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Beim Auftauchen der Himmel
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eBook359 Seiten5 Stunden

Beim Auftauchen der Himmel

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Über dieses E-Book

Da ist der junge Wissenschaftler, der regelmäßig mit seiner Großmutter telefoniert und für sie eine Freundin erfindet, deren Charakterzüge auf denen einer Arbeitskollegin basieren. Oder der Alleinstehende, in dessen Leben überall und immer Eidechsen hausen. Die Titelgeschichte handelt von einem Mann, der ein ertrinkendes Kind rettet, aber danach nicht weiß, ob es überlebt hat oder nicht. Schließlich schafft Anna Stern eine wundervolle, charmante Hommage an den großen, 2016 verstorbenen David Bowie und verhandelt das autobiografische Schreiben mit raffinierten Bezügen zu Knausgård.

Vom subtilen Teenagerdrama über einen kurzen, fiesen Krimi bis zum fein ausgearbeiteten Beziehungsdrama: Anna Stern bewegt sich souverän und immer spannend zwischen Stilen und Genres. So verschieden die Geschichten auch sind, sie werden stets von der Atmosphäre und Anna Sterns eigenem, charakteristischem Stil getragen und ergeben einen Erzählband, der weit mehr ist als die Summe der einzelnen Texte.
SpracheDeutsch
Herausgeberlectorbooks
Erscheinungsdatum13. Apr. 2017
ISBN9783906913056
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    Buchvorschau

    Beim Auftauchen der Himmel - Anna Stern

    Stern

    DIE TOCHTER DES BOTSCHAFTERS.

    for Alex and Flora

    Beim Aufwachen hat Anthony Garp heute als Erstes an Astrid gedacht, oder vielleicht hat er von ihr geträumt und ihr Bild stand ihm beim Übergang vom Schlaf- in den Wachzustand einfach noch vor Augen. Natürlich weiß er, dass es Astrid nicht gibt, jedenfalls nicht so, wie Alice denkt, dass es sie gibt. Doch auch wenn Anthony Astrid nicht erfunden hat, so gibt er zu, dass man bezüglich der Natur von Astrids Existenz dennoch verschiedener Ansicht sein kann.

    Die echte Astrid und die erfundene.

    Die echte Astrid ist klein und zierlich, ihr braunes, oft zu einem Zopf geflochtenes Haar reicht ihr bis zu den Schulterblättern, ihre klaren, eisblauen Augen schauen aufgeweckt unter den dichten Brauen hervor, und wenn sie lächelt, wird eine ebenmäßige Reihe Zähne sichtbar, die in ihrem Weiß an den Schnee erinnert, der in ihrer Heimat fast das ganze Jahr über auf Felsen und eigentlich grünen Wiesen liegt.

    Die Astrid, die Anthony für Alice erfunden hat, ist klein und zierlich, ihr braunes, oft zu einem Zopf geflochtenes Haar reicht ihr bis zu den Schulterblättern, ihre klaren, eisblauen Augen schauen aufgeweckt unter den dichten Brauen hervor, und wenn sie lächelt, wird eine ebenmäßige Reihe weißer Zähne sichtbar.

    Diese Astrid ist Tochter eines Botschafters, der seine nordische Heimat angeblich bereits in Ländern auf allen Kontinenten vertreten hat; jene Astrid ist Evolutionsbiologin, interessiert sich für die Entwicklung von Antibiotikaresistenzen in ökologisch komplexen Systemen und arbeitet im Labor an der Bank, die neben derjenigen von Anthony steht.

    Wie es kam, dass Astrid die Botschaftertochter plötzlich Teil seines Lebens wurde, daran erinnert er sich noch genau, das Warum jedoch – er kann es nicht erklären. Er sollte Alice nicht anlügen, er hat das vorher auch noch nie getan, selbst als kleiner Junge nicht. Für Anthony gab und gibt es seiner Großmutter gegenüber keine Ausreden, keine Notlügen, nur bedingungslose Ehrlichkeit. Vielleicht, weil er fürchtete, dass sie sich, aufgrund von Unehrlichkeiten und selbst kleinen Ausreden, von ihm abwenden, ihn allein lassen könnte, was er nicht ertragen hätte, dessen ist er sich sicher: Nachdem bereits Agatha und Walt verschwunden waren, durfte er Alice nicht auch noch verlieren; er hatte doch nur noch sie.

