmus der akustischen Begleitung aus. Meine Rufe nach Brusco verhallen im Wald. Er regt sich nicht.

    Und plötzlich: Was rieche ich da? Frischer Pfeifenrauch ist unverkennbar, es riecht wie jener Amsterdamer, den ich vor fünfundzwanzig Jahren selbst geraucht hatte. Der Duft weckt Erinnerungen. Er riecht immer besser für die anderen als für den Raucher selbst. Ich drehe mich um, nochmals nach Brusco Ausschau haltend, und sehe knapp zwei Meter neben mir einen Mann stehen, zwischen sechzig und siebzig Jahre, der mich in genau diesem Moment freundlich grüßt. Er muss festgestellt haben, dass ich erschrocken bin, als ich ihn bemerkte.

    Verdutzt frage ich ihn: „Haben Sie meinen Hund gesehen? Ich suche ihn, er ist verschwunden, ich weiß aber nicht, in welche Richtung."

    „Tut mir leid."

    „Sagen Sie mir doch, woher sind Sie gekommen?"

    Auf diese spontane Frage antwortet er verblüfft: „Ich stehe doch schon eine Weile hier und beobachte Sie. Ich bin von der Langegg herabgestiegen. Aber tragen Sie Sorge, falls Sie dorthin aufsteigen wollen, es gibt sehr viel Schnee. Und die Felswand hat ihre Tücken."

    „Tut mir leid, ich weiß nicht, wovon Sie sprechen. Ich weiß nicht genau, wo wir jetzt sind, aber von einer Langegg habe ich noch nie gehört und die Existenz von Felsen in diesem Wald ist mir unbekannt."

    Da antwortet er: „Sehen Sie, junger Mann, man hat nie ausgelernt. Da kennen Sie diese Gegend doch noch sehr schlecht. Lassen Sie mich erklären, wo die Langegg liegt: Wenn Sie den Weg hier weiter verfolgen bis zur Felswand, dann müssen Sie gut auf den Einstieg achten. Der Weg ist am Anfang schlecht erkennbar. Nach einigen Metern ist die Wegspur ohne Weiteres bis zum Einschlag erkennbar. Der Einschlag ist die kleine lauschige Wiese, die zwischen den zwei Felspartien liegt. In ihrer Mitte erkennen Sie noch die Steine einer Ruine. Es handelt sich um eine ehemalige Gebetskapelle aus dem 15. Jahrhundert. Kenner des Einschlags sprechen von einem Kraftort, wie zum Beispiel bei den romanischen Kirchen von Amsoldingen oder Einigen.

    Wenn Sie den Weg weiter verfolgen wollen, halten Sie sich rechts. Sie erkennen die Wegspur. Verfolgen Sie diese dann weiter zur Wartegg. Dann steigen Sie kontinuierlich auf einem Forstweg über die Schwand und die Hasenegg zur Langegg. Meist stehen Sie dort oberhalb der Nebelgrenze. Dieser Weg wird nur noch sehr selten begangen, er ist steil und daher mühsam. Die meisten Leute meiden ihn. Sie suchen sich den Umweg über die Launalp, manche nehmen das Auto und fahren ohne Bewilligung den Forstweg hoch. Diesen Weg nenne ich den Weg der Erkenntnis. Und wissen Sie, warum?"

    „Keine Ahnung."

    „Weil diesem Weg eine ganz besondere Kraft zugeschrieben wird. Wer ihn geht, erkennt neue Dimensionen, wenn Sie wissen, was ich meine. Aber der Weg ist nicht ungefährlich, man muss ihn mit Bedacht gehen und sich gewiss sein, dass man sich erhebliche Verantwortung auflädt. Darum geht ihn fast niemand. Das heißt, die Wildtiere, Rehe, Hasen und Gämsen kennen ihn. Sie sind es auch, die den Weg immer wieder so austreten, dass ich ihn wiederfinde.

    Aber passen Sie mal auf, ich höre Ihren Hund."

    Und tatsächlich: Neben mir steht Brusco, als wenn nie etwas gewesen wäre und ich ihn nie gesucht hätte.

    „Vielen Dank, sage ich zu dem alten freundlichen Mann, „und ein gutes neues Jahr.

    Doch er ist verschwunden, wie er aufgetaucht war.

    Brusco und ich stapfen eine Weile weiter, da zieht es ihn ins Dickicht.

    „Warte, Brusco. Ich nehme dich an die Leine."

