Wild wie die Wellen des Meeres
Von Anna Stern
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Über dieses E-Book
Angesiedelt im Nordwesten Schottlands sowie am Bodensee erzählt "Wild wie die Wellen des Meeres" die vielschichtige Beziehung zwischen den beiden Liebenden. Anna Stern folgt der Familiengeschichte von Ava Garcia bis weit in die Vergangenheit, parallel dazu schildert sie die Gegenwart von Paul Faber.
Stern gelingt ein beeindruckender Roman über den Umgang mit Trauer, die Präsenz der Vergangenheit und die trügerische Authentizität von Erinnerungen.
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Buchvorschau
Wild wie die Wellen des Meeres - Anna Stern
ERSTER TEIL
1.
Roberta Fripp – zartgliedrig und mit dem grauen Haar einer Großmutter, jedoch ohne Milde im Blick, der entschlossen ist, beinahe hart – lehnt sich in ihrem Sessel zurück, schlägt ein Bein über das andere und verschränkt ihre Hände im Schoß.
Sicher, Herr Faber, sagt sie, Ihre Sorgen sind legitim, und ich kann nachvollziehen, dass Sie aufgewühlt sind und verunsichert, doch ich gehe davon aus, dass Sie wissen, dass ich Ihrer Bitte nicht entsprechen kann. Sie wissen genauso gut wie ich, dass diese Informationen unter das Arztgeheimnis fallen, und selbst Ihre Stellung als Polizeibeamter befreit mich nicht davon. Ava Garcia war – Ava Garcia ist meine Patientin, und Sie sind weder ihr Erziehungsberechtigter noch ihr Ehemann. Ihnen als Privatperson kann und darf ich über meine Gespräche mit Frau Garcia keine Auskunft geben, wie weit auch immer diese zurückliegen. Ich verstehe, dass Sie sich in der Vergangenheit auf die Suche nach Antworten zu Geschehnissen der Gegenwart machen, doch ich kann Ihnen diesen Zugang zu Frau Garcias Vergangenheit nicht gewähren. Auch mir selbst fiele die eine oder andere Frage ein, die ich Ihnen – in der Hoffnung, dadurch den einen oder anderen weißen Fleck auf der Landkarte von Frau Garcias Kindheit und Jugend zum Verschwinden zu bringen – gern stellen würde. Doch das ändert nichts daran: Das Arztgeheimnis bindet mich, ich fühle mich Hippokrates verpflichtet.
Während sie spricht – ihre Stimme weich und buttrig golden –, steht Roberta Fripp auf und geht vor dem Fenster auf und ab, durch das hell und warm und vom majestätischen Blätterdach der Eiche im Garten gefiltert die Sommersonne scheint. Schließlich durchquert sie mit den leichten Schritten einer Tänzerin ihr Behandlungszimmer und zieht ein dünnes, blaues Schulheft aus dem Bücherregal hinter ihrem Schreibtisch. Dann setzt sie sich Paul Faber wieder gegenüber.
Nichtsdestotrotz will ich Ihnen ein Angebot machen, sagt sie, einen Vorschlag. Ich gebe Ihnen dieses Heft hier, und Sie schreiben darin alles auf, was Frau Garcia und Sie verbindet, Sorgen, Ängste, Erinnerungen, Träume, Wünsche – alles. Und wenn Sie fertig sind, kommen Sie zurück, und wir werden gemeinsam sehen, wie sich das mit meiner Einschätzung von Frau Garcia deckt. Ich erhalte einen Überblick über Ihre Beziehung, darüber, inwieweit Sie eingeweiht sind in die Geschehnisse, und kann dann besser beurteilen, was und wie viel ich Ihnen erzählen kann, erzählen darf. Ich schlage vor, wir sehen uns in zwei Monaten wieder, Ende September, so haben Sie genug Zeit, um Ihre Erinnerungen festzuhalten. Vereinbaren Sie am besten beim Hinausgehen bei Frau Hirsch im Sekretariat einen neuen Termin.
