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Mosaiksteine des Lebens
Mosaiksteine des Lebens
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eBook302 Seiten3 Stunden

Mosaiksteine des Lebens

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Über dieses E-Book

"Das Leben ist rund aber manchmal hat es eben seine Ecken!", sagte der Direktor zu Rotschopf und stellte ihn ein.
Verfolgen Sie gespannt Rotschopfs Weg durch die Schulen, durch die Lehrzeit und das Studium. Erleben Sie die Hürden einer Promotion. Erfahren Sie von Rotschopfs Erfolgen und seine Niederlagen, von der Liebe und den Freundschaften, die das Salz des Lebens sind.
Die "Mosaiksteine des Lebens", das sind heitere und ernste Erlebnisse aus der Zeit des Erwachsenwerdens, die sich tief ins Gedächtnis prägten. Sie werden zu Erfahrungen, Erkenntnissen, Haltungen und Lebensmaximen.
Auch im zweiten Band der "Mosaiksteine des Lebens" spürt der Autor den wichtigen Fragen nach:
- Wie und wodurch wächst und reift der Mensch?
- Wie und warum wird er der, der er ist und bleibt?

Gottfried Rössel
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum2. Sept. 2019
ISBN9783749459421
Mosaiksteine des Lebens
Autor

Gottfried Rössel

Gottfried Rössel, geboren 1939 neben den Kohleschächten im Erzgebirge als Arbeiterkind. Erwachsen geworden in einer Grundschul-, Oberschul und Lehrzeit voller Umbrüche. Studiert, promoviert und habilitiert im gespaltenen Berlin. Gearbeitet als Assistent, Oberassistent, Dozent und Professor - treu immer "im akademischen Ochsenzug." Den Wind um die Ohren bekommen, in den Führungsgremien des Staates und in den Zwängen der Wendejahre. Sich wiedergefunden als Forscher und Berater in München und Stuttgart, als Hochschullehrer am Ostseestrand. Bis heute immer weiter, denn - rasten ist rosten. Immer bemüht, nicht vor seiner Zeit zu sterben.

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    Buchvorschau

    Mosaiksteine des Lebens - Gottfried Rössel

    In dankbarer Erinnerung an meine

    Freunde, die Lehrer, die Assistenten,

    die Dozenten und Professoren,

    die viele Wege ebneten.

    Vorwort:

    Nach dem der erste Band der „Mosaiksteine des Lebens" mit Interesse, Zustimmung und hilfreicher Kritik aufgenommen wurde, legt der Autor nun den zweiten Band vor.

    Rotschopf muss nun erwachsen werden. Die Freuden und Schwierigkeiten dieser wichtigen Entwicklungsphase sind eingebettet in die sozialen und politischen Gegebenheiten der DDR, die in erbitterter Ost - West - Konfrontation existieren muss.

    Das Leben ist reich an Hoffnungen und Enttäuschungen, Erfolgen und Niederlagen, Freundschaften und Liebe. Ein junger Glückssucher ist unterwegs, verfolgen Sie seine Wege.

    Ich wünsche Ihnen, verehrte Leserinnen und Leser, viel Vergnügen und ein gutes Maß an Erkenntnisgewinn!

    Ihr Gottfried Rössel

    Inhaltsverzeichnis

    Vorwort:

    Weitergehen

    Vom Geben und Nehmen

    Herzensliebes Fräulein

    Über den Berg kommen!

    Die Bolde

    Das Memorandum

    Darf ich bitten?

    Gefangen

    Die Weichen des Lebens

    Ein Schritt zurück, zwei Schritt nach vorn!

    Die Schnapsideen

    Die Herrlichkeit und das Grauen

    Die verrückte Stadt

    Wenn es einmal anders kommt…

    „Studere" heißt sich bemühen!

