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Vagant-Trilogie 3: Sieben
Vagant-Trilogie 3: Sieben
Vagant-Trilogie 3: Sieben
eBook540 Seiten7 Stunden

Vagant-Trilogie 3: Sieben

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Über dieses E-Book

Jahre sind ins Land gezogen, seit der Vagant zur Leuchtenden Stadt kam – mit der kleinen Vesper im Arm und Gammas Schwert in der Hand. Inzwischen hat sich die Welt verändert. Vesper reiste auf den Spuren ihres Vaters zum Bruch, schloss den Riss zwischen den Welten und beschützte damit die letzten Reste der Menschheit.

Ein neues Zeitalter ist angebrochen und Vesper übernimmt die Verantwortung für Frieden und Einigkeit. Es scheint nichts zwischen der Welt und der großartigen neuen Zukunft zu liegen. Bis sich Augen öffnen – und Die Sieben erwachen.
SpracheDeutsch
HerausgeberCross Cult
Erscheinungsdatum1. Okt. 2018
ISBN9783959818056
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    Buchvorschau

    Vagant-Trilogie 3 - Peter Newman

    DANKSAGUNGEN

    KAPITEL

    EINS

    Alpha von Den Sieben steht in einem Alkoven. Er ist von Stein ummantelt, der dünn wie eine Eierschale ist. Ein zerbrechliches Gefängnis aus Trauer – aus Steintränen, die kurzzeitig fließen, sich verhärten, ersticken.

    Seit tausend Jahren hausen er und seine Geschwister in ihrer Kammer, zerfließen mit nach innen gerichtetem Blick in ihrem Selbstmitleid und entfernen sich immer weiter von der Menschheit. Das war nicht immer so.

    Einst, als der Bruch sich zu regen begann, entsandten sie ihre Schwester Gamma, um ihr Volk zu unterstützen. Es war ihre Gelegenheit, sich hervorzutun, den Willen des Schöpfers zu erfüllen und einen ruhmreichen Kampf gegen die Höllenbrut zu führen.

    Aber da war kein Ruhm. Nur Tod.

    Als Gamma nicht heimkehrte, weinten Die Sieben einen Fluss aus Tränen für das Leben, das hätte sein sollen. Endlos.

    Und als ein bescheidener Vagant Gammas lebendiges Schwert zurückbrachte, hatte das Relikt sich verändert. Sie boten ihm an, an ihrer Seite zu ruhen, aber es wies sie zurück. Es verurteilte sie.

    Und so entflohen sie Schmerz und Trauer und kehrten in eine Zuflucht aus Erinnerungen zurück.

    Jahre vergingen und eine neue Bedrohung erhob sich aus dem Bruch.

    Die Sieben kehrten ihr den Rücken.

    Und Gammas Schwert wagte sich erneut in die Welt.

    Dieses Mal trug ein Mädchen es zu ihnen zurück – und wo der Mann geschwiegen hatte, hatte es eine Menge zu sagen.

    Alpha erinnert sich an die Worte. Sie versetzen ihm Stiche und wühlen auf, verwandeln Trauer in Zorn, Tatenlosigkeit in Handeln. Wut lässt ihn beben. Risse bilden sich in der eierschalendünnen Steinschicht. Einzelne Brocken fallen wie Puzzleteile eines Mannes, der sich selbst auseinandernimmt. Jedes Stück enthüllt ein silbernes Glitzern, einen Hinweis auf die Gestalt, die darunter haust. Schwingen breiten sich aus: Eine Steinkaskade fällt herab, als Alpha glänzend den Alkoven verlässt, umgeben von einer Aura aus wirbelndem Staub.

    Als seine Essenz gleißend zum Leben erwacht, folgen auch seine Geschwister. Sie wachen langsam und widerwillig auf, sind dazu gezwungen und zögern dennoch. Sie sind neugierig und doch furchtsam.

    Alphas Augen sind so blau wie der Himmel. Er betrachtet jeden einzelnen Alkoven – seine Brüder Beta und Epsilon und seine Schwestern Delta, Theta und Eta. Silberne Schwingen entfalten sich, Stein bröckelt ab und enthüllt glänzende Körper. Die Fragmente zerplatzen zu einer Wolke. Ein Schlag mit den Schwingen, zwei, dann ist die Wolke vertrieben.

    Sie starren einander lange Zeit an. Der Staub setzt sich und Gedanken formen sich langsam. Dann verlassen sie einer nach dem anderen ihren Alkoven und gesellen sich zu Alpha in der Mitte des Raums.

    Sechs perfekte, metallene Gestalten stellen sich im Kreis auf. Ihre Stimmen sind wie Musik und verweben sich harmonisch mit den anderen. Langsam singen sie darüber, was während ihres Schlafs geschehen ist, von allem, was fehlgeschlagen ist. Dann beginnen sie eine Diskussion darüber, was zu tun ist und wie viele sterben müssen.

    In der Nähe zappelt Vesper unruhig, während Federn in ihr Haar geflochten werden. »Muss das wirklich sein?«

    Hände pausieren nach ihrer Frage und drei Paar Augen wenden sich der Autorität im Raum zu.