    Ich möchte nicht noch mal so lange auf ihn warten müssen. Er zieht mich ins Dickicht hinein und schnüffelt mal hier, mal dort, als ob er etwas ganz Bestimmtes suchte. Doch außer Hasen- und Fuchsspuren können wir nichts ausmachen. Das Dickicht lichtet sich ein wenig und plötzlich stehen wir vor einer Felswand. Die kalkigen, schroffen Felsen tauchen unmittelbar vor dem Dickicht in den Waldboden. Entlang der Wand zieht sich die Fährte einiger Wildtiere hin.

    Brusco zieht mich, sanft steigend, an der Felswand entlang und schnüffelt schließlich an Fußabdrücken, die sich von hier wegverfolgen lassen. Es sind Abdrücke menschlicher Füße, jedoch ohne Schuhe, denn man erkennt die Zehen und die Ferse. Der linke und rechte Abdruck wechseln sich ab. Und jetzt verlieren sich die Spuren wieder, es sieht so aus, als ob der Mensch, der diese Spuren hinterlassen hatte, in die Felswand eingestiegen wäre.

    Es scheint mir zu gefährlich, diesen Spuren zu folgen. Wir ziehen es vor, die Wildfährte am Fuß der Felswand weiter zu verfolgen. Sie steigt nun langsam in die Felswand empor. Ich halte mich mit beiden Händen an den vorstehenden Felszacken fest oder stütze mich auf die nicht ganz vertikal fallende Felswand ab. Um etwas bequemer vorrücken zu können, löse ich Brusco von der Leine.

    Und plötzlich öffnet sich ein schmaler Spalt vor uns. Ein mittelstarker Wind weht uns daraus entgegen.

    Höhlen haben etwas Magisches und Geheimnisvolles, und ich habe schon manche Publikumshöhle auf meinen Reisen besucht. Von den wenigen Expeditionen, an denen ich teilgenommen hatte, wusste ich, dass Kalkgebirgshöhlen, die Luftzug aufweisen, für Höhlenforscher interessant sind, da sie mit großer Wahrscheinlichkeit weiterführen.

    Wie von einem saftigen Steak angezogen, verschwindet Brusco in dieser Felskluft. Er, der doch immer fürchterlichen Respekt vor allem Unbekannten hat, verschwindet in der finsteren Höhle! Mich ergreift die Faszination des Unbekannten, das auch die Höhlenforscher in ihren Bann zieht. Was verbirgt sich hinter dieser Öffnung?

    Brusco scheint eine Weile in der Eingangsregion herumzuschnüffeln, während ich versuche, durch die schmale Öffnung wenigstens so weit einzudringen, dass ich mir ein Bild machen kann, wie es weitergehen könnte. Ich entledige mich meines Anoraks. Ich möchte ihn nicht zerreißen, schließlich werde ich ihn zur Heimkehr nötig haben. Meine Gedanken schweifen ins Innere, zu den blutroten Tropfsteinen, die sich in irgendeiner weit entfernten Halle vielleicht offenbaren würden. Oder jenen Höhlenseen, die derart klar und deren Oberflächen so vollkommen ruhig sind, dass sie wie ein geschliffener Spiegel vor uns liegen, und in denen herabhängende Stalaktiten sich so abbilden, als ob es sich um ihr emporsteigendes Ebenbild handle.

    Genau diese Faszination ist es, die mich jetzt versuchen lässt, den Eintritt in diese Spalte zu erzwingen. Unter mir schnuppert Brusco an etwas, das ihn zu fesseln scheint. Ich klettere sachte zum Boden hinab, wo die Höhle auch wesentlich weiter wird und Brusco mir gegenübersteht. Er knurrt leise und scheint mir sagen zu wollen: Hier befindet sich etwas, das dich sicher interessiert.

    Der fahle Lichteinfall vor uns und die gähnende Finsternis hinter uns verlangen eine kurze Pause. Unsere Augen gewöhnen sich an die Dunkelheit. Langsam kann ich Felsbrocken am Boden erkennen, eine kleine Pfütze, in die von Zeit zu Zeit ein Tropfen fällt, dann ein etwa hüfthoher Gang, der steil abwärtsführt ins tiefe Schwarz. Es ist nicht die richtige Zeit, sich mit Höhlenforschung zu befassen, wir haben weder eine Laterne noch eine taugliche Ausrüstung bei uns.