    Eine Einmischung

    Spurwechsel

    Per Fahrstuhl in den Himmel

    Der Dritte Weg

    Das Ding mit Kurt und Walter

    Der Wirtin - Vers

    Die Feuerwehrhose

    Die Weltveränderer

    Für uns sollte es immer rote Rosen regnen!

    Das Problem und seine Lösung

    Kaltes Wasser

    Die Bureau-Ordnung 1863

    Borovezer Gespräche

    Biografie

    Weitergehen

    Wie die Schwärme der Zugvögel zu dieser Zeit, so kamen sie eines Morgens, Anfang September, nach Neuoelsnitz. Über vierzig junge Leute, die meisten auf ihren Fahrrädern. An der Schulstraße, vor der „Adolf-Hennecke-Schule", kamen die Gruppen zum halten. Die Räder wurden abgestellt und alles drängelte durch die breite, schwere Eingangstür.

    Sie kamen aus Oelsnitz, Lugau, Niederdorf, Niederwürschnitz, Oberwürschnitz, Erlbach und Hohndorf, vielleicht ist noch ein Ort vergessen, egal. Ein paar Neuoelsnitzer waren dann auch noch dabei. Die hatten es gut, sie wohnten gleich um die Ecke.

    Die „Hennecke Schule wurde ab 1.9.53 „Mittelschule und bot nun die Klassen 9 und 10 an, mit dem Abschluss „Mittlere Reife". Deshalb also der Andrang. In den Wochen vor Schulbeginn, gab es denkwürdige Gespräche in den Bergarbeitersiedlungen. Da fragte die neugierige Nachbarin:

    „Noah, woas mocht de dei Gung noach dr Schul? Die Antwort: „Noh der gieht feih weiter! Die erstaunte Reaktion der Nachbarin: „Noah doah!"

    Das war vielleicht Staunen oder Verwunderung? Es konnte aber auch heißen, wozu denn so was? Ihr spinnt doch, was soll das denn? Vielleicht auch, könnt ihr euch denn das leisten?

    Lugau /0elsnitz war traditionelles Kumpelland, „hier ging man nicht weiter! Hier ging man nach der Grundschule auf den Schacht. Und „de Madels ,die gingen in die Spinnerei oder in die Strumpfbude. Da verdienten sie etwas Geld und konnten warten, bis sie einer heiratete.

    Wieso sollten die noch zur Schule gehen? Fragten die Mütter.

    Und wozu auch noch zur Mittelschule, immer diese neumodischen Dinge! Musste das denn sein? Es ging doch bisher auch ohne!

    So hat es sicher in den Bergarbeiterfamilien lange Diskussionen darüber gegeben, wie dieses „Weitergehen" des Sohnes oder der Tochter wohl funktionieren sollte.

    Zuerst kam dann sicher das Wirtschaftsgeld zur Sprache. Konnte man darauf verzichten? Hatte man genug, um die Kinder weiter mit Essen, Kleidung, Büchern und einem kleinen Taschengeld zu versorgen? Dann kamen schon die nächsten Fragen: Was konnte man mit der zehnten Klassenschule anfangen? Wo wurde jemand mit der „Mittleren Reife" gebraucht?

    „Ach so, zum Abitur sollte es weitergehen? Und wer sollte das bezahlen? Und dann mit Abitur, was sollte man dann machen? Ach so, studieren und wer bezahlt das? Stipendium sollte es geben, aber für wen und wie viel?

    Hundert Fragen, wenig sichere Antworten. Man ging also ins Risiko. Und risikofreudig waren die Kumpels bestimmt nicht. Ihr Beruf und die ständige Lebensgefahr machten sie eher risikoscheu. Da staunte Rotschopf, als der Vater sagte: „Aber wo gehen gute Dinge ohne ein gewisses Risiko?!" Ohne lange zu reden, machte er sich daran, die notwendigen Papiere für seinen Sohn zu unterschreiben.

    Damit war Rotschopf nun auch ein „Weitergeher".

