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Lass uns nach Brasilien gehen: Auswanderer-Roman
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eBook286 Seiten4 Stunden

Lass uns nach Brasilien gehen: Auswanderer-Roman

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Über dieses E-Book

Ernteausfälle, unsichere politische Verhältnisse und allgemein ungünstige wirtschaftliche Bedingungen zwingen viele Hunsrücker Familien vor allem Mitte des 19. Jahrhunderts nach Brasilien auszuwandern, in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Gute Nachrichten von Brasilien-Auswanderern dringen in das kleine Hunsrückdorf Birkroth. Auch Tres, die Frau des Müllers Johann, spielt schon länger mit dem Gedanken auszuwandern. Sie versucht ihren Mann zu überzeugen, denn mit ihrer Mühle steht es nicht mehr zum Besten, und Johann gerät gegenüber seinem tüchtigen Bruder Jakob immer mehr ins Hintertreffen. Johann ist hin- und hergerissen, er steht vor der schwierigsten Entscheidung seines Lebens.

SpracheDeutsch
HerausgeberPandion Verlag
Erscheinungsdatum26. Apr. 2019
ISBN9783869115405
Lass uns nach Brasilien gehen: Auswanderer-Roman

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    Buchvorschau

    Lass uns nach Brasilien gehen - Richard Kapp

    Epilog

    1

    Langsam zogen die Wolken dahin, die gerade einen kräftigen Regenschauer hinterlassen hatten. Johann wurde von diesem Platzregen überrascht, aber er erreichte gerade noch den Wagenschuppen, ohne ganz nass zu werden. Jetzt lehnte er gegen die Sandsteinwände im Eingang der offen stehenden Haustür und beobachtete die dicken Tropfen, die vom Blattwerk der weit ausladenden Äste des Nussbaumes zur Erde fielen. Gedankenverloren blickte er auf seine Stiefelspitzen, die von eben diesen Tropfen auch nass wurden. Ein kleiner Schritt zurück in den Hausflur und seine Stiefel wären trocken geblieben. Aber was kümmerten ihn nasse Stiefel, in seinem Trübsinn empfand er nur Wut, Trauer und Selbstmitleid über seine Lebensumstände. Er war gerade neunzehn Jahre, da verstarben die Eltern kurz hintereinander und ihm oblag die Verantwortung für die Mühle. Der Vater hatte ihm das Müllerhandwerk beigebracht. „Mache du das, der Jakob ist ein Luftikus, er kann mit den Steinen und den Rädern nicht umgehen." So wurde er schließlich der Müller, und er beherrschte das Handwerk, er mahlte gutes Mehl.

    Schon wieder hatte ihn heute sein Bruder Jakob den ganzen Tag mit der vielen Arbeit allein gelassen. Keine Menschenseele, mit der man vielleicht ein Wort wechseln konnte, verirrte sich in dieses verdammte Tal. Vom Dorf bis hierher zur Mühle war es fast eine halbe Stunde Weg, da kam ganz selten jemand.

    Jakob war schon gleich nach dem Frühstück mit Pferd und Wagen ins Dorf auf „Mahlkundschaft gefahren. „Um die Kundschaft muss man sich kümmern, sagte er immer. Diese Fahrt machte der Jakob jede Woche, er lieferte das Mehl aus und brachte auf dem Rückweg wieder frisches Korn zum Mahlen mit. Johann war der Müller, und so musste er wieder Tage und Nächte in der Mühle stehen, um das Korn zu gutem Brotmehl zu mahlen.

    Jakob kümmerte sich wenig um Haus und Hof, das Vieh im Stall, die Mühle mit dem Wasserlauf und den Haushalt. Es war jetzt vier Jahre her, dass Vater und Mutter innerhalb weniger Wochen nacheinander verstorben waren. „Johann, du kannst kochen, du versorgst auch den Jakob", so sprach die Mutter auf dem Sterbebett. Damit hatte sie ihm nicht nur das Kochen, sondern die ganze Hausarbeit mit übertragen. Aber es geschah immer wieder, dass er vor lauter Arbeit nicht zum Kochen kam und mit einer Kante Brot und einem Stück Speck seinen Hunger stillte. Jakob schimpfte abends, wenn er von seinen Handelstouren zurückkam und sich seinen Anteil vom Mittagsmahl nicht aufwärmen konnte, weil es zu Mittag kein Essen gegeben hatte.