    Brusco scheint etwas ganz anderes zu interessieren, immer und immer wieder verschwindet er hinter einem Felsbrocken, um etwas zu beschnuppern. Und immer wieder kommt er zu mir, als wollte er mitteilen: Das wird auch dich interessieren.

    Ich folge ihm und finde den Gegenstand, der Brusco so in seinen Bann zieht: eine runde, längliche Aluminiumdose, mit einem Schraubdeckel verschlossen, etwa fünfzehn Zentimeter im Durchmesser und fünfzig Zentimeter lang. Seit wann diese Büchse da liegen mochte, ist schwer zu schätzen. Etwas von der Faszination der unbekannten Höhle scheint sie mir aber zu stehlen: Da muss sich schon mal jemand aufgehalten haben.

    Ich nehme die Büchse und begebe mich etwas mehr ans Licht, um sie zu öffnen. Es gelingt mir aber nicht mit bloßer Hand, das Gewinde muss stark oxidiert sein. Mir scheint die Büchse nicht sehr alt zu sein. Dem Gewicht nach zu schließen, wird sich etwas darin befinden. Es könnte Karbid sein, das Höhlenforscher hier liegen ließen. Doch dies wäre sicherlich am stechenden Geruch zu erkennen, denn eine solche Büchse kann ja unmöglich so weit feuchtigkeitsdicht sein, dass nicht etwas Wasser eindringen könnte und das Karbid zu Azetylen reagieren ließe. Ich beschließe, die Büchse mitzunehmen und den Heimweg anzutreten.

    Der Ausstieg gestaltet sich schwieriger als vermutet, und ich bin mir plötzlich nicht mehr sicher, ob diese Höhle wirklich schon von Menschen betreten worden ist. Mit einem Meißel und einigen Hammerschlägen ließe sich nämlich der Spalt so weit öffnen, dass ein Einstieg problemlos auch mit dickerer Kleidung und Rucksack möglich wäre. Und gemeißelt hat hier anscheinend noch niemand. Ich stelle mir die Frage, wie diese Büchse in ihr Versteck gekommen sein könnte.

    Der Einstieg war wesentlich einfacher, als sich der Ausstieg ankündigt.

    Habe ich eine solche Situation nicht schon einmal erlebt? Es könnte in einem Traum gewesen sein: die letzten Meter vor dem erlösenden Austritt aus der unendlichen Tiefe eines Höhlensystems, das mich derart in seinen Bann gezogen hat, dass es mich nun kaum wieder freilässt. Da liege ich in einer Spalte, auf dem Bauch, die Arme weit vorgestreckt, die Beine hinten irgendwo Widerstand suchend, um mich wenigstens ein paar Zentimeter nach vorn zu schieben. Die Beine hängen in der Luft, verzweifelt nach Halt suchend, die Hände klammern sich irgendwo fest, die Angst, mich weder nach vornoch zurückbewegen zu können, sitzt tief.

    Verzweifelt versuche ich mich zu erinnern, wie ich es wohl geschafft habe, in diese Höhle einzudringen. Ich betrachte mir die Einstiegsspalte genauer und bemerke, dass ich es von außen her leichter hatte, weil die Spalte sich leicht einwärtsneigend gegen unten öffnet und ich mich dann auf dem Hosenboden rutschend nach unten gleiten lassen konnte. Daran habe ich nicht gedacht, als ich einstieg. Brusco ist schon lange draußen und wartet ungeduldig, dass auch ich es endlich schaffe.

    Um mich von der hinderlichen Büchse zu befreien, entschließe ich mich, sie aus dem Höhlenspalt zu werfen, mit dem Risiko, dass sie unwiederbringlich den Hang hinunterkullert,. Und ich habe Glück: Brusco verfolgt sie mit seinen aufmerksamen Augen und springt im rechten Moment auf, um sie mit seiner Schnauze vor einem Davonrollen zu bewahren.

    Die Hundeleine dient mir als Seilersatz. Ich werfe sie um einen kleinen Felsvorsprung. Ein Ruck zeigt mir, ob die Nase hält, und ich versuche mich langsam an der Leine hochzuziehen, um den Felsen mit der linken Hand greifen zu können. Ich ziehe mich mit beiden Händen und aller Kraft hoch und erreiche schließlich jenen Punkt, auf den ich meinen rechten Fuß abstützen kann. Noch zwei, drei Schritte durch den sich nach außen öffnenden Spalt und ich habe wieder festen Boden unter meinen Füßen.