    Es war kurz nach Anthonys siebtem Geburtstag, ein Freitag. Seine Eltern, Agatha und Walt, holten ihn von der Schule ab, und alle zusammen fuhren sie zu Alice, seiner Großmutter, der Mutter seiner Mutter. Anthony sollte bis Sonntag bei ihr bleiben, während sie, seine Eltern, wegfuhren, um das Wochenende zu zweit zu verbringen, ihr zehnter Hochzeitstag. Er mochte Alice, sie war eine liebevolle, eine noch junge Großmutter, die ihm nichts verbat und alles erlaubte, die ihn herzte und verwöhnte, und er freute sich auf die Zeit bei ihr.

    Kaum hatte sein Vater den Wagen auf der Straße vor dem kleinen Reihenhaus geparkt, war Anthony auch schon herausgesprungen, hatte sich seinen Rucksack geschnappt und war, an der in der Tür stehenden Alice vorbei, die Treppe hinauf in sein Zimmer gesaust, in das Zimmer, in dem er hier bei Alice immer schlief. Er warf den Rucksack auf das breite Bett, dessen quietschender Metallrahmen ihn manchmal weckte, wenn er unruhig schlief, wickelte das kleine Schokoladenherz, das Alice, wie immer, wenn er herkam, um über Nacht bei ihr zu sein, auf das weiße Kopfkissen gelegt hatte, aus der roten Folie und legte es sich auf die Zunge. Dann machte er es sich, den dicken Lexikonband über die Tierwelt auf den Knien aufgeschlagen, in der mit Kissen ausgelegten Fensternische bequem.

    Hätte das Fenster nicht offen gestanden, um die milde Frühlingsluft, das weiche Sonnenlicht des Spätnachmittags ins Zimmer zu lassen, hätte Anthony nicht die Stimmen von Alice und Walt und Agatha hören können, wie sie sich gut gelaunt im Vorgarten unterhielten, wie seine Mutter lachte, dieser fröhliche, unvergleichliche Laut, hätte er seine Eltern in diesem Augenblick bereits vergessen gehabt und erst dann wieder an sie gedacht, wenn sein Vater am Sonntagabend dreimal auf die Hupe des schwarzen 1963er Buick Riviera gedrückt und seine Mutter ihm mit einem Lächeln auf den rot bemalten Lippen aus dem offenen Seitenfenster zugewinkt hätte, beides unmissverständliche Zeichen für seine Rückkehr in den Alltag, dafür, dass die süße Zeit mit Alice schon wieder viel zu schnell vergangen war.

    So jedoch hörte er, wie Alice nach ihm rief und ihn bat, nach unten zu kommen, um seinen Eltern Auf Wiedersehen zu sagen, und so ging er nach unten, schlitterte auf Strümpfen die blank polierte Holztreppe hinab und begleitete die Erwachsenen zum Buick, dessen Motorhaube in der Sonne glänzte. Er umarmte Agatha und Walt, die ihm beide einen Kuss auf die Wange drückten und sagten, er solle schön artig sein, und er nahm die Polaroidkamera entgegen, als Agatha ihn darum bat, und machte ein Bild von ihr und Walt, wie sie sich an den Wagen lehnten und er ihr einen Kuss auf die Wange drückte.

    Anthony sah ihnen nach und winkte, als sie die schmale Straße entlang davonfuhren, und er spürte Alices Hand auf seiner Schulter, dass ihr Griff ein wenig fester wurde, als Black Beauty, wie sein Vater den Wagen manchmal nannte, um seine schwarzhaarige Mutter, die eigentlich seine Black Beauty war, zu ärgern, um die Ecke bog und damit aus ihrem Blickfeld verschwand. Er erinnert sich heute, wie glücklich und geborgen er sich in diesem Augenblick gefühlt hat, dass er sich, durch Alices spürbare Nähe vor dem Alleinsein geschützt, auf die Zeit ohne Agatha und Walt freute, gleichzeitig jedoch auch schon ihre Rückkehr herbeisehnte, die gemeinsame Fahrt nach Hause, wenn er neben Walt auf dem Beifahrersitz würde sitzen dürfen und die Gelegenheit erhielte, ihnen von den Erlebnissen des Wochenendes zu erzählen.

