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Alles fließt: Ein Roman über die Vergänglichkeit
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Alles fließt: Ein Roman über die Vergänglichkeit
eBook252 Seiten3 Stunden

Alles fließt: Ein Roman über die Vergänglichkeit

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Über dieses E-Book

An einem stillen Waldsee lernt ein junger Schriftsteller eine Studentin kennen. Gemeinsam beschäftigen sie sich mit der Frage, ob alle Dinge vergänglich sind, ob alles fließt - oder, ob es auch etwas Beständiges in der Welt gibt, etwa ihre entstehende Liebe. Doch schließlich bricht eine Naturkatastrophe über sie herein.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum21. Nov. 2012
ISBN9783848255887
Alles fließt: Ein Roman über die Vergänglichkeit
Autor

Wolfgang Pröll

Wolfgang Pröll wurde 1955 in Wien geboren und begann erst in reiferem Alter seine schriftstellerische Tätigkeit, 2012 erschien "Alles fließt - Ein Roman über die Vergänglichkeit". Er lebt mit seiner Familie in St. Pölten / Niederösterreich, wo er auch im Gymnasium unterrichtet.

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    Buchvorschau

    Alles fließt - Wolfgang Pröll

    alles?

    1. Teil

    Einsame Hütte

    Gemäldetipp: Die Mühle von Wijk bei Duurstede

    (Jacob Ruysdael, 1670)

    Musiktipp: Tubular Bells

    (Mike Oldfield, 1973)

    1 Die Ruine am Fluss

    Das Wasser fließt

    Die Zeit verfließt

    Alles fließt (Heraklit)

    Wohin mich der glitzernde Fluss letztlich bringen würde, konnte ich noch nicht absehen. Er strömte in den weiten Windungen des Tals durch das graue Felsmassiv und trieb mich mit meinem kanadischen Kanu abwechselnd gegen das rechte oder das linke Ufer. Dort wurde das Wasser am steilen Prallhang jeweils tiefer und floss dabei schneller entlang. Doch nur gelegentlich bildeten sich an der Oberfläche kleine gischtige Wirbel, im Allgemeinen gab sich der Fluss relativ ruhig. Ich musste bloß aufpassen, nicht mit dem Boot ans Ufer zu schrammen oder mich an überhängenden Ästen zu verfangen und war richtig stolz auf meine Fahrkünste als Anfänger. Doch ich wusste, dass die schwierigeren Abschnitte erst vor mir lagen.

    Die nächste Biegung versuchte ich, weiter innen zu nehmen, wo das Wasser sanft an einem flachen Gleithang vorbei strömte. Dazu musste ich ziemlich hart steuern, was man mir zum Glück vor der Abfahrt genau erklärt hatte, sonst wäre ich bisweilen nur im Kreis gefahren. Ein leises Knirschen am schottrigen Grund erinnerte mich aber daran, dass die Tiefe hier geringer war, ich sollte also versuchen, einen Mittelweg zwischen innen und außen zu nehmen. Doch meistens glitt mein rotes Kanu ohnedies beinahe von selbst voran, nur hin und wieder musste ich mit dem grünen Stechpaddel gegen die Strömung halten.

    Ich war daher noch gar nicht allzu müde, obwohl ich schon fast zwei Stunden unterwegs war. Links und rechts standen graue Felsen, an denen ich vorbeizog, sowie an dichtem Nadelwald, der nahezu unberührt wirkte. Es erstaunte mich, wie viele Nuancen von Dunkelgrün ich dabei wahrnehmen konnte. Ob es dafür jeweils eigene Bezeichnungen gab? Ich wusste jedenfalls von keinen.