Roberta Fripp erhebt sich, und auch Paul steht auf, und er nimmt das blaue Schulheft entgegen, das die Frau ihm reicht, und sie schütteln sich die Hände.
2.
Die letzte Nachricht, die Ava vor dem Abflug erreicht, ist von Martha Halloran: Have to work, sorry. Just ask at the gallery, Lorca/Allen will show you around. I’ll be there at 4 pm xx M.
Ava schaltet das Telefon aus und fliegt.
Eine Stunde nach der Landung durchschreitet Ava die belebte Bahnhofshalle der Victoria Station und verschwindet die Treppen hinunter in die U-Bahn, fährt mit der District Line und der Hammersmith & City Line bis Ladbroke Grove.
Portobello Road. Martha Halloran ist umgezogen seit Avas letztem Besuch und bewohnt jetzt ein Zimmer im obersten Stock von Lorca und Allen Tomberlins Haus.
Hallo, sagt Ava, ich bin Ava.
Hallo, sagt die Frau hinter dem Tresen, ich bin Lorca.
Hallo, sagt der Mann, der gerade ein Bild von einem Wal an die Wand hämmert, ich bin Allen.
Balaenoptera musculus, sagt Ava.
Genau, sagt Allen und dreht sich um, der Blauwal.
Komm, sagt Lorca, ich zeig dir, wo Martha wohnt.
Das Haus ist schmal, das Treppenhaus ist schmal, es gibt jeweils einen Raum je Treppenabsatz.
Wie in Notting Hill, sagt Ava.
Wir sind in Notting Hill, sagt Lorca.
Ich meine den Film mit Hugh Grant und …
Ja, ja, sagt Lorca und lacht, alle Besucher meinen immer den Film mit Hugh Grant und …
Die Treppe ist mit dunkelrotem Spannteppich ausgelegt, Bilder hängen überall. Die Küche ist voller Bücher, und ein im Vorübergehen erhaschter Blick ins Bad offenbart Fliesen in Rosa und Gold und kleine Glühbirnen, in deren funzligem Licht der Wildschweinkopf über dem Spiegel nicht unbedingt vertrauensvoller erscheint. Eine Katze springt Ava entgegen.
Das ist Marthas Reich, sagt Lorca.
Sie stößt die Tür auf in ein helles Zimmer, in ein schmales Zimmer, ein karges Zimmer.
Fühl dich wie zu Hause, sagt Lorca, und wenn du etwas brauchst, sagst du einfach Bescheid.
Sie stellt ihre Tasche ab, den Rucksack, und sieht sich im Zimmer um: hellblaue Wände; unebene, weiß gestrichene Dielen; eine Kommode, darauf ein Spiegel; ein kleiner Schreibtisch, darunter ein Stuhl; ein Bett, das direkt unter dem Fenster steht und die gesamte Breite des Zimmers einnimmt. Ava setzt sich darauf, legt sich hin, durch das Fenster scheint die Sonne, es ist warm.
Ava ist müde. Sie hat kaum geschlafen letzte Nacht bei Paul.
Sie legt eine Hand auf ihren Bauch.
Sie sollte etwas essen, sie wollte in die Wellcome Collection. Sie rollt sich auf die Seite und macht die Augen zu.
Sleepyhead, sagt Martha Halloran und setzt sich neben Ava aufs Bett, wake up.
Ava streicht sich das Haar aus dem Gesicht, die Sonne steht tiefer.
Hast du die ganze Zeit geschlafen, sagt Martha Halloran.
Ava umarmt ihre Freundin.
Schön, dich zu sehen, sagt sie.
Likewise.
Martha Halloran zieht sich um und macht sich zurecht; sie reden.
Ready, sagt Martha Halloran.
Ready, sagt Ava.
Na dann, dann also los.
Sie gehen die Portobello Road entlang. Martha Halloran lenkt Ava geschickt zwischen den Farben und Sprachen, zwischen Warenständen und Touristen hindurch.
Hier, sagt sie und stößt die Tür zu einem libanesischen Deli auf.