    Draußen haben wieder neue Böen eingesetzt und es hat aufgehört zu schneien. Der Wind fegt kalt von den Felsen herunter, und ich ziehe meine Jacke über, packe die Dose ein und zusammen klettern Brusco und ich behutsam das Felsband zurück bis an dessen Basis, der wir nun weiter folgen, entlang dem engen Dickicht, wo wir herkamen. Ich ziehe es vor, nicht durchs Dickicht zurückzugehen, der Pfad vor uns scheint mir freundlicher und sicherer. Aber er zieht sich in die Länge. Ohne dass ich es zunächst wahrnehme, verlieren die Felsen an Höhe, je weiter wir wandern. Rings um uns herum tobt erneut der Sturm und ich konzentriere mich auf die Wegspur. Wir kommen ans Ende der Felswand. Hier geht sie in einen steilen Buchenwald über und der alte Schnee bildet wieder eine mehr oder weniger kompakte Decke.

    Ich weiß tatsächlich nicht mehr, wo wir uns befinden. Der Wald scheint sich in die Unendlichkeit hinzuziehen, und ich versuche, mich talwärts zu orientieren, obschon die Hangneigung ein gefährliches Gefälle annimmt. Doch auch in steigender Richtung scheint es nicht besser zu sein und somit versuchen wir abzusteigen. Ziemlich genau in Fallrichtung erreichen wir nun eine langsam ins Horizontale auslaufende Mulde, in der ein Bächlein entspringt. Der Schnee ist gewichen, wir haben offensichtlich ordentlich an Höhe verloren und folgen nun weiter dem Bachlauf. Irgendwo muss der Bach ja münden, irgendwo werden wir den Wald verlassen, obschon ich weiß, dass er sich über dreißig Kilometer hinzieht. Wenn wir die falsche Richtung einschlagen, werden wir heute Abend nicht zu Hause sein.

    Die Böen, die immer wieder aufkommen, sind jetzt so stark, dass in einigen Hundert Metern Entfernung mit großem Getöse eine ganze Anzahl Bäume fallen. Brusco erschrickt. Er rennt davon, in Richtung der stürzenden Bäume. Ich folge ihm, und wir erreichen die Stelle, wo es gekracht hat. Wir stehen in einer kreisrunden Schneise. Die Bäume liegen alle in mehr oder weniger tangentialer Richtung. Aus der Luft muss das sicher sonderlich aussehen. Wir treten wieder in den Wald ein, da und dort fallen Einzelbäume, und ich spüre jetzt, wo mir wohl ist, wo ich mich sicher fühle. Dort muss ich nichts befürchten. An anderen Stellen fühle ich mich bedroht, dort folgt mir Brusco auch nicht hin.

    Etwas weiter kommen wir erneut zu einer Schneise. Diese verläuft aber in gerader Richtung durch das Waldstück. Die beiden Grenzlinien zum Wald verlaufen über einige Hundert Meter vollkommen parallel. Dann verläuft sich die Schneise wieder. Merkwürdig, diese strengen geometrischen Formen. Mir gehen Bilder von Kornkreisen durch den Kopf.

    Da stehe ich nun fasziniert vor den gefallenen Bäumen, studiere die Richtung, in der sie gefallen sind, und frage mich nach den Informationen, die die Bäume haben mussten, dass sich solch perfekte Formen bilden können.

    Gewaltig, wie dieser Wald mit mir kommuniziert. Unbeschreiblich!

    Ich begegne den ganzen weiteren Tag keinem anderen Menschen. Die Stunden fließen dahin, der Sturm legt sich wieder, der Himmel lichtet sich und ständig wechseln die Witterungselemente von Sonne über Regen zu Schnee.

    Der Abend naht, die Beine sind müde, auch Brusco trottet nur noch gleichgültig hinter mir her. Wir verfolgen schon seit längerer Zeit ein Forststräßchen in der Hoffnung, irgendwann auf einen Wegweiser zu treffen. Ein gewaltiges Erlebnis, der heutige Tag.

    Der Wald lichtet sich, wir sehen in der Talsohle eine Weide und ein Naturweg zieht sich den Bach entlang. Hier erreichen wir den ersten Wegweiser seit Stunden, der in einer Richtung mit zweieinhalb Stunden nach unserem Dorf zeigt, in der anderen Richtung mit zwanzig Minuten zum Lochbad weist. Die Müdigkeit setzt jetzt erst richtig ein, wo ich weiß: noch zweieinhalb Stunden. Es bleibt uns nichts anderes übrig, ich beiße mich durch und auch Brusco macht mit.