    Ihm entfuhr ein tiefer, fast wehmütiger Seufzer, dann sagte Alice, komm, lass uns hineingehen, der Kuchen dürfte inzwischen fertig sein.

    Sie aßen den Kuchen und später auch das Abendessen an dem kleinen Tisch unter dem Apfelbaum im hinteren Teil des Gartens. Es war der erste warme Tag des Jahres, Krokusse zu ihren Füßen, und er erzählte Alice von der Schule und von seinem Freund David und dass er bald einmal mit David und dessen Vater würde angeln gehen dürfen. Wie Davids Vater seinen Vater eigens angerufen hatte, um ihn nach seinem Einverständnis zu fragen, und dass Walt Ja gesagt hatte, natürlich. Und Alice erzählte ihm die Geschichte, wie ihr Mann, Frederick, sein Großvater, den er nie kennengelernt hat, einmal zum Lachsangeln nach Alaska gereist war, und obwohl Anthony die Geschichte bereits kannte, hörte er gespannt zu und ging schnell, als Alice ihn bat, das Fotoalbum aus ihrem Schlafzimmer zu holen. Gemeinsam sahen sie sich die Bilder an von den dick eingepackten Männern in der winterlich weißen Weite, die Alaska sein sollte, das so weit weg war, dass er, der Junge, es sich nicht vorstellen konnte, wie der Mond, dachte er damals.

    Alice zeigte ihm, welches sein Großvater war, ich erkenne ihn nur, weil er der Größte ist von allen, sagte sie, und trotz der warmen Winterkleidung der schlankste der Männer, und Anthony wusste es ebenfalls, von früher, von all den anderen Malen, die er das Fotoalbum bereits mit Alice durchgeblättert hatte. Und wie schon so häufig sagte sie auch bei dieser Gelegenheit, du gleichst ihm, Anthony, deine Augen, deine Art, dich zu bewegen, erinnern mich an ihn, und ich glaube, du wirst einmal genauso groß.

    Und weil er nur ein Junge war, weil er nicht wusste, was er mit dieser Ähnlichkeit anfangen, wie er damit umgehen sollte, dass er einem Toten glich, Frederick, den er nie gekannt hatte, mit dem er aber wieder und wieder verglichen wurde, blätterte er schnell die Seite um und bat Alice, ihm die Geschichte von dem Bären zu erzählen, der, so heißt es, plötzlich auf der anderen Flussseite, gegenüber der Stelle, an der die Männer angelten, aufgetaucht war und der, zwar nur als schwarzer Schemen und für das unwissende Auge unerkennbar, so doch im kontrastlosen Weiß des letzten Alaska-Fotos für die Ewigkeit festgehalten ist.

    Gern, sagte Alice, und sie erzählte die Geschichte so glaubhaft, ließ den Bären und die Männer und die Lachse im Fluss mit solcher Leichtigkeit vor Anthonys innerem Auge zum Leben erwachen, als sei sie selbst dabei gewesen, damals, als der Großvater, den er nie gekannt hat, nach Alaska ging.

    Später kam Sarah, die mit ihren Eltern im Haus nebenan wohnte und im gleichen Alter war wie er, und fragte, ob Anthony mit ihr Federball spielen wolle, und weil der Abend so schön war und der nächste Tag ein Samstag und Anthony und Alice keine Pläne hatten, spielte Anthony, bis es dunkel wurde, mit Sarah Federball, und dann noch etwas länger, das Licht der Straßenlaternen reichte gerade aus.

    Der Samstag verschwimmt in seiner Erinnerung zu einer ähnlich unfassbaren Wolke aus Glück, Zufrieden- und Geborgenheit. Er durfte Sarah und ihre Eltern in den Zoo begleiten, sie sahen die Pinguine in einer langen Kolonne über das Gelände watscheln, eine Polonaise, erklärte Sarahs Vater, und Sarah und Anthony ritten auf einem Kamel. Am Abend buk Alice Pizza und er durfte Sarah zum Essen einladen, und anschließend spielten sie zu dritt shopping center, bis Sarah nach Hause musste, Anthony gewann zwei Mal. In der Nacht schlief er gut, tief, scheinbar ohne Träume, jedenfalls erinnerte er sich beim Aufwachen nicht daran, und das tat er sonst meist. Er blieb mit geschlossenen Augen liegen und merkte darum lange nicht, dass Alice bei ihm im Zimmer war, dass sie, mit dem Rücken an das Bett gelehnt, an seiner Seite saß, ein zerknülltes Taschentuch in den Fingern und in den grauen Augen Tränen, die sie nicht zu weinen wagte.