    Gelegentlich stürzte ein Bach mit einem Wasserfall herunter und gurgelte zwischen größeren und kleineren Steinen in den Fluss hinein. So ähnlich musste vor vielen Jahrtausenden die Natur überall bei uns ausgesehen haben, bevor die Menschen sie für ihre Zwecke nutzbar gemacht haben. Heute hingegen gab es nur noch wenige solcher Oasen der Stille und des Dahinfließens hier in Mitteleuropa. Es war aber eine faszinierende Idee, sich einige 100 000 oder gar Millionen Jahre zurück in die Vergangenheit zu versetzen. Wie konnte überhaupt so viel Zeit vergehen? Natürlich wusste ich, dass es so geschehen war, jedoch mein Alltagsverstand, der für eine wesentlich kürzere Zeitspanne ausgelegt war, vermochte sich dies nicht vorzustellen. Es musste damals aber herrlich gewesen sein, über weite Entfernungen in der Wildnis unterwegs zu sein, ohne auf ein Zeichen der Zivilisation zu stoßen. Man hätte nur eine wilde und ungebändigte Natur als Begleitung gehabt, dichte Wälder und unregulierte Flüsse, jedoch auch Gefahren wie Wölfe oder Mammuts. Die Umwelt war damals noch unzerstört und nicht verschmutzt, aber ob das Leben dadurch besser gewesen wäre? Wohl kaum.

    Die nächste Biegung, derselbe Anblick: Vor mir ein steiler Anstieg, an den sich einzelne Bäume scheinbar verzweifelt klammerten, dazwischen klebten größere Felsblöcke in verschiedenen, unregelmäßigen Formen. Weiter oben verflachte der Hang, und der Wald wurde dichter. Rechts, am Gleithang, gab es eine ausgedehnte Schotterbank, auf der einige angetriebene Äste lagen, dahinter wuchs eine Art Dickicht. Die Stelle gefiel mir zwar für eine kurze Rast, aber eigentlich brauchte ich noch gar keine. Außerdem musste ich noch einen weiten Weg bis zu meiner gebuchten Hütte am See schaffen, und so entschied ich mich also, weiterzufahren.

    Seit meiner Abfahrt hatte ich kein Anzeichen menschlichen Einflusses gesehen, kein Haus, keinen Weg, keine Brücke, keine Stromleitung. Außer mir gab es nur den Wald und den Fluss. Er war nicht wirklich groß, aber geeignet, um ihn mit dem Kanu zu befahren. Trotzdem stieß ich hin und wieder mit dem Boden an den steinigen Grund, manchmal schrammte ich auch zur Gänze über Blöcke, die bis dicht unter die Wasseroberfläche hochragten. Anfangs war ich noch recht erschrocken, doch bald hatte ich mich daran gewöhnt. Man hatte mir gesagt, ich solle aufpassen, für Schäden am Boot müsste ich bezahlen. Na ja, darüber konnte ich später nachdenken. Jetzt freute ich mich an der Natur, am sonnigen Wetter, und vor allem an der Stille und der Einsamkeit. Ein paar Wochen Ruhe und Abgeschiedenheit sollten mir gut tun, hatte es geheißen, nach dem Frust der letzten Zeit. Ich war mir zwar nicht sicher, ob es eine gute Idee war, ich war auch nicht das, was man als einen echten Naturburschen bezeichnete. Ich ging wohl manchmal gern in die Wälder wandern, aber ein wirkliches Einsiedlerleben vermochte ich mir nicht vorzustellen, obwohl es natürlich eine gewisse Faszination besaß. Doch ich war bereit, es zu versuchen, denn was konnte ich schon groß dabei verlieren? Es handelte sich schließlich nur um drei Wochen, und ich ahnte überhaupt noch nicht, wie intensiv die Erlebnisse dieser kurzen Zeit werden sollten.