    Erst lange nach Einbruch der Dunkelheit kommen wir zu Hause an. Überall im Dorf ist es finster, dunkel wie in der Höhle. Im Haus brennen ein paar Kerzen. Wir werden mit einem duftenden Fondue empfangen. Der Strom fiel offenbar schon mittags aus. Es werde noch bis morgen dauern, umfallende Bäume hatten die Strommasten niedergerissen. An die Büchse denke ich nicht mehr.

    II

    Das Öffnen der Aluminiumdose gestaltet sich schwieriger als gedacht. In der Höhle hätte ich es nie geschafft. Zu Hause, mithilfe eines Schraubstocks und einer Klempnerzange, glückt es mir nach mehrmaligem Einspritzen von Kriechöl, den Deckel sorgfältig abzuschrauben. Doch nicht das erwartete Karbid kommt zum Vorschein, nicht der mögliche Goldschatz und auch nicht die funkelnden Edelsteine, die die mysteriöse Geschichte vom gestrigen Tag nun hätten abrunden können. Es handelt sich nicht um den großartigen Fund, den ich mir im Geheimen eben doch erhofft hatte, die Louisdors oder andere Schätze.

    Eine Rolle, liebevoll in braunes Kraftpapier gepackt und mit Klebestreifen gesichert, liegt in der Büchse. Keine Spur von Feuchtigkeit; ein Dichtungsgummi im Deckel konnte den Eintritt von Wasser verhindern.

    Ich schneide die Klebestreifen mit einer Rasierklinge auf und beginne die Rolle sorgfältig auszupacken. Es scheint sich um Schriftstücke zu handeln, die übereinanderliegend eingerollt und anschließend verpackt wurden. Ich schätze, gegen hundert DIN-A4-Bögen müssen es sein, die da in der Dose verstaut wurden.

    Wer hatte was mit diesem Versteck bezweckt? Ich bin nicht sicher, ob diese Höhle schon jemals von einem Menschen betreten worden ist; ich hätte auf dem lehmigen Boden Fußspuren entdecken müssen. Zudem wäre der Einstieg ja wirklich für manche Person zu eng gewesen. Konnte ein Tier die Büchse dorthin verschleppt haben oder wurde sie aufs Geratewohl in die Höhlenöffnung geworfen?

    Ich lege die Papierbögen auf den Tisch, doch sie rollen sich ständig wieder in die Form zurück, in der sie jahrelang gelegen hatten. Damit sich das Papier wieder an ein flaches Dasein gewöhnen kann, lege ich den ganzen Stapel über Nacht unter den Times Weltatlas.

    Schriftstücke haben schon deshalb etwas Geheimnisvolles, weil man ihnen nicht gleich ansieht, welche Schätze oder welchen Makel sie in sich bergen; man sollte sie zuerst lesen. Bei der Fülle an Geschriebenem, mit der man sich auseinanderzusetzen hat, braucht es immerhin einen speziellen Riecher, sich etwas zuzuwenden, das einen tatsächlich in seinen Bann zieht.

    Es hat vermutlich mit Intuition zu tun, wenn ich die Geschichte mit den Papieren weiterverfolge und nicht aufgebe, bevor ich sie gelesen habe. Die Geschichte, die hinter deren Fund steckt, hat mich ja bisher schon ganz schön in Atem gehalten, sodass ich nun nicht aufgeben will, bevor ich um den Inhalt der Schriftstücke weiß. Nun, wo sie glatt vor mir liegen, beginne ich, sie zu lesen.

    Die Aufzeichnungen der Veritas

    Diese spontanen Aufzeichnungen haben mir geholfen, mein Leben neu zu orientieren. Deshalb möchte ich sie nicht vernichten sondern überlasse sie dem Zufall …

    1.