    Auf seinen Bruder Jakob war er neidisch, weil dieser doch so anders war als er. Jakob konnte Leute ansprechen, auf sie zugehen, mit ihnen Geschäfte machen und somit Geld verdienen. Auch mit den Weibsleuten konnte er umgehen, erst neulich erzählte er von der Begegnung mit der Klara. Wie gerne würde er auch so wie sein Bruder leben, aber er war in der Einsamkeit der Mühle gefangen.

    Jakob hatte immer ein Geschäft am laufen. Einen Tag in der Woche brauchte er, um mit Pferd und Wagen die Mahlkunden zu bedienen, an zwei oder drei anderen Tagen sattelte er den Gaul und suchte sein Glück im Viehhandel, oder er betätigte sich als Makler beim Handel mit Holzkohle zwischen den Köhlern im Wald und den Betreibern der Eisenhütten. Selbst als Heiratsvermittler hatte er Erfolg. Erst kürzlich hatte er dem Sohn des reichen Geiles-Bauern die dralle Margret zugeführt. Eine arme Magd, die aber zupacken konnte, nachdem der einfältige junge Geiles-Bauer mit der Tochter des Sternemann vor lauter Gezänk um die Mitgift nicht weiter kam. Der Geiles-Bauer zahlte Jakob den Gegenwert von zwei Ferkeln und lieferte ihm noch fünf Säcke Korn. Für eine Braut ohne Vermögen war das reichlich. In einem anderen Fall hatte Jakob schon den Wert einer fetten Sau und zehn Säcken Hafer als Vermittlergebühr erhalten, als er ein reiches Mädchen bei einem ebenso reichen Bauern untergebracht hatte.

    Sein Bruder hatte Erfolg, er brachte Taler und sogar Goldstücke heim, die Geldstücke im Geheimfach in der großen Truhe mehrten sich. Auch er hatte seinen entsprechenden Anteil an diesem Geld. Die Mühle lief das ganze Jahr, weil sie aus dem großen Bach ausreichend Wasser hatte. Selbst im trockenen Sommer drehten sich die Räder, während sie bei den Konkurrenten in den Nachbartälern wegen Wassermangels still standen.

    Er stand die meiste Zeit im Jahr allein hier unten im Tal, während Jakob unter die Leute kam. Darum war er traurig und wütend zugleich, wobei er die Mühle verdammte, die ihn doch in der Einsamkeit dieses Tales gefangen hielt. Doch die Mühle war auch sein Elternhaus, seine Heimat, hier war er groß geworden und auch nach dem Tod der Eltern war das Verhältnis zu seinem Bruder immer harmonisch ohne größere Unstimmigkeiten gewesen.

    Nach dem kräftigen Regenguss brannte die Sonne wieder, die Blätter des Nussbaumes waren längst getrocknet. Die kleinen Vögel, die Rotschwänze und die Meisen trieben wieder ihr wildes Spiel bei der Jagd nach Futter, wobei sie von der allgegenwärtigen Spatzenschar ständig bedrängt wurden.

    Johann verspürte Hunger, die Wanduhr war stehen geblieben, weil sie keiner aufgezogen hatte, und so musste er auf den Jakob warten, der doch Vaters Taschenuhr hatte. Die Mittagszeit musste längst vorbei sein und er hatte mal wieder nichts gekocht. „Morgen ist auch noch ein Tag", dachte er und beschloss für den Rest des Tages nicht mehr zu arbeiten. Sein Leibgericht wollte er sich kochen, eine Flasche Wein aufmachen und die Zeit genießen, bis der Jakob mit dem Wagen zurückkam, auf dem er Korn für die Mühle und die Neuigkeiten aus dem Dorf brachte.