    Die jungen Leute kamen voller Neugierde und voller Erwartungen. Schwung und Elan war bei allen erkennbar. Ein paar besonders Gute kamen schon mit Visionen. Sie wollten Tierarzt oder Apotheker, Chemiker oder Diplomingenieur werden. Aber das waren sicher die Ausnahmen. Die meisten wollten erst einmal etwas lernen, alles Weitere würde sich dann später finden.

    Für diese Schule war man ausgewählt worden. Man musste „feih ah`genomme wärn." Von 24 Achtklässlern waren dann vielleicht vier dabei.

    Als erstes kam die Begrüßungsrede des Direktors. Rotschopf lehnte sich zurück, er wusste, dass ihn solche Reden langweilten. Alles bekannt, dachte er: Aufbau des Sozialismus und besseres Leben, neuer Lebensabschnitt mit neuen Herausforderungen. Fleiß, Ausdauer und Mut sind gefragt. Die Lehrer sind eure Helfer und an eurer Seite. Löst alle Probleme gemeinsam. Und dann am Ende natürlich viel Erfolg, viel Gesundheit und auch die besten Grüße an die Eltern. Das war es doch? Nicht ganz! Da kamen noch zwei, drei Sätze:

    „Vergesst es nie, ihr werdet dringend gebraucht, euer Können, euer Wissen, eure Tatkraft, das alles ist sehr wichtig! Das Land braucht euch! Die Menschen warten auf euch! Ohne euch wird es künftig nicht gehen!"

    Fast sicher, dass Rotschopf damals über diese Sätze gelächelt hat. Vielleicht sagte ein Anderer auch: „Ganz guter Abgang! Wieder einer merkte lässig an: „Alles bekannt, naja was solls?

    Wie sollten diese Vierzehnjährigen damals auch begreifen, dass hier ein ganzes Staatsprogramm in wenigen Sätzen steckte? Gebraucht werden, ich, du, er, wir, alle?

    Den wirklichen Wert dieser wenigen Sätze hat Rotschopfs Generation erst mehr als dreißig Jahre später verstanden. Als zur Wende und danach viele, viel zu viele, nicht mehr gebraucht wurden. Keiner auf sie wartete, keiner nach ihnen fragte, keiner sie einsetzen wollte, weil sie einfach überflüssig waren. Ihr Wissen, ihr Können, ihre Erfahrung, ihr Engagement, ihr Leistungswille war über Nacht wertlos geworden.

    Gebraucht werden, welch ein Glück, haben damals sicher viele gedacht. Sie konnten sich mit der neuen Situation nicht abfinden, konnten es nicht fassen, nichts mehr wert zu sein.

    Wenn man es weiterdenkt, hat gebraucht werden also viel zu tun mit dem Wert und der Würde eines Menschen. Wie ist es um die Würde eines Menschen bestellt, der nichts wert ist? Verliert einer, der nicht gebraucht wird, einen Teil seiner Menschenwürde? Ja wahrscheinlich, aber die Menschenwürde soll ja unantastbar sein. Wie viele verloren dann mit der Wende auch ihre Würde? Und wie konnten sie damit weiterleben?

    Ja, dieses „Gebrauchtwerden" hatte es wohl in sich. Solche Gedanken hatte ein Vierzehnjähriger damals sicher nicht.

    Es war einfach bequem, die Schule weiter zu besuchen. Er kannte die Lehrer, viele Klassenkameraden und das Umfeld. Er hoffte, er würde sich schnell einrichten. Die Veränderungen, das Neue, das Unbekannte reizte ihn wenig. Nein, er glaubte an Bleibendes, das Feststehende, die Kontinuität. Warum eigentlich? Aus Bequemlichkeit, aus Schwäche, aus Angst, vielleicht von allem ein Bisschen? Alles was er damals zu leisten hatte, die Schule mit ihren Anforderungen, der Garten und die Kleintierhaltung, der nie ruhende Baubetrieb des Vaters, dieses Pensum als Ganzes war ihm schon mehr als genug. Die Pubertät verdarb ihm die Laune. Oft wusste er nicht was er wollte, und wohin er wollte schon gar nicht.