    Einige Windungen weiter sah ich dann hoch oben die Burgruine, deren Anblick ich erwartet hatte. Ich wusste zwar, dass ich daran vorbei kommen würde, aber ihr tatsächliches Erscheinen überraschte mich dennoch. Nach mehreren Stunden Natur pur war es das erste Zeichen der Zivilisation, wenn auch ein Zeichen ihrer Vergänglichkeit. Direkt am Steilufer erhob sich linker Hand der Felsen bis in schwindelerregende Höhe. Ganz oben veränderte sich das Grau des Gesteins in das verwitterte Rotbraun des Turms. An seiner höchsten Stelle hing eine vergilbte Fahne, deren originale Farben nicht mehr zu erkennen waren, schlaff an einem Mast. Es war einmal der Bergfried gewesen, von dem aus die Umgebung weithin überblickt werden konnte. Die Reste der weiteren Burganlagen waren von hier unten nicht auszumachen. Auf dem Fels stand heutzutage auch nur noch die untere Hälfte des Turmes, der obere Teil war im Lauf der Zeit zusammengesackt und in die Tiefe gestürzt, wo ich sogar einige wenige behauene Steine zwischen den Sträuchern am Ufer erkannte, die meisten dürften aber irgendwann in den Fluss selbst gefallen sein. Und wo befanden sie sich jetzt? Einfach weggespült, Jahrhunderte des Bauens und des Schaffens waren verflossen im wahrsten Sinn des Wortes, ihre Bedeutung verschwunden wie ein einzelner Atemzug eines kurzen Lebens.

    Gegenüber dem Burgfelsen lag die nächste Schotterbank, hier konnte ich nicht widerstehen, und ich wollte für eine kleine Pause anlegen. Aber direkt am Ufer erregte ein toter Fisch meine Aufmerksamkeit, der dort zwischen manchen hellen Steinen angeschwemmt worden war und von etlichen Fliegen umschwirrt wurde. Ich paddelte also einige Meter weiter und legte erst dann an. Knirschend fuhr ich auf den Schotter, stieg noch im Wasser aus dem Boot und zog es an Land. Danach setzte ich mich einfach auf den Boden, genoss die warmen Sonnenstrahlen und ließ meine Füße trocknen. Nach gar nicht langer Zeit wurden mir die Augen schwer, ich legte daher meine Schwimmweste nieder, breitete ein Handtuch darüber und bettete meinen Kopf mit dahinter verschränkten Armen darauf. Ein letzter Blick zeigte mir die Burgruine, über der direkt die Sonne stand, die gelegentlich von einer weißen Wolke verdeckt wurde. Schließlich döste ich sogar kurz weg, die ungewohnte körperliche Anstrengung hatte sich zuletzt doch bemerkbar gemacht.

    Meine Gedanken versetzten mich viele Jahrhunderte zurück. Ich sah dabei das Leben und Treiben auf der Burg, die noch intakt auf dem grauen Felsen stand. Ich sah stolze Burgherren in den Burghof reiten, ich sah hübsche Burgfräulein aus den Fenstern winken, ich sah prächtige Ritter zu Turnieren antreten und hörte Minnesängern bei ihren Liedern zu. Ich sah aber auch fronende Männer, die mit ihren Händen in unsäglicher Mühe Stein auf Stein die Anhöhe hinauf karrten. Weiters sah ich gebeugte Handwerker in heißen Schmieden arbeiten, unglückliche Gefangene in feuchten Verliesen schmachten und abgezehrte Bauern ihre Abgaben heranschleppen. So viel vergangene Anstrengung, und was davon hatte die Zeiten überdauert? Letztlich war die Plackerei umsonst geblieben. Schließlich sah ich wütenden Kampf und die Burg im Feuer untergehen, Jahrhunderte der Arbeit und des Lebens wurden von fremden Eroberern in wenigen Tagen einfach ruiniert. Und wo waren heute die vielen Menschen, die hier lebten, kämpften, liebten und litten? Wo waren jetzt die stolzen Burgherren, die prächtigen Ritter oder die hübschen Burgfräulein? Sie waren alle tot, seit vielen Jahrhunderten schon; tot, vergangen und ihre Spuren weggeweht. Und der ewige Fluss, an dessen Ufer ich jetzt lag, spülte die allerletzten Reste endgültig fort.

    Als ich nach kurzer Zeit munter wurde, glühte mir den Kopf, denn ich hätte mich mehr im Schatten aufhalten sollen. Ich ging die paar Schritte zum Fluss und tauchte ihn zur Gänze ins kühle Wasser, was mir unglaublich gut tat. Erst als ich wieder aufblickte, bemerkte ich, dass der tote Fisch nicht mehr zu sehen war. Der Wasserstand war wahrscheinlich leicht gestiegen, wodurch der Fluss ihn zu sich geholt haben dürfte für eine Weiterreise – ja, wohin eigentlich? Stattdessen sah ich eine kleine Gruppe von munteren Fischlein direkt vor meinen Füßen vorbei schwimmen. Mir kam der Gedanke vom Kreislauf der Natur in den Sinn – das Tote wird durch neues Lebendes ersetzt, bis dieses ebenfalls stirbt – ein ewiges Werden und Vergehen.