    So gut er sich noch alle möglichen Einzelheiten der beiden vorangegangenen Tage ins Gedächtnis rufen kann – dass es am Freitag Johannisbeerkuchen gegeben hatte, wovon er drei Stück aß und Alice nur eins, dass Sarah ihm von dem Geschwisterchen erzählt hatte, das im Herbst auf die Welt kommen sollte, und wie er am nächsten Tag im Zoo immer wieder verstohlen Sarahs Mutter beobachtet hatte, auch ihren Vater, und sich fragte, wo das Kind zu dem Zeitpunkt wohl war, ob schon im Bauch oder noch an einem anderen Ort –, so schwer fällt es ihm zu sagen, wie der Sonntagmorgen verlaufen ist, eigentlich der ganze Tag, vielleicht die folgende Woche auch noch.

    Alice muss ihm gewiss gesagt haben, dass Agatha und Walt tot waren, doch sosehr er sich auch bemüht, an ihre exakten Worte erinnert er sich nicht, ob sie ihn dabei im Arm hielt, ob sie beide weinten oder nur er. Allzu viel konnte selbst Alice an diesem frühen Morgen noch nicht gewusst haben, Agathas und Walts Leichen waren zwar bereits geborgen, doch die Feuerwehr kämpfte weiterhin mit den letzten Brandherden, in dem Kino und in angrenzenden Gebäuden, sodass eine Ermittlung noch nicht begonnen haben konnte und alle Angaben über den Ursprung des Feuers zu diesem Zeitpunkt nichts als Spekulationen waren.

    Und selbst wenn, wie hätte das Wissen darum ihn trösten sollen, oder Alice, es gab ihnen die Mutter nicht zurück, die Tochter, nicht den Vater, den Schwiegersohn, nicht Agatha und Walt. Und vom Tagebuch seiner Mutter, das ihnen, Anthony und Alice, einige Tage später zusammen mit dem Buick und dem Gepäck seiner Eltern übergeben wurde, von Agathas Aufzeichnungen, die zu den wenigen Dingen gehören, die Anthony von seiner Mutter behalten hat, weiß die Polizei bis heute nichts. Die Eintragungen darin, selbst jene vom Unglückstag, sind für sie nicht von Belang, nur für Anthony, für Alice auch.

    Es handelt sich um ein schmales schwarzes Wachstuchheft, das Anthony seither unzählige Male durchgeblättert hat, auf der Suche nach Hinweisen, Erklärungen, das pergamentfarbene Papier fein liniert, Agathas Gedanken darauf festgehalten mit feinem Druckbleistift. Kurze Ausdrücke manchmal, eine Abfolge von rätselhaften Zeichen und singulären Buchstaben jedoch meist nur, Splitter ihrer Ideenwelt, Schleier von Gefühlen, um die zu deuten Anthony sie nie gut genug gekannt hat.

    Die letzte Eintragung, die letzte Doppelseite, er kann sie vor sich sehen, wenn er die Augen schließt: Die Fotografie auf der linken Seite, Walt, der die strahlende Agatha auf die linke Wange küsst, beide an den glänzenden Buick gelehnt, und er selbst, Anthony, auf eine Art mit ihnen im Bild, ihr kleiner Junge, der die Sofortbildkamera in den Händen hält und den Auslöser drückt, für eine letzte Erinnerung. Auf der gegenüberliegenden Seite oben das Datum jenes Samstags, darunter in der, wie er sich vorstellt, für Architektinnen typischen klaren, filigranen Schrift:

    Walt – Quentin Tarantinos Pulp Fiction;

    Agatha – Hugh Grant in Vier Hochzeiten und ein

    Todesfall;

    Walt gibt nach;

    Er liebt seine Agatha, sagt er;

    Und obwohl Anthony weiß, dass jede Schuldzuweisung müßig, ja geradezu ungerecht ist, dass er, wenn, dann dem Kinobesitzer Vorhaltungen machen müsste – wobei sich dies mit dessen späterer Verurteilung erübrigt hat –, fragt er sich zwischendurch, wer von beiden nun die Verantwortung trägt dafür, dass er ohne Mutter aufgewachsen ist, ohne Vater, ohne Agatha und Walt.