Sie grüßt den jungen Mann an der Kasse, stellt ihn Ava als Hamid vor und tauscht dann in vertrautem Ton Nettigkeiten mit ihm aus, bevor er mit ihnen zur Kühltheke geht. Mit Kennermiene wählt Martha Halloran verschiedene Speisen aus, die Hamid in einzelne Behälter verpackt. Für Ava wiederholt Martha Halloran die Namen:
Hummus.
Tabbouleh.
Mutabbal.
Ful.
Warak Enab.
Fatayer.
Balila …
Dazu Pitabrot.
Du willst mich mästen, sagt Ava.
Es ist kurz nach fünf, als sie beim Serpentine Lido ankommen.
Hurry up, sagt Martha Halloran, wenn wir noch schwimmen wollen, müssen wir uns beeilen.
Sie bezahlen den Eintritt und ziehen sich um.
Ava steht auf der Terrasse und blickt auf das Wasser, eine glitzernde Fläche im warmen Licht der hinter den Bäumen verschwindenden Abendsonne. Tret- und Ruderboote gleiten über den See, dazwischen treiben Schwäne dahin oder gründeln am Ufer, die Vögel lassen sich weder vom regen Verkehr auf dem offenen Wasser noch von den Schwimmern in dem mit Leinen markierten Schwimmbereich in ihrer majestätischen Ruhe stören.
Ava denkt an ihren See, an die Schwäne dort, an Paul.
The ineluctable strangeness of swimming with swans.
Sie folgt Martha Halloran über die Brücke an den Uferabschnitt, der für Schwimmer reserviert ist, und sie vergisst den anderen See, vergisst Paul.
Ava und Martha Halloran suchen sich einen Platz im Schatten einer großen Eiche, setzen sich ins hohe Gras.
Und du musst wirklich morgen schon wieder weg, sagt Martha Halloran.
Ja, sagt Ava, am Abend.
Ich muss arbeiten, sagt Martha Halloran, nicht so früh zum Glück. Und wenn du willst, kannst du mitkommen und ich führe dich herum.
Eine Privatführung durch Kew Gardens, sagt Ava, das lasse ich mir natürlich nicht entgehen.
Schön, sagt Martha Halloran, ich freue mich.
Als es dunkel wird, ist Ava erstaunt über die vielen Sterne, die trotz Luft- und Lichtverschmutzung zu sehen sind.
Vega.
Altair.
Deneb.
3.
18. Juli 2017
Paul wacht auf.
Ava ist weg.
4.
Ava überquert die Straße und geht auf die Euston Station zu, Reisetasche in der Hand, Rucksack auf dem Rücken.
Über einer Apotheke blinkt abwechselnd mit der Temperaturanzeige eine Uhrzeit auf: 18:49.
Sie ist früh, sie ist nervös, und sie ist aufgeregt: Martha Halloran weiß nun Bescheid. Sie setzt sich auf eine Bank, draußen. Es ist immer noch warm, ein weiterer heißer Sommertag, der zu Ende geht. Die Sonne scheint zwischen den hohen Häusern hindurch, Busse, Autos, Stimmen überall. Leute gehen vorbei, Reisende mit Koffern, Pendler, Liebespärchen, Händchen haltend, sich küssend; andere liegen in dem kleinen Park, aus Papiertüten riecht es nach Fastfood, sie spielen auf ihren Telefonen, sie hören Musik, sie schlafen. Ava nimmt ein Buch aus ihrem Rucksack, Lolita von Vladimir Nabokov: Sie hat es Martha Halloran geklaut.
Die Uhr blinkt 19:47, Avas Zug fährt erst nach elf. Sie steht auf und geht in das Bahnhofsgebäude hinein, es ist stickig, tropisch fast, eine Frauenstimme tönt aus dem Lautsprecher durch die Ankunftshalle: See it. Say it. Sorted.
Ava nimmt eine Rolltreppe ins Zwischengeschoss und setzt sich in ein Restaurant, von dem aus sie das Gewusel der Reisenden überblicken kann und freie Sicht auf die Abfahrtstafel hat, auf der die Namen fremder Orte in orangefarbener Schrift leuchten. Die Frauenstimme gibt dieselben Angaben wieder, und immer wenn für einen weiteren Zug endlich die Bahnsteignummer aufleuchtet, lösen sich einige Männer und Frauen und manchmal Kinder aus der Gruppe der unter der Tafel Wartenden.