    So war er beruhigt, dass der Schulbetrieb 1953 ganz normal begann. Ein Streber wollte und konnte er nicht werden. Er war eher bescheiden, unauffällig, zurückhaltend und vielleicht manchmal auch etwas ängstlich.

    Auch in den nächsten Jahren würde er kaum eine Vorstellung davon haben, was er einmal werden könnte. Wurde er doch danach gefragt, so antwortete er mehr aus Verlegenheit oder weil ihm nichts Besseres einfiel, vielleicht Lehrer. Aber das auch sicher nur deshalb, weil er die Arbeit der Lehrer täglich erlebte. Uninteressant fand er das nicht, vielleicht dachte er auch gern an freie Nachmittage und die langen, langen großen Ferien.

    Alle seine Lehrer, egal ob sie Müller, Ebert, Kinder, Scheibe oder Neumann hießen, waren sich in ihrer Art, ihrer Methodik und ihren Prinzipien doch sehr ähnlich. Das mochte viel mit ihrer Herkunft, ihrem Werdegang, ihrer Ausbildung und sicher auch mit der Zeit in der sie lernten und lehrten zu tun haben.

    Fast alle waren sie Neulehrer, die über Abend- und Wochenendstudium und Lehrgänge in den Sommerferien sich mühsam ihr Wissen erarbeiten mussten. Oft lernten sie in den Nächten, was sie am nächsten Tag lehrten. Sie hatten die verschiedensten Berufe erlernt und kamen häufig aus Arbeiterfamilien. Auch nach vielen Jahren noch, würde Rotschopf sagen, dass er engagierte und sehr bemühte Lehrer hatte.

    Dass man Lehrer verspottete, über Lehrer lachte, sie hasste oder gar beleidigte und bedrohte war zu dieser Zeit nicht vorstellbar.

    Natürlich gab es auch damals Scherze, die man mit Lehrern machte. Da polterte und klopfte es einmal im Klassenschrank und keiner konnte den Schlüssel finden. Ein andermal bewegte sich die Holztreppe, die vor der Tafel lag – harmlose Späße, die die guten Beziehungen von Lehrern und Schülern nicht ernsthaft störten.

    Es gab ein breites, aber traditionelles Fächerangebot. Dazu gehörten Deutsch, Mathematik, alle Naturwissenschaften, Kunst, Sport und Musik. Natürlich gab es auch Geschichte und Gegenwartskunde. Die Achillesferse dieser Ausbildung waren die Sprachen. Russisch war Pflichtfach, aber total unbeliebt. Nach der Wende würden die Ostdeutschen merken, dass die fehlenden Sprachkenntnisse im Englischen, Französischen oder Spanischen ihre Zukunftsperspektiven besonders behinderten.

    Generell hatte die Ausbildung die notwendige Breite und Tiefe, um eine gute Allgemeinbildung zu sichern und später eine Basis für eigenständige Identitäten und Persönlichkeiten zu schaffen.

    Was gab es für eine wunderbare breite Deutschausbildung! Da fanden sich Lessing, natürlich Goethe und Schiller, Kleist und Heine, Keller und Fallersleben, aber auch Maxim Gorki, Gogol und Ostrowski. Damit hatte man Kenntnisse über „Nathan der Weise, den „Faust, „Egmont, „Die Räuber, „Die Harzreise, „Der zerbrochene Krug, „Der Revisor und natürlich auch Wie der Stahl gehärtet wurde.