    Ist es Agatha, die unbedingt Hugh Grant sehen wollte, oder ist es Walt, der dem Wunsch seiner Frau nachgegeben hat.

    Zwar sind sie beide weder für den Kabelbrand, wie er an jedem anderen Tag und in jedem anderen Kino auch hätte ausbrechen können, noch für die zum Schutz vor sich ohne Eintrittskarte hereinschleichenden Nachbarschaftskindern verriegelten Notausgänge verantwortlich. Doch ihre Diskussion, ihre Entscheidungen gingen dem Unglück voraus, und der Kinomanager wusste nicht, dass er, Anthony, zur Waise würde, würde an genau diesem Abend in genau diesem Kino ein Unglück geschehen, denn falls er es gewusst hätte, vielleicht hätte er dann … Und so fragt sich Anthony manchmal, was wäre wenn, for want of a nail.

    Er hat das schmale Bändchen in der Zwischenzeit schon so oft durchgeblättert, dass sich einige Seiten zu lösen drohen, auch heute Morgen hat er es zur Hand genommen, in Gedanken bei Astrid, bei Alice, bei Agatha und Walt.

    Als Junge sah er sich in erster Linie die Fotografien an, Aufnahmen von sich selbst, von seinen Eltern, von ihnen zu dritt. Mehrmals täglich nahm er das Tagebuch zur Hand, so sehr fürchtete er, ihre Gesichter zu vergessen, die Farbe von Agathas Augen oder den Ausdruck in denen Walts, wenn er lächelte. Als er älter wurde und jede Fotografie mühelos vor seinem inneren Auge hervorrufen konnte, wenn ihm danach war, richtete sich seine Aufmerksamkeit auf die Aufzeichnungen seiner Mutter. Er versuchte, ihre, wie er mittlerweile überzeugt ist, allein ihr bekannte Kurzschrift zu entschlüsseln, die scheinbar sinnlose Abfolge von Buchstaben und Zeichen und Zahlen, getrennt oder verbunden durch Satzzeichen und mathematische Symbole, bis das Semikolon am Ende ihn beinahe in den Wahnsinn trieb.

    Sie war noch nicht fertig, Alice, ich weiß einfach, sagte der Teenager Anthony zu seiner Großmutter, ich weiß, dass Agatha noch etwas hat hinzufügen wollen, und jetzt, jetzt werde ich nie erfahren, was es war. Und als sich ihm Agathas geheime Botschaft auch weiterhin entzog, vertiefte er sich endlich in ihre Skizzen, Strichfolgen von Häusern und Landschaften, Gesichter von Menschen, die er nicht kannte. Nur von einer Seite blickte ihm Walt entgegen, daneben dann er selbst.

    Von jenem Sonntag jedoch bleibt nichts zurück außer einem großen Gefühl der Leere und, im Nachhinein, die Erkenntnis, dass die süße Zeit mit Alice dieses Mal endlos sein würde. Denn er blieb bei ihr, in ihrem Reihenhaus, zog für immer in das Zimmer mit dem quietschenden Bett und der Fensternische ein, stellte seine Abenteuerbücher neben das Tierlexikon ins Regal und hängte, mit Alices Hilfe, eine vergrößerte Kopie jener letzten Fotografie an die Wand, die er selbst von Agatha und Walt gemacht hatte. Er half Alice, im Herbst die Äpfel desjenigen Baums einzusammeln, in dessen Schatten sie sich an jenem Freitag das Album mit den Alaska-Bildern angesehen hatten, und er begleitete Sarah ins Krankenhaus, als ihr Bruder schließlich tatsächlich auf die Welt kam.

    Immer wieder nahm er Agathas Tagebuch zur Hand, auch die Uhr, die er so viele Jahre zu früh von Walt geerbt hatte, und er bat Alice, ihm von ihnen zu erzählen, alle Geschichten, an die sie sich erinnerte und er nicht. Und weil der Schmerz über den Verlust ihn jedes Mal von Neuem überwältigte, war er froh, dankbar, dass es Alice gab, sie kannte den Schmerz, die Angst, sie wusste, wovon er sprach.