Jemand setzt sich neben sie, ein Herr dunkler Hautfarbe und mittleren Alters, ein Angestellter der Bahn, wie seine Jacke verrät. Er isst sein Abendessen, Burger und Pommes, er trinkt Wasser aus einer Flasche, er blättert in einer liegen gelassenen Zeitschrift und geht.
Jemand setzt sich neben sie, ein junger Mann mit Bart. Er isst sein Abendessen, Burger und Pommes, er trinkt Wasser aus einer Flasche, er blättert in der liegen gelassenen Zeitschrift und geht.
Ava steht auf und fährt mit der Rolltreppe in die Halle hinunter. Im Schaufenster der Buchhandlung locken Virginia Woolfs The Waves und ein Buch von Safran Foer, das sie noch nicht kennt. Doch sie betritt die Buchhandlung nicht und stellt sich stattdessen zu der Gruppe unter der Abfahrtstafel. Draußen ist jetzt Nacht, und doch ist es immer noch heiß in der Halle, nur manchmal stiehlt sich ein schwacher Luftzug durch die Schiebetüren und bringt etwas Abkühlung. Ava stellt die Tasche auf den Boden und den Rucksack darauf, ihr Rücken schmerzt, ihr scheint, jedes ihrer Gelenke schmerzt, die Leuchtschrift verschwimmt vor ihren Augen, die Stimme der Ansagerin schmilzt.
Watford Junction – London overground train to – Shrewsbury – If you see something that doesn’t look right – Glasgow Central – Text police, six-one-oh-one-six – Watford Junction – Close two minutes prior to departure – Liverpool Lime Street – See it. Say it. Sorted.
Dann, endlich: Ihr Zug fährt von Platform 1.
Vor der offenen Tür zu ihrem Wagen empfängt sie ein kleiner, dicker Herr mit einem Klemmbrett im Arm und einem Kugelschreiber hinter dem Ohr.
Hello, sagt er, I am your host tonight, how may I help you.
Ava braucht keine Hilfe, ihr Ticket sagt ihr, was sie wissen muss, doch sie hält es ihm trotzdem hin, und er macht zufrieden ein Kreuz bei ihrem Namen auf seiner Liste, kritzelt L to E und das Datum – 19/7 – auf ihr Ticket und fragt, ob er sie am nächsten Morgen wecken soll und ob sie dann Tee wolle oder Kaffee oder Apfel- oder Orangensaft.
No wake-up service, sagt Ava, and thank you but no, no tea, no coffee, no apple and no orange juice.
Sie steigt ein und ist überrascht, wie eng alles ist, der Gang ist so schmal, dass sie Schwierigkeiten hat, mit Tasche und Rucksack gleichzeitig zu ihrem Abteil vorzudringen, und sie malt sich aus, wie ihr Host sich hier durchwurstelt, Nacht für Nacht, wie er es löst, sollte einer seiner Guests ihm plötzlich entgegenkommen – doch vielleicht hat sie zu viel Fantasie, und Übung macht hier den Meister.
Die Tür zu ihrem Abteil steht offen, und auch hier ist alles eng. Wohin mit der Tasche, fragt sie sich und hofft, dass niemand das andere Bett gebucht hat. Sie stellt sie auf die blaue Abdeckung, unter der sich das Waschbecken verbirgt, und lässt zuerst den Rucksack und dann sich auf das untere Bett fallen.
Sie weiß nicht, ob das tatsächlich ihr Bett ist oder ob nicht doch vielleicht das obere, vielleicht stünde es außen an der Tür, vielleicht auf ihrem Ticket, vielleicht spielt es gar keine Rolle, wenn sie die Kabine für sich allein hat, doch sie mag nicht mehr aufstehen, sie mag nicht mehr denken.