    Und sie haben es dann auswendig gelernt:

    „Das Wertvollste was der Mensch besitzt ist das Leben. Es wird ihm nur ein einziges Mal gegeben und nutzen soll er es so, dass ihm zwecklos verlebte Jahre nicht reuen, dass ihn die Schande einer niederträchtigen und kleinlichen Vergangenheit nicht brennt und dass er sterbend sagen kann: Mein ganzes Leben, meine ganze Kraft hab ich dem herrlichsten in der Welt, dem Kampf um die Befreiung der Menschheit gewidmet!"

    Ein Heer von Berufsrevolutionären sind sie nach Ostrowskis Mahnungen nicht geworden. Aber nachdenklich waren sie damals schon. Vielleicht begannen manche erstmals bewusst nach dem Sinn des eigenen Lebens zu suchen und den Wert des Lebens zu überdenken. Was waren zwecklos verlebte Jahre, die einen reuen könnten? Und die Befreiung der Menschheit, wo beginnt sie und wann endet sie? Viel Stoff zum Nachdenken für gestern, heute und morgen.

    Immer ging es auch um die Vermittlung von Werten. Nie um den Wert von Geld, das heute ja zum Wert aller Werte geworden ist! Nein, Geld spielte bei der Wertevermittlung keine Rolle.

    An der Spitze aller Werte, um die es zu kämpfen galt, stand damals der Frieden. Noch waren keine zehn Jahre nach dem letzten Krieg vergangen, noch waren die Wunden nicht verheilt, die Ruinen nicht beseitigt. Deshalb ging es immer und zuerst um den Frieden, da gab es keine Kompromisse.

    Das Ideal des Friedens war eng verbunden mit einem Gelöbnis zur Völkerfreundschaft. Jeder dachte dabei vordergründig an die Menschen der Sowjetunion und der Volksrepubliken. Einbezogen wurden auch die Menschen der jungen Nationalstaaten und der letzten Kolonien.

    Wichtige Werte waren, die umfassende soziale Sicherheit, die die DDR allen ihren Bürgern bot. Keine Arbeitslosigkeit, keine Obdachlosigkeit, keine Bettler, keine Elenden, die irgendwo dahin vegetierten!

    Gute Bildung für alle, von der Kinderkrippe bis zur Universität, selbstverständlich kostenlos! Fast kein Student, ohne staatliches Stipendium!

    Ein Gesundheitswesen, das die Worte Gewinn und Profit nicht kannte und für alle gleichermaßen erreichbar war.

    Zugegeben, mit dem Begriff Freiheit als Wert hatten sie wenig am Hut! Mit Freiheit für irgendwelche Parteien schon gar nicht. Freiheit war nach Engels, die Einsicht in die Notwendigkeit! Freiheit spielte vielleicht eine große Rolle in der Französischen Revolution, in der amerikanischen Sklavenbefreiung und in der Befreiung der arbeitenden Massen.

    So waren die Dogmen! Wem diese Freiheit nicht passte, der konnte gehen! Rotschopf verlor einen seiner besten Freunde. Die Rechtsanwaltsfamilie ging über Nacht in den Westen. Das Leben ging weiter.

    Den Abschluss der „Mittleren Reife haben alle geschafft. Der Spaß am Denken war geweckt, das Erkennen von Zusammenhängen ging leichter. Interessen begannen sich zu zeigen, Wünsche wurden lauter. Sicher hatten sie noch nicht verstanden, dass dieses „Weitergehen auch für alle Zukunft galt.

    Lebenslanges Lernen würde man es später nennen, um so die Dynamik des Lebens und der Zeit zu begreifen und immer wieder zu versuchen, diesen Anforderungen gerecht zu werden. Bis ins hohe Alter, auch wenn es manchmal schwer fällt!

    Vom Geben und

    Nehmen

    Der März hatte kalt mit Schneeschauern begonnen. Diese nasse, unangenehme Kälte durchdrang die Kleidung der Menschen. Der Frühling war die Hoffnung, irgendwann musste er ja endlich kommen.