    Zuerst entfachte er das Feuer auf dem Herd und holte dazu Holz aus dem Schuppen. Im Stall verlangte er die Kuh einen Schoppen frische Milch ab, die durch die ungewöhnliche Melkzeit sehr verstört war. Einen Brei aus Hafergrütze verfeinert mit Honig sollte es geben, seine Leibspeise, die aber seinem Bruder ganz zuwider war. Als Nächstes nahm er die Eier vom Tag aus dem Hühnerstall, und stieg mit der kurzen Leiter in den Kamin, um die Speckseite herunterholen, denn zuerst gab es Eier mit Speck, bevor er seinen honigsüßen Brei löffelte. Zu dem süßen Brei schmeckte eigentlich kein Wein, aber das war ihm egal, denn er hatte eine dieser verstaubten Flaschen aus der Schorpe heraufgeholt. Während der Speck für die Rühreier in der Pfanne brutzelte, probierte er schon mal einen Schluck, es war ein guter Wein von der Nahe, gegen den Fusel, den der Hanne-Hannes in seiner Schankstube zum Frühschoppen ausschenkte, war dieser Wein ein Hochgenuss.

    Zufrieden über sein gelungenes Essen hatte er die Füße auf einen zweiten Stuhl gelegt, den Teller in der Hand, löffelte er, schmatzte genüsslich und schlürfte den Wein aus einem blau bemalten Steingut-Becher. Was würde wohl Jakob sagen, wenn er heimkam und ihn so faul ausgestreckt auf zwei Stühlen sah. Dieser Gedanke erschreckte ihn, und er nahm die Beine von dem zweiten Stuhl, worauf er sich anständig an den Tisch setzte. Doch dann dachte er wieder: „Der Jakob nimmt sich so viel heraus und lässt mich immer allein, warum soll ich mir nicht einen gemütlichen Tag machen. Er blickte auf den Kalender an der Wand und zählte mit den Fingern die Wochentage seit Sonntag nach, worauf er auf das Datum 15. Mai 1852 kam. Er dachte an den Tag vor vier Jahren, 1848, das Jahr der Revolution und an die Kerle, die am späten Nachmittag mit einem gesattelten Pferd auf die Mühle kamen und forderten, den Gaul in der Scheune oder im Stall zu verstecken. Fünf Kerle waren es. „Freiheit fürs Volk, die Staatsgewalt wird gebrochen, die Amtsleute jagen wir zum Teufel. Jakob sah die Übermacht und hatte schnell klein beigegeben und den Gaul in den Stall geführt. Johann dachte noch an die geladene Flinte in der Truhe, aber wer weiß wie das ausgegangen wäre, wenn er geschossen hätte. Lumpengesindel, Faulenzer, die nichts zu verlieren hatten, schrien meist am lautesten.

    Im Dorf sollten sie ihr Fett abbekommen. Der Schullehrer und der Förster waren die einzigen Amtspersonen im Dorf. Zuerst zogen sie vor die Schule. „Arschplätscher komm heraus, heute kriegst du mal den Arsch gehauen." Doch der Lehrer hörte nichts, obwohl es im Dorf bis dahin noch keine Unruhen gegeben hatte, so war er doch schon vor einigen Tagen mit seiner Familie geflohen. Sie warfen die Fensterscheiben ein, womit sie die Bevölkerung aufbrachten, und einige Männer aus der Nachbarschaft griffen zu den Mistgabeln, womit sie diesen Rabauken folgten.

    2

    Es war inzwischen dunkel geworden, als sie an das Forsthaus kamen. Doch der Förster war gewappnet. Die Fensterläden im Untergeschoss waren immer verschlossen und seine Flinten standen geladen an der Wand. So fiel schon gleich der erste Warnschuss, als sie durch seinen Garten trampelten, um von hinten an das Haus zu kommen. Beim zweiten Schuss gab es einen Aufschrei und gleich darauf drohendes Geschrei von den Dorfleuten, die mit Knüppeln und Mistgabeln auf das Lumpenpack einschlugen. Drei konnten unerkannt entkommen, der Vierte blutete stark am Kopf und der Lenz hatte ihn mit einem Strick an sein Scheunentor gebunden, der Fünfte blieb liegen, ihn hatte der Förster mit einer leichten Ladung Schrot in die Beine getroffen.