Sie erinnert sich, wie jemand, vielleicht war es Paul, ihr einmal gesagt hat, sie solle bei Doppelstockbetten in Schlafsälen immer das untere Bett wählen, warme Luft und Fürze stiegen nach oben. Und sie erinnert sich an die Schul- und Ferien- und Sportlager, die sie nach Césars Unfall besucht hat, und an Emma, die so etwas wie eine Freundin war in jener Zeit und die an einer Milbenallergie litt und derentwegen sie dann doch immer oben schliefen: Das hieß Freundschaft damals.
Ava bleibt auf dem unteren Bett sitzen und denkt an Emma, an diese frühere Wirklichkeit, in der alles anders war, aber nichts einfacher; nicht, wenn man genau hinsah. Auf dem Gang gehen Mitreisende vorbei, ihre Stimmen dringen in das Abteil, doch Ava hört nicht, hört nicht zu, sie schließt die Augen, sie lässt sich fallen, sie vergisst.
Später.
Sie ist immer noch allein.
Sie setzt sich auf, schiebt die Tasche beiseite und klappt die Abdeckung auf. Das Wasser, das aus dem Warmwasserhahn schießt, ist heiß. Sie wäscht sich das Gesicht, sie putzt sich die Zähne. Sie findet heraus, wie sich die Abteiltür abschließen lässt, und geht den Korridor entlang zur Toilette am Ende des Wagens. Sie kommt an offenen Türen vorbei, Gespräche dringen an ihr Ohr, Gerüche kitzeln sie in der Nase, Popcorn, Bier. Das WC ist sauber, sie pinkelt und wäscht sich die Hände und geht durch den Korridor und an den Türen vorbei zurück, sie legt sich wieder aufs Bett.
5.
17. Juli 2017
Der Abend ist warm, und obwohl alle Fenster in Paul Fabers Wohnung offen stehen, ist es auch in deren Räumen warm. Paul stellt sich in der Küche ans Fenster und hält nach den Gewitterwolken Ausschau, die laut Wetterdienst das Ende der anhaltenden Hitzewelle bringen. Doch nichts; die Sonne schwebt als kupferroter Ballon tief am wolkenlosen Himmel, über Kaminen und Antennen und Dachterrassen, auf denen Pauls Nachbarn einen weiteren schwülen Sommerabend genießen. Bierflaschen klirren, Stimmen lachen und reden quer, der Geruch nach gegrilltem Fleisch hängt schwer zwischen den Häusern. Paul dreht sich um und geht zum Kühlschrank, er nimmt ein Bier heraus, öffnet die Flasche und trinkt, in Gedanken nicht hier. Er stellt die Flasche auf den Küchentisch, knöpft sich das Hemd auf und streift es von den Schultern, hängt es über die Lehne eines Küchenstuhls. Auf dem Tisch steht eine Schale mit Salat. Es ist inzwischen zu dunkel im Raum, als dass Paul zwischen Tomaten, roten Zwiebeln und Gurkenstücken unterscheiden könnte, doch der Feta leuchtet weiß dazwischen hervor, und das spärliche Licht, das von draußen hereindringt, bleibt am öligen Schwarz der Oliven kleben; neben der Schale liegt ein Brotbrett, darauf ein halber Laib und zwei schmale Scheiben dunkles Brot. Das Brot ist etwas trocken, er war in letzter Zeit kaum zu Hause, doch für das Auftupfen des Olivenöls wird es gehen. Er setzt sich an den Tisch.
Es klingelt an der Wohnungstür, es klopft, eine Stimme sagt, Paul, bist du da.
Ava.
Ava Maris Garcia.
Paul steht auf, geht durch den Flur und öffnet die Tür.
Ava.
Paul wartet, Ava wartet ebenfalls.
Er betrachtet sie. Es ist seit Pfingsten das erste Mal, dass er sie wiedersieht. Etwas mit ihrem Haar ist anders, es ist kürzer, und im dämmrigen Licht des Treppenhauses scheint es matter und dunkler, hat fast schon die Farbe getrockneten Blutes anstatt des üblichen Rostrots. Alles andere jedoch ist, wie es sein soll. Eine Galaxie aus bernsteinfarbenen Sommersprossen zieht sich über kantige Wangenknochen und die schmale Nase, zwischen roten Lippen lächelt eine Zahnlücke, und ein Blick in ihre Augen bestätigt Paul: Das eine ist nach wie vor grün, das andere grau.