    Dem alten Postboten machte seine Arbeit bei diesem Wetter wenig Freude. Er stampfte mit dicken Stiefeln durch die Pfützen. Von seiner Mütze tropfte Schneewasser. Über seiner dicken Winteruniform trug er noch einen dunklen Regenumhang, der ihm die Arbeit erschwerte. Seine nassen, roten Hände fanden nur mit Mühe den Ausgang aus diesem Umhang. Er reichte der Mutter an der Haustür einen hellblauen Briefumschlag.

    Hellblau, dachte die Mutter, wer verschickte denn so was? Briefe waren damals weiß oder gelb oder auch hellbraun. Aber hellblau, so ein wässriges, seltenes Hellblau, nein! Die Mutter konnte sich keinen Vers darauf machen. In der Küche schob sie sich schnell die Brille auf die Nase. Der Brief war an ihren Mann adressiert und kam von der Mittelschule Oelsnitz.

    Na, was soll das, dachte sie. Wollten die wieder Schulgeld für den Sohn? Oder was sonst? Sie drehte den Brief in den Händen, hielt ihn gegen das Licht, nichts zu erkennen. So eine seltsame Farbe aber auch, sagte sie zu sich. Endlich öffnete sie das Schreiben mit einem kräftigen Ruck. Schnell nahm sie die eine Seite aus dem Umschlag und überflog den Inhalt:

    Sehr geehrter Herr R.

    Ich informiere Sie heute darüber, dass Ihr Sohn G. R. zurzeit

    versetzungsgefährdet ist (Note 4, in den Fächern Russisch,

    Mathematik, Physik). Wir sollten in den künftigen Monaten

    gemeinsam alle Anstrengungen machen, um die Versetzung

    doch noch zu ermöglichen. Es wäre sinnvoll, wenn Sie den

    nächsten Klassenelternabend besuchen würden, um mit dem

    Klassenlehrer Ihres Sohnes Herrn K. alle Details abzusprechen.

    Hochachtungsvoll

    Ebert

    Direktor

    PS. Bitte bestätigen Sie den Empfang dieses Briefes durch ihre Unterschrift.

    Das war`s nun, dachte die Mutter. Eine gewisse Ahnung hatte sie ja schon. Der Sohn hatte ab und an mal eine Klassenarbeit mit der Note 4 von ihr unterschreiben lassen. Zu Vater traute er sich damit nicht.

    Aber nun dieser Brief, den konnte sie nicht vor ihrem Mann verheimlichen. Und wie würde der wohl reagieren? Mit einem Wutausbruch? Vielleicht würde er den Jungen schnell von der Schule nehmen? Mit den Lehrern sprechen? Den Jungen weniger beim Hausumbau einsetzten? Sie wusste es wirklich nicht.

    Eigentlich gab sie dem Vater die Schuld oder doch nur die Mitschuld? Viele Stunden in der Woche und natürlich Samstag und Sonntag, arbeitete der Junge beim Hausumbau! Er hatte einfach zu wenig Zeit für die Schule, sie sagte es doch immer! Der Vater wollte das nicht hören und Rotschopf wehrte sich nicht, weil er sich nicht traute.

    Da kam Rotschopf gerade nach Hause. Er sah den Brief und wusste Bescheid. Voller Unruhe dachte er nur noch an eins: Was würde der Vater dazu sagen?

    Am frühen Nachmittag, nach dem Kaffee, war es dann soweit. Der Vater las den Brief, langsam und gründlich. Er räusperte sich, blieb ganz ruhig. Die Mutter verließ leise die Wohnküche. Der Sohn saß zerknirscht, mit rotem Kopf, vor ihm. Gleich musste was passieren, dachte er. In der Küche hörte man nur die Wanduhr ticken. Vater steckte sich eine Zigarette an.