    Die Leute im Dorf waren keine Unmenschen, die verletzten Kerle wurden versorgt. Der Theis-Peter hatte den blutigen Kopf verbunden, der Rabauke bekam Brot und Suppe und er durfte sich auf einen Strohsack in die Scheune legen. Die Lenzen-Mutter kühlte dem anderen die Beine, holte am nächsten Tag mit einer Nadel die Schrotkörner aus seinen Waden und machte ihm ein Lager im Pferdestall. Die Barmherzigkeit, die ihnen im Dorf zuteil wurde, bewirkte auch bei den Revolutionären einen Sinneswandel. Sie verdingten sich als Knechte, der eine beim Lenz und der andere beim Theis.

    Eine Änderung der schlimmen Zustände von 1848 trat erst ein, als die Regierung Truppen des Wetzlarer Jägerbataillons entsandte, welche die Ordnung wieder herstellten. Von diesen Soldaten kam auch eine Schwadron durchs Tal gezogen, sie bauten auf der Wiese vor der Mühle ihr Biwak auf. Jetzt wurde es spannend, denn sie führten acht Pferde mit. Drei gingen unter dem Sattel, vier zogen die zwei Bagagewagen, von denen einer unmittelbar vor der Mühle stand. Ein Pferd fehlte. Jakob und Johann blickten sich schweigend an, sie wussten jetzt, der Gaul in ihrem Stall gehörte den Soldaten. Johann hatte vor Angst Schweißausbrüche, doch sein Bruder in seiner lockeren Art nahm die Sache sehr gelassen. Er griff sich einen halben Sack Mehl, der zufällig für die Auslieferung an einen Kunden bereit stand und trug ihn zu dem Leutnant in dessen Zelt. „Das gibt Brot für des Königs Soldaten, tönte er und ließ den Sack auf das Feldbett des Leutnants fallen. Dann zog er den Schnapskrug unter dem Wams hervor, „ein Schluck in Freundschaft, sagte er und hielt ihm den Krug vor die Nase.

    Jakob hatte Erfolg. Nach zwei Stunden kam er mit dem leeren Krug wieder zurück und berichtete was ihm der Leutnant in seinem Schnapsrausch zu seinem Marschbefehl anvertraut hatte. Mehrmals hätte er das entlaufene Pferd verflucht, aber sie kämen auch so zurecht und der Feldwebel, dem der Gaul durchgebrannt sei, müsse jetzt mit der Mannschaft zu Fuß gehen. „Lasse keinen in den Stall und auch nicht in die Scheune. Sie bleiben nur einen Tag und ziehen dann weiter." Mehr als diese knappe Anweisung zu dem gestohlenen Pferd hatte Jakob nicht zu sagen und ging gleich in sein Bett, denn auch er spürte den Schnaps.

    Während sein Bruder im Zelt bei dem Leutnant den Schnaps trank, war Johann auch nicht untätig gewesen. Er klaute den Soldaten von ihrem Bagagewagen ein Gewehr mit einer gehörigen Menge Pulver und einige Kugelbeutel. Das Gewehr und die Bleikugeln versteckte er im Radhaus neben dem Mühlrad, und das Pulver verwahrte er im Heustock, da es im Radhaus zu feucht war.

    Durch diese Revolution erfuhr die Jagdausübung eine entscheidende Änderung. Die Jagdhoheit, die früher dem Kurfürsten und jetzt dem Staat oblag, war jetzt an den Grund und Boden gebunden, das heißt die Grundstückseigentümer konnten jetzt die Jagd selbst ausüben.

    Sie haben an der Mühle schon immer gejagt oder besser gesagt gewildert. Sie brauchten dazu nicht auf die Pirsch zu gehen, schon der Großvater hatte vom Küchenfenster aus ins Tal geschossen, wo allabendlich das Wild in den Wiesen stand. Aber das Schloss an dem alten Vorderlader war ausgeleiert, und so kam ihm das neue präzise Militärgewehr gerade recht.

    Bei seinen Träumereien über die Vergangenheit dachte Johann auch an das was im Intelligenzblatt stand. Jakob brachte diese Zeitung allwöchentlich vom Ochsen-Karl mit, nachdem dieser seine Zeitung gelesen hatte. Obwohl er nicht verstand was er las, so war er doch einer der wenigen im Dorf, die dieses Blatt abonniert hatten.