In der Hand hält sie Hermes.
Was ist, willst du mich nicht reinbitten.
Paul öffnet die Tür weiter und geht durch den Flur in die Küche zurück, Ava folgt ihm. Paul setzt sich an den Tisch, Ava setzt sich an den Tisch. Paul beginnt zu essen, und Ava stellt Hermes zwischen sie auf das Holz.
Gemütlich hast du’s, sagt Ava, richtig einladend. Willst du kein Licht machen.
Was willst du hier, sagt Paul.
Ava steht auf und holt sich aus der Besteckschublade eine Gabel, vom Abtropfgestell ein Trinkglas und aus dem Kühlschrank die Flasche mit Holundersirup. Sie füllt das Glas mit Sirup und Wasser und setzt sich wieder an den Tisch. Sie greift sich eine Scheibe Brot und nutzt diese als Unterlage für die Tomaten und Fetawürfel und Oliven, die sie mit der Gabel aus Pauls Schale fischt.
Er wehrt sich.
Ach, sagt er, ich sehe, so geht das also: Du trinkst meinen Wein, du isst meinen Salat, aber du beantwortest meine Fragen nicht.
Kein Wein für mich, sagt Ava, das ist Limonade. Und wäre es nicht höflich, du würdest zuerst fragen, wie es mir geht.
Das ist kein Spiel, Ava, sagt Paul.
Richtig, sagt Ava, genau.
Sie steht auf und geht mit dem Glas in der Hand zum Fenster. Die Sonne ist inzwischen untergegangen, der Himmel über ihnen tintenschwarz, und nur im Westen hält sich ein dünner Streifen Rot. Ava blickt über den Innenhof in die erleuchteten Leben von Pauls Nachbarn, in von kaltem LED-Licht erhellte Küchen und dämmrige Schlafzimmer, sanfte Nachtlichter brennen hinter Kinderzimmerfenstern und Kerzen auf Balkontischen und Dachterrassen. Ava stellt das Glas auf dem Sims ab, steigt auf die Holzkiste, die umgekehrt unter dem Küchenfenster steht, und setzt sich ins offene Fenster, ihre Beine baumeln in die Nacht hinaus.
Paul ist der Appetit vergangen, er schiebt sich ein letztes Stück ölgetränktes Brot in den Mund und die Schale von sich weg; er kaut, er schluckt.
Er sagt noch einmal, Ava, was willst du hier.
Ich sehe das Sommerdreieck, sagt Ava, Vega in der Leier, Altair im Adler und Deneb im Schwan.
Paul steht auf und geht um den Tisch herum zum Fenster. Er stellt sich hinter Ava und stützt sich mit den Armen links und rechts von ihr auf den Rahmen. Sie hebt die Hand und zeigt auf die Sterne, Vega in der Leier, Altair im Adler und Deneb im Schwan.
Ich gehe, sagt sie, ich gehe morgen.
Ava sitzt still, Paul atmet ruhig, er atmet Ava: grünen Tee und Moschus, Eichenmoos und Amber und Zedernholz.
Wohin, sagt er dann, warum.
Er atmet immer noch ruhig, er bemüht sich.
Nach Schottland, sagt Ava, ich mach mein Praktikum in Kinlochewe.
Warum Schottland, sagt Paul.
Ava sitzt ihm gegenüber auf dem schmalen Balkon, Stabkerzen in Ständern brennen auf dem kleinen Tisch zwischen ihnen, die Flammen spiegeln sich in ihren Augen.
Hast du gewusst, sagt Ava, dass Erinnerung und Vorstellung die gleichen Hirnareale aktivieren. Wir brauchen die Vergangenheit, um in der Gegenwart die Zukunft zu üben.
Ava, sagt Paul, warum Schottland.