    „Sieht also nicht so gut aus, stellte er nach einiger Zeit fest. Rotschopf nickte stumm. „Woran liegt es, bist du zu faul oder fällt es dir zu schwer oder bist du zu viel mit auf dem Bau? Der Vater erwartete keine Antwort. Er hatte sich wieder auf seine Sofaecke gesetzt. Ganz langsam wickelte er alte Leinentücher, die mit Öl und Arnikatinktur getränkt waren, erst von der rechten und dann von der linken Hand. Dann drehte er langsam seine Hände, so dass der Sohn die Innenflächen sehen konnte. Der erschrak zutiefst.

    Die Innenflächen der Hände, aber auch die Finger, hatten dicke hornige Schwielen. In der Mitte der Hände waren die Schwielen aufgeplatzt und man sah tiefe Risse voller Blut und Kohlenstaub. Vorsichtig drückte der Vater ein Stück der Leinenbinde auf die Risse und tupfte das Blut ab. Dabei verzog er schmerzhaft das Gesicht. Rotschopf wusste, dass diese Hände nicht heilten, weil sie täglich wieder mit dem Presslufthammer Kohle brachen. Er wusste nicht wo er hinsehen sollte. Dann sagte der Vater ganz ruhig: „Schau dir alles gut an. So oder so, du hast die Wahl, entweder du lernst mehr oder du hast ein Leben, wie es dein Vater hat. Du kannst sofort mit mir auf den Schacht gehen, wenn du nicht mehr zur Schule gehen willst."

    Sorgfältig und langsam wickelte er sich die Lappen wieder um die Hände. Dann fragte er den Sohn leise: „Warum nimmst du deine Arbeit nicht ernst? Bei der Arbeit gilt, egal was du machst, mache es mit ganzer Kraft und ganzem Herzen!"

    Dann zog er seine alten Bauklamotten an. Heute wollte er neuen Estrich im Waschhaus auftragen. „Mit diesen Händen?, dachte Rotschopf. Er wollte helfen,„nein, nein ,sagte der Vater,„die Schule geht jetzt vor!"

    Der Zettel aus dem blauen Brief war am nächsten Morgen unterschrieben. Vater verlor kein Wort mehr über diese Sache.

    Ein paar Tage später sagte er zu Rotschopf: „In vierzehn Tagen, am Sonntag, fahre ich mit dir ein. Ich will dir den Schacht zeigen und du kannst mir helfen." Den Schacht zeigen? Gerade jetzt, dachte der Junge. Vielleicht wollte er ihn doch schnell von der Schule nehmen? Auch die Mutter erschrak bei diesem Gedanken.

    Vater war an diesem Sonntag „Wettermann". Das war eine verantwortungsvolle Aufgabe, die nur erfahrenen und vor allem besonders verlässlichen Kumpeln übertragen wurde. Man hatte nach einem festgelegten Plan das Revier zu begehen. Messdaten an verschiedenen Orten abzulesen und zu prüfen, ob irgendwo Bergstürze, Wassereinbrüche oder Gaskonzentrationen auftraten. In der Regel ging man allein, deshalb musste man die Strecken sehr gut kennen.

    Die Mutter packte für den Sohn feste Schuhe, eine alte Hose, ein Hemd und ein verschlissenes Sakko zusammen. Über Tage, vor der Einfahrt, erhielt er noch eine schwere Grubenlampe, die an einem Ledergürtel um den Hals getragen wurde und einen alten Grubenhelm aus harter Plaste. So stand er Sonntags früh, gegen sechs, mit Vater und vier weiteren Kumpeln vor einem Gittergestell im Förderturm des Schachtes. Von hier aus stiegen sie in den Korb, einem Aufzug, der sie in sekundenschnelle mehr als 700 m in die Tiefe rauschen ließ. Rotschopf schwindelte es bei dieser Höllenfahrt. Der Vater hatte ihn fest am Arm gepackt. Der Korb setzte weich auf, Rotschopf zitterten die Knie. Zwei Kumpel öffneten die Gittertüren, einer rief: „Glückauf Willy, hast

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