    Grausam ging es in Wien zu. Der Kaiser war geflohen. Die aufgebrachten Volkshaufen, die sich Demokraten nannten, schreckten vor Mord und Totschlag nicht zurück. Den ehrwürdigen Stephansdom hatten sie mit Blut besudelt. Ein kaiserlicher Abgeordneter entging nur dadurch dem Tod, weil kein Strick mehr greifbar war, um ihn am nächsten Laternenpfahl aufzuhängen.

    In Berlin ging es ähnlich zu. Der König war nach Brandenburg geflohen. Stricke hatten sie in Berlin genug, aber der König hatte noch die Macht, Soldaten einzusetzen, die diese Gräueltaten teilweise verhindern konnten.

    So auch die Soldaten des Bayernkönigs, die in der abtrünnigen Pfalz wieder für Ordnung sorgten.

    In Preußen machte der König eine „monarchische Gegenrevolution", die dem Staat den Sieg aus diesem Durcheinander einbrachte. Zwar waren in die vom König gegebene neue Verfassung einige Konzessionen an das liberale Bürgertum eingebaut worden, doch die wesentlichen Ziele dieser Revolution wurden nicht erreicht.

    „Der Bauer macht’s Geschwätz, der König und das Ministerium macht’s Gesetz." Dieser Ausspruch wurde zum geflügelten Wort, als alles vorbei war.

    Das schöne Pferd blieb bei ihnen im Stall. Obwohl sie wussten, wo das Tier herkam, hatte der Jakob die zwei Kerle gefragt, ob sie es gestohlen hätten. Sie verneinten, denn sie hätten es im freiem Feld eingefangen, und sie wüssten nicht, wem es gehöre. Länger als vier Wochen hatten sie zwei Gäule im Stall stehen und warteten bis einer sich meldete, dem ein Pferd fehlte. Der Lenz kam den fremden Gaul zu besichtigen. „Das ist ein Kavalleriegaul, ich kenne den Sattel, das ist ein Militärsattel", konstatierte er und von da ab hatten sie keine Bedenken mehr den Gaul zu behalten. Ihren alten Fuchs hatte ihnen der Hanne-Hannes abgekauft. Aber die Bauern im Dorf waren neidisch und einige wollten ihr Korn vom Bolz-Müller mahlen lassen. Jedoch sie kamen bald wieder, weil ihre Frauen schimpften, als sie das unsaubere Mehl von Bolz-Müller zu Brot backen sollten.

    Beide Fäuste als Kopfstützen, so saß Johann am Tisch und hing seinen Gedanken nach. Zwischendurch hatte er ein schlechtes Gewissen, weil er die Arbeit liegen ließ und einem ganz gewöhnlichen Wochentag zu seinem persönlichen Feiertag machte. Die Jahre der Erinnerung strömten ihm durch den Kopf als würde ihm jemand seine Lebensgeschichte vorlesen. Besonders das Todesjahr der Eltern, die Revolution, die doch einige Veränderungen mit sich brachte und trotzdem im ganzen Rheinland ziemlich ruhig verlief, war ihm so gegenwärtig als wäre alles erst gestern geschehen.