    All die Jahre, in denen er älter wurde, größer auch – so groß wie Frederick –, in denen er wuchs und lernte und Alice zur Hand ging, während er Bücher las und Dinge erlebte, über die Agatha und Walt nie Bescheid wissen würden, fragte er sich, was sie von ihm, ihrem Sohn, wohl halten würden, ob sie ihn mögen würden, ob sie stolz wären auf ihn. Alice stellte er diese Frage nie, er kannte ihre Antwort bereits, sie wären es, hätte sie gesagt, sie würden dich lieben. Ich liebe dich, sagte sie manchmal.

    Und in all den Jahren, in denen es ihm, außer an einer Mutter, an einem Vater, an nichts fehlte, war er immer ehrlich zu Alice, war überzeugt, dass sie es verdiente, dass er ihr das schuldig war. Und er hoffte, dass seine Ehrlichkeit verhinderte, dass Alice sich ungenügend fühlte, wenn es wieder einmal diese Zeit des Jahres war etwa, Frühling, der Jahrestag, und sie gemeinsam über den Friedhof gingen, das noch schwerelose Sonnenlicht der frühen Monate glitzernd auf den taufeuchten Wiesen, Schatten werfend durch die lichten Kronen der mächtigen Eichen, und sie nebeneinander vor dem Grab stehen blieben:

    Walter Garp 1962 – 1995

    Agatha Garp 1963 – 1995

    Wenn Anthony nichts zu sagen brauchte, Alice es schon seiner Haltung, dem Ausdruck in seinen Augen entnehmen konnte, wie sehr er Agatha und Walt trotz allem vermisste.

    Eine frühe Erinnerung an sein Leben mit Alice kommt ohne Bilder aus, auch die genauen Umstände sind nicht in seinem Gedächtnis haften geblieben. Er glaubt jedoch nicht, dass er etwas angestellt hat, es muss einen anderen Grund gegeben haben, dass Alice sagte, was sie sagte. Bestimmt hat sie ihn, womöglich am Esstisch, einfach nur lange angesehen, nach Spuren ihrer Tochter in seinem Gesicht gesucht, denn er hört Alices Stimme in seinem Kopf, die sagt, deine Ohrläppchen werden rot, Anthony, wenn du lügst, und deine Nasenflügel zittern, das hast du von Agatha, darum versuch es gar nicht erst, wir werden auskommen miteinander, ich verspreche es dir, wir werden ein Team.

    Und ein Team wurden sie, Anthony war nie versucht, etwas vor ihr zu verheimlichen. Selbst dann, als seine Haare lang genug waren, um die verräterischen Ohrläppchen zu bedecken, und er seine Gesichtsmuskulatur so gut unter Kontrolle hatte, dass kein Lehrer je seine Aussagen infrage stellte, konnte er mit Alice über alles sprechen, nie bedrängte sie ihn, ließ ihm den Raum, den er benötigte, kam auf ihn zu, wenn er hilfesuchend die Hand ausstreckte, respektierte die geschlossene Zimmertür, auch wenn sie dahinter sein Weinen vernahm. Sie half ihm über den ersten Liebeskummer hinweg, stand ihm in den Auseinandersetzungen mit David bei, der mit Sarah zusammen war und diese, das war Anthonys Meinung, nicht annähernd so gut behandelte, wie sie es verdiente. Alice ertrug kommentarlos seine fruchtlosen Entschlüsselungsversuche von Agathas Tagebuch und begleitete ihn, wann immer er sie darum bat, in die Unglücksstadt, in das Hotel, zu dem Kino, bei dessen Brand nicht nur Anthony geliebte Menschen verloren hatte, sondern auch sie, Alice.

    Der Verlust nage auch an ihr, sagte sie, dass Agatha und Walt sie zuweilen in ihren Träumen besuchten, was sie in den ersten Monaten den Schlaf fürchten ließ. Doch inzwischen freue sie sich auf diese Wiedersehen, vielleicht falle es ihr leichter als ihm, Anthony, nicht an all das zu denken, was noch hätte sein können, da sie die beiden länger gekannt habe, ihr Vorrat an glücklichen Erinnerungen und Bildern größer sei. Sie erzählte ihm davon, von den Erinnerungen und Bildern, antwortete auf alle seine Fragen, und Anthony versuchte, wo immer möglich, ihr diese Hingabe zurückzugeben, indem er ihr zur Hand ging, indem er ihre Regeln akzeptierte, ihre Grenzen, stets offen war und ehrlich, mit all der Liebe, die ein Enkel für seine Großmutter empfinden kann.