    Mein Name ist Veritas Wicklar, dritte Tochter einer Pfarrfamilie. Ich habe gute und stabile Wurzeln. Ich hatte eine harmonische, geborgene Kindheit. In materieller Sicht reichte es nicht zu großen Sprüngen. Mein Vater stammte zwar aus einer fränkischen Ingenieursfamilie, meine Mutter aus einem Juristenhaus, doch meine Eltern erzählten uns immer, sie seien dennoch in bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen. Ich hatte eine glückliche Zeit mit meinen beiden Schwestern wie auch mit meinen Eltern. Als kleines Mädchen genoss ich es, der Sonnenschein der Familie zu sein. Meine angepasste Art brachte mir viel früher als meinen Schwestern eine gewisse Freiheit und meine Eltern erachteten mich als glücklich. Es wäre doch schwer verständlich, wenn das jüngste Theologentöchterchen nicht das Abbild des Glücks gewesen wäre. Im Pfarrhaus war schließlich auch Gott zu Hause oder ging zumindest regelmäßig ein und aus.

    Meine Eltern waren beide sehr religiös denkende Menschen, sie fühlten sich in ihre Mitmenschen ein und versuchten sie zu verstehen. Sie beteten täglich für uns, für die ganze Familie, für die ganze Kirchengemeinde und alle, die zu ihnen kamen und Hilfe erbaten, und man sah ihnen an, wie sie von ihrem Glauben erfüllt waren.

    Mein Vater wurde gleich nach seiner Studienzeit in Tübingen als Pfarrer an die hiesige Kirche gewählt. Obschon er in ein fremdes Land und in eine andere Kultur zog, schien es ihm keine Schwierigkeiten zu bereiten, sich in der Berner Vorortsgemeinde zu akklimatisieren. Meine Mutter, aus Böhmen stammend, schien sich ebenfalls in der neuen Heimat wohlzufühlen.

    Mein Vater war aus unserer Gemeinde nicht wegzudenken, und niemand hatte ihn als „Fremden" bezeichnet, obschon er an seiner Sprache hätte erkannt werden können: Er hatte den Akzent eines Zugezogenen behalten. Ganz anders waren wir drei Schwestern. Als kleinere Kinder verständigten wir uns mit unseren Eltern noch in ihrer schriftdeutschen Sprache, spätestens aber mit dem Schuleintritt meiner ältesten und mit dem gleichzeitigen Kindergarteneintritt der mittleren Schwester übernahmen wir den Dialekt unserer Kameradinnen, die uns in Kindergarten und Schule begleiteten.

    Die strenge Erziehung meiner Eltern empfand ich für die damalige Zeit korrekt, doch heute würden Pädagogen sicherlich Fragezeichen setzen. Ich weiß, dass meine Eltern es mit uns Mädchen nie schlecht meinten und dass sie wirklich ihr Bestes geben wollten. Nur waren die Sitten um einiges rauer, und man machte sich keinerlei Gedanken über die Verletzlichkeit der Kinderseele, denn wenn man es gut meinte, dann war es gut, ob nun das Kind dies ebenso empfand oder darunter litt.

    Es war die Generation, die noch militärische Zucht kannte. Vor allem mein Vater, der seine Militärpflicht auch als Pfarrer absolvieren musste, war sichtlich beeindruckt von der Disziplinierung und von der Obrigkeitsgläubigkeit in dieser Institution. Er war bis ins hohe Alter der Meinung, Militärdienst und die dabei zu erfahrende Zucht schade niemandem.

    Mit Militärdienst leistenden Geistlichen hatte ich immer Mühe. Das Militär ist und bleibt eine Krieg führende Organisation. Krieg aber hatte noch nie Lösungen von Konflikten gebracht; also verstand ich Vaters Bewunderung militärischer Disziplin nicht, denn seine Unfähigkeit, Konflikte zu meistern, und die Akzeptanz militärischer Gewalt schienen für mich unvereinbar. So hatten wir oft Diskussionen über die Ereignisse im Zweiten Weltkrieg, den wir Kinder zwar nicht mehr erlebt hatten, über den jedoch noch immer heftig gesprochen wurde. In der Schule lernten wir als wichtiges Element der zukünftigen Kriegsverhinderung die Gründung der UNO kennen, jener Weltorganisation, der fast alle Staaten angehören und in deren Charta steht: Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt.

    Glaubte Vater als Pfarrer etwa selbst nicht daran, dass dieser Artikel wirklich umsetzbar war? Es wurde zu Hause immer wieder von Kriegen gesprochen, die nach 1949 trotz dieser Charta stattfanden. Wie konnte mein Vater als Pfarrer denn militärische Disziplin gutheißen, wenn er selbst mit Konflikten Mühe bekundete?

    In seiner Antwort auf meine Fragen zum Sinn

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1