    Danach blickte ich wieder zur Ruine auf und bemerkte, dass sich ganz oben ein kleiner Stein aus der Burgmauer löste. Er stürzte anfangs lautlos in die Tiefe, schlug ein paar Mal klackend auf, zunächst am Turm, dann am Felsen, und schließlich versank er mit einem unspektakulären Aufklatschen im Fluss. Warum war er heruntergestürzt? Hatte ihn jemand geworfen oder unabsichtlich gelöst? Vermutlich aber war es ganz natürlich geschehen, einfach durch die Verwitterung, die unmerklich langsam, doch stetig das Gestein zerbröselt. Wie wird die Ruine eigentlich in weiteren hundert Jahren aussehen, oder gar in tausend? Wird dann noch irgendetwas an sie erinnern? Oder wird die Natur alle Spuren getilgt haben, und die einstige stolze Burg zur Gänze im Fluss der Zeit vergangen sein?

    Ich erinnerte mich, dass ich schon einmal in der Burgruine war, von hier unten hatte ich sie allerdings noch nie gesehen. Es war bei einem Schulausflug gewesen, ich war damals siebzehn. Inzwischen war dies auch wieder einige Zeit her und selbst Vergangenheit – meine persönliche Vergangenheit. Wir fuhren mit einem Bus bis zum Parkplatz, und von dort aus gingen wir etwa eine halbe Stunde zu Fuß weiter. Ich freute mich auf die Besichtigung der Burg, da ich mich damals für alles Alte interessierte und sogar daran dachte, eventuell einmal Geschichte zu studieren, was ich später auch wirklich tat. Ich erkundete daher alle Räumlichkeiten der Ruine, soweit sie zugänglich waren; einige waren nämlich wegen Steinschlaggefahr gesperrt. Außer dem Bergfried gab noch viele weitere Gebäudereste zu sehen, den Burghof, manche Keller, eine Schmiede und die verfallene Schlosskapelle, natürlich auch Teile der eingestürzten Burgmauer und das restaurierte Burgtor, das mittels einer rekonstruierte Zugbrücke über einem verwachsenen Graben zu erreichen war. An einigen Stellen standen noch hohe Wände, von Fensterhöhlen durchbrochen, und bestückt mit Erkern, Gesimsen und Kaminen. Ich kletterte allein zwischen den Resten herum, nachdem ich vergeblich versucht hatte, meine Mitschüler zur Begleitung zu überreden, aber mein Interesse teilte niemand mit mir. Da uns der Lehrer für eine Stunde freigegeben hatte, löste sich die Gruppe vollständig auf. Die meisten Burschen traf ich hinter irgendwelchen Mauern an, wobei sie dunkle Flaschen kreisen ließen, über deren Inhalt ich mir natürlich im Klaren war, aber es interessierte mich nicht. Die wenigen Mädchen, die in meine Klasse gingen, standen mit jeweils einem Burschen hinter irgendwelchen versteckten Ecken und schmusten dort hemmungslos herum. Niemand wollte wie ich die Reste eines gotischen Kreuzrippengewölbes betrachten, oder den verschütteten Zugang zu einer Wendeltreppe oder die verkohlte Ruine der alten Schmiede. Nein, sie interessierten sich nur für Alkohol oder das, was sie für Liebe hielten. Am meisten ärgerte ich mich aber darüber, dass ich auch meine Sitznachbarin dabei erwischte, ausgerechnet sie, die ich bis dahin für vernünftig gehalten hatte und die die Einzige gewesen war, für die ich mich etwas interessiert hatte. Und jetzt stand sie in der Schlosskapelle, noch dazu eng umschlungen mit unserem Klassensprecher; einem muskulösen Angeber, den ich ohnedies nie leiden hatte können. Da hätte ich ihr einen besseren Geschmack zugetraut! Damit war für mich jedenfalls das Thema „Mädchen in meiner Klasse" endgültig erledigt, noch bevor es eigentlich begonnen hatte.