    Stets offen und immer ehrlich, denkt er, bis Astrid kam.

    Das Klingeln des Weckers auf seinem Tisch reißt Anthony aus seinen Gedanken, er weiß für einen Augenblick nicht, wo er ist. Er reibt sich die Augen, ein Pochen in den Schläfen, drückt auf den Aus-Knopf und der Wecker verstummt. Er steht auf und spritzt sich am Waschbecken etwas Wasser ins Gesicht, stellt sich ans Fenster.

    Studenten eilen über den Platz, stehen in Gruppen von zwei oder drei, manche noch in Daunenjacken, während andere bereits jetzt, am Vormittag, kurzärmelig sind, die Pullover unter dem Arm, milde Frühlingssonne auf bleicher, wächserner Haut, dahinter die Straße, Autos, stehend im Morgenverkehr, Busse, Fußgänger, die dazwischen über die Fahrbahnen eilen, ein Fahrradfahrer, der nur knapp der Kollision mit einem Lieferwagen entkommt, der gerade in die Auffahrt zum Lieferanteneingang einbiegen will.

    Anthony müsste ins Labor zurück, müsste mit dem Experiment weitermachen, die acht Mikroplatten inokulieren. Müsste. Er hat heute früh damit angefangen, hat die verschiedenen Nährmedien nach dem vorgesehenen Schema in die über siebenhundertfünfzig kleinen Vertiefungen verteilt und eine große Flasche mit Agar vorbereitet, die gerade im Autoklav sterilisiert wird. So früh am Morgen, wenn das Gerät über Nacht abgekühlt ist und zuerst aufheizen muss, dauert ein Flüssigkeitszyklus gut zwei Stunden, und so ist Anthony in sein Büro zurück, hat den Wecker gestellt und sich darangemacht, endlich die Bewerbung für das Forschungsstipendium vollständig auszufüllen, die Frist läuft morgen ab. Dann hat Astrid die Mikrobiologin an seine Tür geklopft und ihn gefragt, ob sie das Blatt mit dem Rezept für künstliches Seewasser, das sie für ihre Experimente benötigt, gestern, als sie ihn nach der wöchentlichen Laborsitzung in sein Büro zurückbegleitet hat, bei ihm liegen lassen habe. Was sie nicht hat, er konnte es nicht finden und sagte ihr dies, einmal mehr über den Widerspruch nachsinnend, dass sie, in einem Land, das von einem Meer umgeben und so reich an kleinen, idyllischen Seen ist, das zudem mit Niederschlägen nicht geizt, ihr Seewasser künstlich herstellen muss.

    The experiments have to be reproducible, hat sie ihm lachend geantwortet, als er sie in der morgendlichen Kaffeerunde einmal darauf hingewiesen hat, alles auf Englisch, damit auch die anderen verstehen.

    Und von Astrid der Mikrobiologin war es nur noch ein kleiner Schritt bis zu Astrid der Botschaftertochter zu Alice und Agatha und Walt – vergessen damit das Forschungsgeld. Vergessen bis eben, der Wecker, das Labor ruft. Anthony wendet sich vom Fenster ab, verlässt das Büro und schließt hinter sich ab.

    Während er die Mikroplatten mit den zwei Bakterienstämmen inokuliert, einem Wildtyp und einem Mutatorstamm, schweifen seine Gedanken immer wieder ab. Er denkt an Alice und dass er sie schon viel zu lange nicht mehr gesehen hat. Dass er nun über Ostern nicht wie geplant nach Hause fahren kann, sondern zu dieser Konferenz nach Cork reisen muss, weiß sie bereits, das macht nichts, hat sie gesagt, doch sosehr sie sich auch bemüht hat, ganz ist es ihr nicht gelungen, ihre Enttäuschung vor ihm zu verbergen. Spätestens zu Early May Bank Holiday, nimmt er sich vor und denkt im letzten Augenblick noch daran, die Pipettenspitze zu wechseln, vielleicht kann ich freinehmen und für zehn Tage fahren.