    3

    In diesem Jahr hatten sie auf der Mühle noch eine andere Begegnung, an die er sich gerne erinnerte. Ein Handwerksbursche kam das Tal herab, klopfte an der Haustür und bat um ein Stück Brot. Obwohl der Kerl einen friedlichen Eindruck machte war Johann doch froh, dass auch Jakob im Haus war, als er den ausgehungerten Mann in die Stube führte, wo er ihm zu dem Brot auch ein Stück Schinken auf den Tisch legte. Seine Augen weiteten sich als er die Nahrung sah. In der einen Hand das Brot und in der anderen das Fleisch, er kaute auf beiden Seiten wie eine Mastziege und dazu einen Krug mit Sauermilch, außer Wasser war kein anderes Getränk greifbar. Fritz Hofmann, so hieß der Bursche, verzehrte alles, obwohl er gegen Ende seiner Mahlzeit Mühe hatte, den letzten Rest des Brotes hinunterzuwürgen. Erst jetzt begann er zu erzählen und bedankte sich zunächst dafür, dass er satt geworden sei. Er stammte aus dem Fränkischen, war Zimmermann und seit zwei Jahren auf Wanderschaft. Seit 1848 hatte er sich politisch betätigt, er war in Frankfurt vor der Paulskirche, als die Bundesversammlung dort zusammenkam und marschierte auch hinter der Schwarzrotgoldenen Fahne mit den Burschenschaften. „Wir haben für die Demokratie demonstriert, aber nicht geschlagen und randaliert wie die in Berlin. Jetzt hielt er einen Vortrag und versuchte Johann und Jakob die Demokratie zu erklären. Am Ende seiner Ausführungen wusste er, er hatte zwei aufrichtige Demokraten dazu gewonnen. Sein offenes Gespräch gab ihm schließlich den Mut eine weitere Bitte vorzubringen. „Dürfte ich einige Tage bei euch auf der Mühle bleiben? Kein Meister hat Arbeit für mich als Zimmermann, es wird nichts gebaut. Meine Wanderung soll bis nach Trier gehen, aber zunächst muss mir ein Schuhmacher meine Schuhe besohlen, und ich möchte mal wieder für einige Nächte ein Dach über dem Kopf haben. Dabei hob er seine Füße bis über den Tisch und zeigte seine durchgelaufenen Sohlen.

    Bei solchen Entscheidungen war der Jakob immer schneller. Er hatte die Gelegenheit erkannt, ohne ein Wort zu sagen ging er nebenan in die Kammer und brachte die letzten Schuhe des verstorbenen Vaters. Sie passten keinem, aber Jakob sah, dass des Zimmermanns kleiner Fuß gerade für dieses noch sehr gute Schuhwerk recht sein konnte. Der Mann war ganz verwirrt, weil er auf seine Bitte keine Antwort erhielt und stattdessen mit einem Paar guten Schuhen konfrontiert wurde. Auf einen Wink Jakobs probierte er zuerst den einen und dann den anderen Schuh, sie passten wie angemessen. Tränen glänzten in seinen Augen und verschämt wischte er sich mit dem Handrücken durchs Gesicht. „Die kann ich nicht bezahlen, so viel Geld habe ich nicht."

    „Du schläfst auf der Ofenbank, gehst dem Johann etwas zur Hand und erneuerst die ausgetretenen Stiegen im Haus. Die Schuhe kannst du behalten, beim Essen sitzt du bei uns am Tisch." So lautete Jakobs knappe Anweisung.

    Freudestrahlend hatte Fritz Hofmann diesen Vorschlag angenommen und er wurde für mehr als einen Monat ihr Mitbewohner. Er hatte nicht nur gute Schuhe an den Füßen, er hatte auch satt zu essen, ein warmes weiches Bett und zu den friedlichen Nächten im Tal noch ein Dach über dem Kopf. Die hohlen Wangen wurden wieder voller, die Schnalle am Hosengürtel ging nicht mehr bis zum letzten Loch, das gute Essen auf der Mühle zeigte Wirkung.

    Nicht nur die Stiegen hatte er mit dem guten Eichenholz aus ihrem Schuppen erneuert, sondern auch die ausgetretenen Dielen in der Stube hatte er meisterhaft ausgewechselt. Beim Abschied, der Jakob gab ihm noch fünf Taler, denn er hatte mehr als seine Schuhe verdient, flossen Tränen und nach etwas mehr als einem Jahr kam ein Brief aus Nürnberg, seine Wanderschaft war zu Ende und er hatte die Tochter seines alten Lehrmeisters geheiratet, die ein Kind von ihm erwartete.

    Das war nun schon auch vier Jahre her, Johann kamen die Tränen als er erneut an den Fingern die Jahre nachgezählt hatte. Die Einsamkeit auf der Mühle belastete ihn so sehr. Das Leben ging an ihm vorbei, ohne dass er es merkte. Jeden zweiten Sonntag eine halbe Stunde Weg zum Hochamt ins Dorf, anschließend zum Hanne-Hannes in die verräucherte Schankstube zum Frühschoppen, zwei Viertel von seinem saueren Wein und dann wieder eine halbe Stunde Heimweg, das war die einzige Abwechslung in seinem Leben.