    Und was war aus meinen Klassenkameraden geworden, in den Jahren seither? Es war immerhin auch fast ein Jahrzehnt vergangen. Nun, einige studierten, manche hatten schnell geheiratet und sich zum Teil noch schneller wieder scheiden lassen. Einer war bereits durch einen tragischen Autounfall verstorben, doch von den meisten wusste ich rein gar nichts. Ich hatte mich zwar mit allen ganz gut vertragen, aber Freunde fürs Leben hatte ich in meiner Klasse nicht gefunden. Nach der Schule zerstreuten wir uns in alle möglichen Richtungen, und ich traf manche von ihnen selten und zufällig. Das Schicksal hatte uns zwar für einige Jahre zusammengebracht, aber nicht zusammengeschweißt. Und meine damalige Sitznachbarin? Ich hatte gehört, sie wäre ins Ausland gegangen, doch ich wusste nichts Genaues und wollte auch gar nichts wissen.

    Es wurde Zeit, weiter zu fahren, und ich legte daher wieder diese grässliche orangefarbene Schwimmweste an, schob mein Boot ins Wasser und setzte mich auf die hintere Sitzbank. Mein Kanu war für Anfänger präpariert worden und hatte zum Glück einen flachen Querschnitt, dadurch lag es stabiler, war aber nicht so schnittig, was mir durchaus recht war. Um es bequemer zu haben, hatte man das mittlere Sitzbrett entfernt und am Boden einen Rost aus Kunststoff fixiert, um nicht sofort nasse Füße zu bekommen, wenn etwas Wasser hineingeschwappt war. So könnte ich mich später auch im Boot hinlegen und auf den Wellen des Sees dösend dahintreiben lassen.

    Doch vor mir lag jetzt der schwierigste Teil der Fahrt. Gleich nach der Ruine, hatte man mir gesagt, komme eine unruhige Stelle im Fluss, mit Steinen und kleinen Stromschnellen. Völlig harmlos selbst für Anfänger, so hatte man mir versichert, aber ich solle mich dennoch konzentrieren. Direkt nach diesem Abschnitt sollte ich an einer Schotterbank anlegen, an der eine Hochspannungsleitung den Fluss querte. Von dort sollte ich spätestens um 16 Uhr eine SMS abschicken, dass alles gut gegangen wäre, sonst würde man nachsehen. Wenn man aber nach mir suchen müsste, bis wann könnte ich denn auf Hilfe hoffen? Ich nahm mir vor, es nicht darauf ankommen zu lassen und blickte auf meine Armbanduhr: Viel Zeit hatte ich nicht mehr, ich hatte zu lange über vergangene Epochen und deren Verfließen gegrübelt.

    Mit ein paar Paddelschlägen war ich in der Mitte des Flusses und ließ mich weiter treiben, ohne noch einmal zur Ruine zurückzublicken. Vor mir hörte ich bereits das leise Rauschen des turbulenter werdenden Wassers und sah eine dünne weiße Gischtwolke. Schnell hatte ich diesen Katarakt erreicht und stieß auch sofort mit der linken Bordwand an einen größeren Stein. Rechts gleich noch einmal. Wirbel bildeten sich in kleinen Kreisen, und ich versuchte, mit dem Paddel die Richtung zu halten. Aber es gelang mir nicht ganz, plötzlich stand ich völlig quer, und ein größerer Wasserschwall schwappte ins Boot. Zum Glück stieß ich mit dem Heck an einen Felsen, wodurch ich im letzten Moment wieder in Fahrtrichtung gedreht wurde, bevor mein Kanu ganz umkippen hätte können. Von links stürzte ein Bach über einen kleinen Wasserfall in den Fluss und trieb mich vom Ufer weg, dem ich schon gefährlich nahe geraten war. Ich gelangte auf die andere Seite, wo das Wasser eine tiefe Auskolkung im Steilufer geschaffen hatte, es war eine schattige Halbhöhle unter einem überhängenden Felsen. Ich musste den Kopf einziehen und war kurz erstaunt über die feuchte und kühle Luft, die ich dort einatmete. Ich stieß mich mit dem Paddel von der Felswand ab, da mich die Strömung dagegen drückte und ich sonst nicht wieder weggekommen wäre. Dann noch einen weiteren großen Stein umrunden, über eine holprige Felsenschwelle darüber, und das Wasser wurde endlich ruhiger. Ich fühlte mich jetzt, als hätte ich eine Wildwasserfahrt durch den Grand Canyon hinter mich gebracht, dabei war dies angeblich ganz einfach gewesen und auch für Anfänger wie mich geeignet. Na ja! Wie war dann bloß eine derartige Fahrt für Fortgeschrittene? Indes wusste ich damals natürlich nicht, welch unheilvolle Bedeutung ausgerechnet der Grand Canyon noch für mich erlangen sollte.