Warum nicht, sagt Ava. Die Stelle ist frei, man hat mich gefragt, und außerdem: Irgendwo muss ich das Praktikum ja machen.
Irgendwo muss nicht Schottland sein.
Ihm ist schlecht, sein Magen ist klein, seine Lungen sind eng; er würde gern eine rauchen, er hat damit aufgehört.
Muss nicht, sagt Ava, aber kann.
Irgendwo könnte auch hier sein, näher.
Ich will ans Meer, Paul, ich muss das Meer sehen.
Er steht auf und geht ins Wohnzimmer, die vertrauten Räume sind ihm plötzlich fremd. Er greift nach dem Atlas in dem Bücherregal und setzt sich damit aufs Sofa. Im Licht, das von draußen hereindringt, schlägt er das Buch auf: Großbritannien, Schottland, Kinlochewe.
Wie kommt man dahin, sagt Paul, als er wieder auf den Balkon tritt.
Ava spielt mit dem geschmolzenen Wachs.
Ich fliege morgen nach London.
Sie lehnt sich auf dem Stuhl zurück, ihr Gesicht nun außerhalb des Lichtkreises der Kerzen, ihre Züge nicht lesbar für Paul.
Sie sagt, am Mittwoch mit dem Nachtzug nach Edinburgh, am Samstag mit dem Zug weiter über Perth – das ist das schottische Perth – und Inverness nach Achnasheen, wo ich von Eoghain abgeholt werde.
Geht das nicht einfacher. Und wer ist Eoghain.
Natürlich geht das einfacher, doch ich habe Zeit und Pläne.
Paul erkundigt sich nicht nach diesen Plänen, fragt nicht noch einmal, wer Eoghain ist. Er greift nach der Karaffe mit Sirup, die unter seinem Stuhl in einem marmornen Kühler steht – kein Alkohol für Ava, sie hat morgen einen langen Tag –, und schenkt ein, in Avas Glas, in sein Glas.
Wie lange bleibst du.
Sechs Monate, sieben, vielleicht acht – wer weiß.
Sie zeichnet mit ihren Fingern ein Muster in die Schicht aus kleinen Kondenströpfchen an ihrem Glas.
Ich könnte dich besuchen.
Bitte nicht.
Warum tust du das.
Ich tue nur, was getan werden muss. Du wolltest, dass ich zu Ende studiere.
Hast du eine Adresse.
Ich wiederhole mich: kein Besuch.
Ich könnte dir schreiben.
Genau: Paul, der Romantiker.
Lass das, Ava, es ist mir ernst. Hast du eine Adresse.
I suppose so, irgendwo. Ich schick dir eine Karte.
Ich habe eine Kiste mit meinen Sachen in den Keller gebracht. Bei Elsa ist nicht genug Platz.
Er nickt, es gibt zu viele Fragen.
Und bitte pass auf Hermes auf.
Er nickt erneut – Hermes, ja klar.
Kann ich die Nacht hierbleiben.
Er kann im Dunkeln ihr Gesicht nicht sehen, kann nicht sehen, ob es ihr ernst ist. Die Flammen der Kerzen sind im eigenen Wachs ertrunken, und der Halbmond steht noch nicht hoch genug.
Du weißt, wo das Gästezimmer ist, sagt er, wo die Zahnbürsten.
Ava steht auf, Paul bleibt sitzen. Sie schiebt sich an ihm vorbei und verschwindet in der Wohnung. Kurze Zeit später rauscht im Bad das Wasser, aus dem Hahn, aus der Dusche. Paul steht auf und sucht im Nachthimmel nach Vega, Deneb und Altair.
Gute Nacht, sagt Ava.
Sie steht in der Balkontür, im Licht, das aus dem Flur von hinten auf sie fällt. Sie trägt das ausgeleierte Bowie-T-Shirt, das sie ihm vor zehn Jahren zum Geburtstag geschenkt hat.
Gute Nacht, sagt Paul, schlaf gut.
Er hört ihre nackten Füße auf dem Parkett und die Tür zum Gästezimmer, die über die unebenen Dielen kratzt. Dann ist alles ruhig. Er steht