    Jakob ging nicht mit zum Hanne-Hannes. Er hatte seine Häuser, die er sonntags aufsuchte. Vier an der Zahl, jeden Sonntag in ein anderes, aber in jedem wohnte ein junges Fraumensch. Dort blieb der Jakob auch zum Essen. Aber wenn der Johann am späten Mittag auf die Mühle kam, war nichts gekocht, was blieb ihm bei seinem Hunger, eine Kante Brot mit einem Handkäse oder einem Stück Speck, oder ein Stück Hirschschinken, wenn dieser lange genug im Rauch gehangen und ausgereift war.

    Wie gerne würde er auch mal zur Weber-Tres ins Haus gehen, aber er traute sich nicht. Lustig war es mit ihr an der Kirmes auf dem Tanzboden gewesen. Eine ganze Flasche Wein hatte er allein mit ihr getrunken. Beim sonntäglichen Kirchgang kam sie gerade immer dann aus der Haustür, wenn er an ihrem Haus vorbeiging. Sie lächelte ihn an, grüßte freundlich und das kurze Wegstück bis zur Kirche gingen sie nebeneinander, wobei er ihren Morgengruß nur mit einem unverständlichen Gemurmel erwiderte. Die Tres anzusprechen, dazu fehlte ihm der Mut. „Der Jakob muss mir helfen", dieser Gedanke durchfuhr ihn, doch er verwarf diese Überlegung gleich wieder, er schämte sich vor seinem Bruder, der für ihn das Mädchen ansprechen sollte.

    Johann wurde unruhig, er marschierte in der Stube auf und ab und dachte über seine ausweglose Lebenssituation nach. Im Stall brüllte die Kuh, jetzt erschrak er, und er wusste was die innere Unruhe in ihm ausgelöst hatte, es war längst Abend geworden. Auch wenn das Pendel der alten Standuhr still stand, so zeigte ihm doch die tiefstehende Sonne, die gerade über der Talkante verschwinden wollte, was die Stunde geschlagen hatte. Das Vieh wollte versorgt werden und für den Jakob musste er auch was auf dem Tisch haben, wenn der von seiner Tour zurückkam. Für eine solche Tour mit Pferd und Wagen, um Mehl auszuliefern und wieder Korn aufzuladen, dafür brauchte der Jakob einen ganzen Tag. Darüber ärgerte er sich auch immer wieder, aber wer weiß, welche Händel der Jakob immer noch nebenher betrieb. Er erzählte nichts, wenn er am Abend zurückkam, sondern er klimperte mit den Talern in seiner Hosentasche, die er dann einzeln in den Kasten fallen ließ, um ihm, seinem Bruder, der den ganzen Tag den Staub der Mühle geschluckt hatte, seinen Reibach mit den einzeln fallenden Talerstücken vorzuführen.

    Gerade betrat Johann die Küche, um den Melkeimer zu holen, da sah er durch das Fenster ein Reh im Wiesengrund stehen. „Verdammt noch mal, auch das noch, aber Frischfleisch ist von Nöten." Hastig ging er in die Stube an die Truhe, mit geübter Hand füllte er Pulver und Blei in den Lauf, und dann lehnte er sich mit dem langen Gewehr auf die Brüstung des Küchenfensters, seinen Wams als gepolsterte Unterlage unter den Vorderschaft, und nach wenigen ruhigen Atemzügen brach der Schuss. Der Abendwind verwehte den Pulverdampf, und Johann sah das getroffene Reh im hohen Gras schlegeln.

    Das Gewehr in die Truhe, das scharfe Messer von der Ablage auf der Anrichte geholt, einen alten Mehlsack über die Schulter geworfen, um das Hemd nicht mit dem blutenden Wildkörper zu verschmutzen, ging Johann mit großen Schritten hinunter in die Wiesen. Ehe ein auf den Büchsenknall aufmerksam gewordener Jäger nachsehen kam, musste das Stück beseitigt sein.

    Im kühlen dunklen Radhaus neben dem Wasserrad ein geübter scharfer Schnitt durch die Bachdecke, Pansen und Gedärm herausnehmen

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