    Erschöpft und erleichtert ließ ich mich im wieder stilleren Wasser dahin treiben. Und wirklich, nach einigen hundert Metern erblickte ich die Stromleitung, die den Fluss in großer Höhe überquerte. Nach so viel Natur und dem überstandenen Abenteuer störte mich dieses Zeichen der Zivilisation gar nicht so, wie ich ursprünglich befürchtet hatte. Ich legte an und schob mein Boot ein kleines Stück auf die Schotterinsel hinauf. Danach schnürte ich den wasserdichten Sack auf und holte mein Uralt-Handy heraus. Ich bemerkte kurz, dass ich keine Nachrichten erhalten hatte, und sandte meine SMS ab. Nachher schaltete ich es ab, da ich ab hier ohnedies keinen Empfang mehr hatte, wie man mir erklärt hatte, auch nicht am Seeufer, an dem meine Hütte stand. Ab jetzt war ich also off-line, was meine Verbindung zur übrigen Welt betraf. Nachdem ich mit einem kleinen weißen Plastikkübel, der unter dem Sitz angebunden war, das Boot leer geschöpft hatte, verschloss ich meinen Sack und verstaute alles wieder.

    Bevor ich noch ablegte, bemerkte ich am Rand der Schotterbank zum Wald hin einige hölzerne Trümmer. Neugierig geworden, ging ich nachsehen und entdeckte das bemooste Wrack eines Holzbootes ähnlich dem meinen. Es dürfte schon lange dort vor sich hin verrotten, und ich dachte darüber nach, was so alles geschehen sein mochte. Wurde es als losgerissenes Boot hier angespült? Oder hatte es ein Unglück gegeben? Vermutlich hatte mir die viele Sonne nicht gut getan, denn ich vermeinte plötzlich, in die Zeit der „Schatzinsel" von Robert Louis Stevenson zurück versetzt worden zu sein. Vorsichtig ging ich um das Bootswrack herum und erwartete, das verblichene Gerippe eines gestrandeten Seeräubers zu entdecken. Nachdem sich diese Befürchtung zum Glück natürlich nicht erfüllte, bekam ich einen anderen, fürchterlichen Verdacht. Hatte etwa einer meiner Vorgänger in den Stromschnellen Schiffbruch erlitten? Ich hatte nichts davon gehört, machte mir aber doch einige Gedanken über die Unverantwortlichkeit der Agentur, die mich anscheinend in ein riskantes Abenteuer gestürzt hatte. Andererseits verspürte ich einen gewissen Stolz darüber, dass ich diese Gefahr gemeistert hatte. Schließlich kehrte ich zu meinem Kanu zurück und legte ab, um den letzten Teil meines Wegs zurückzulegen.

    Nach ein paar weiteren Mäandern zwischen den Felsen stürzte von rechts ein größerer Bach herunter, und danach veränderte sich der Charakter des Flusses, er wurde ruhiger und breiter. Das Steilufer, rechts im Osten, war nach wie vor felsig und bewaldet, soweit die Bäume einen sicheren Grund für ihre Wurzeln fanden. Links, im Westen,

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