    Als er die acht Platten fertig hat, misst er die optische Dichte, eine Angabe, anhand derer er später die Größe der Populationen berechnen kann, legt sie dann für die Wachstumsphase in den Inkubator, vierundzwanzig Stunden bei siebenunddreißig Grad, und holt die Agarflasche vom heizbaren Magnetrührer aus dem angrenzenden Raum. Mit einem Blick auf das heutige Protokoll versichert er sich, dass er die richtige Menge Rifampicin auf die Pipette aufgezogen hat, und hält die linke Hand, die wie die rechte in einem engen blauen Latexhandschuh steckt, prüfend an die große Flasche mit dem warmen, noch flüssigen Agar, die vor ihm auf der Laborbank steht: Das Agar darf nicht zu heiß sein, wenn er das Antibiotikum zugibt. Er schraubt den Deckel von der Flasche und schaut zu, wie sich die bernsteinfarbene Flüssigkeit langsam rot färbt, als sich das Rifampicin schwebend, wolkengleich, darin verteilt, schraubt dann den Deckel zurück auf die Flasche und betätigt gleichzeitig mit dem Fuß den Hebel des Bunsenbrenners, um das Gerät, das sich eben automatisch ausgeschaltet hat, erneut zum Brennen zu bringen.

    Er schüttelt die Flasche, bis sich das Antibiotikum verteilt hat und das Agar gleichmäßig rot leuchtet. Dann nimmt er zwei Packungen der großen Petrischalen unter Astrids Laborbank hervor, schneidet die durchsichtigen Beutel auf und platziert die quadratischen Behälter in zwei Stapeln auf seiner eigenen Bank.

    Er ist gerade dabei, das noch warme Agar nach Augenmaß so in die Schalen zu gießen, dass der Boden mit vier bis fünf Millimetern der sich beim Trocknen erhärtenden Flüssigkeit bedeckt ist, als die Tür aufgeht und Arden das Labor betritt.

    Hi, Arden, sagt er.

    Hi, Anthony, sagt Arden und erkundigt sich, wie es Anthony geht. Dann will er wissen, ob Anthony heute Abend auch ins Pub komme, wie immer dienstags, doch Anthony sagt Nein, er habe bereits andere Pläne. Was nicht stimmt, doch nach all den Gedanken an Alice und Agatha und Walt – er kann einfach nicht.

    Arden, der in der Nähe von Aberdeen aufgewachsen ist, hat in Edinburgh studiert, arbeitet seither hier im Labor und findet sich daher in der Stadt viel besser zurecht als Anthony, der, außer von der Arbeit her, noch kaum Leute kennt oder Orte, und so ist er eigentlich froh, dass sie manchmal zusammen auf ein Konzert gehen oder eben dienstags ins Pub. Nur heute nicht.

    Während Arden auf dem Laborcomputer Musik laufen lässt, Metamorphosis von Philip Glass, und dann an seiner Bank mit der eigenen Arbeit beginnt, stellt Anthony die leere Flasche ab und trägt die Petrischalen, in denen das Agar noch hin- und herschwappt, wenn er nicht vorsichtig ist, zur Abzugshaube auf der gegenüberliegenden Seite des Labors. Nachdem er das Gerät auf half-speed gestellt und die Deckel von den Petrischalen gehoben hat, um das Trocknen zu beschleunigen, verräumt er die Flasche, an deren Boden noch rote Agarreste kleben, schaltet den Bunsenbrenner aus und desinfiziert seine Bank mit achtzigprozentigem Ethanol. Das Protokoll legt er in das Laborbuch; bevor er dieses zuklappt, geht er jedoch noch einmal kurz die letzten und nächsten Schritte durch.

    Die Agar-Rifampicin-Platten wird er erst morgen benötigen, um die Bakterienkulturen in den Mikroplatten auf ihre Resistenz gegen das Medikament zu testen. Er hofft, mit diesem Experiment herauszufinden, ob die Mutationen, die in den Bakterien zu Antibiotikaresistenz führen, bereits vorhanden sind, bevor die Organismen dem Medikament ausgesetzt sind, oder ob erst der Kontakt damit notwendig ist, um die Resistenzmutation herbeizuführen. Abgesehen davon, dass Mechanismen, die Bakterienpopulationen Resistenz gegen Parasiten und Antibiotika verleihen, für Evolutionsbiologen – damit also auch für ihn – an sich interessant sind,

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