    Die Gruppe, die das Mädchen ankleidet, wird von Huldigung beaufsichtigt, dem einzigen Menschen, der Zutritt zum innersten Allerheiligsten Der Sieben hat. Sie ist in ihren Federumhang gehüllt, ihre Haut haarlos, ihre Zehen und Finger nagellos, ihr Leben und ihr Körper dem Dienst gewidmet. Huldigungs Stimme kann Unsterbliche beruhigen und hat erst recht keine Probleme mit Vesper. »Du missbilligst es?«

    »Das ist es nicht«, sagt Vesper. »Ich bin sicher, es sieht … wunderhübsch aus. Aber das bin ich eigentlich nicht. Ich denke, sie sollten mich so sehen, wie ich bin.«

    »Glaubst du, dass du durch dein Erscheinungsbild definiert wirst?«

    Sie kratzt eine kleine Ansammlung winziger, weißer Narben auf ihrer Wange und denkt nach. »Nein.«

    »Dann erscheine als Anführerin vor ihnen. Du bist die Erwählte Der Sieben, Träger von Gammas Schwert. Deine Stimme wird uns in ein neues Zeitalter führen. Veränderung ist beunruhigend und die Bewohner der Strahlenden Stadt müssen an dich glauben. Das hier …« Sie zeigt auf Vespers Kluft. »… wird es ihnen leichter machen.«

    Vesper zuckt mit den Schultern, Huldigung nickt und das Team macht sich wieder an die Arbeit.

    Änderungen werden vorgenommen, man zerbricht sich den Kopf über winzige Einzelheiten. Ihr langer Mantel wird sorgfältig hergerichtet, die Schulterpanzer ein letztes Mal poliert. Vespers Stiefel fügen zwei Zentimeter zu ihrer Größe hinzu, ihre Haare weitere fünf. Sie fühlt sich nicht größer.

    »Bist du bereit?«, fragt Huldigung.

    Sie ist es nicht. »Ja«, erwidert sie, hebt das Schwert und schnallt es sich auf den Rücken.

    Huldigung schenkt ihr ein seltenes Lächeln. »Gut. Es ist Zeit.«

    Sie versammeln sich an der Treppe, die zum Allerheiligsten Der Sieben hinaufführt. Es sind Tausende: eine Zeremonie, um den dieses Mal weiblichen Träger willkommen zu heißen. Bedeutende Bewohner der Strahlenden Stadt und stolze Mitglieder des Imperiums des Geflügelten Auges. Die Seraphritter in ihren glänzenden Rüstungen, die Soldaten in ihren perfekten Formationen und die Bürger, die bescheiden gekleidet und deren Aussehen und Gedanken einheitlich sind. Sogar die Kinder sind hier, angeordnet nach ihrem jeweiligen Chor, synchronisiert und stumm.

    Wie ein lebendiges Meer wogen sie um die großen, silbernen Stufen, ein glanzvolles Monument aus nahtlosem Metall, hundertfünfzig Meter hoch, das abrupt mitten in der Luft endet. Weitere fast hundert Meter leerer Raum trennen die Stufen von dem großen schwebenden Würfel, der das Allerheiligste selbst bildet. Er verfügt über keine besonderen Merkmale, dreht sich langsam und wird von Mächten in der Luft gehalten, die niemand mehr versteht.

    Eine kleine Öffnung zeigt sich am Fuß des Würfels. Zwei Gestalten werden darin umrahmt.

    Weit unten senkt die versammelte Menge ehrerbietig ihre Häupter und die Ritter ziehen die singenden Schwerter zum Gruß.

    Eine der Gestalten – Huldigung – tritt heraus. Ihre Füße finden in der Luft Halt und sie steigt herab. Ihr Gewicht wird von der Liebe Der Sieben getragen. Diesen Akt des Glaubens vollführt sie täglich. Die zweite – Vesper – zieht das Schwert und streckt es gerade nach vorne weg. Silberne Schwingen entfalten sich vom Griff und ertasten die mit der Luft vermischten Essenzströmungen. Ein am Kreuzstück des Schwerts eingelassenes Auge wird enthüllt. Es öffnet sich und Vesper sieht hinein.

    Die junge Frau lächelt knapp und folgt Huldigung hinaus.

    Keine von beiden stürzt ab.

    Die eine schreitet würdevoll voran, die andere mit stiller Zuversicht.

    Als sie die oberste Stufe erreichen, runzelt Vesper die Stirn. Das Auge im Schwert hat sich nicht geschlossen und starrt stattdessen über ihre Schulter nach oben. Es ist weit aufgerissen und besorgt. Sie riskiert einen kurzen Blick, aber sie sieht nur die Seite des großen Würfels und die beiden Sonnen darüber.

    Bald verbannt sie alle Befürchtungen aus ihren Gedanken, denn die Augen der Strahlenden Stadt ruhen auf ihr. Wenn sie spricht, wird man ihr lauschen. Und auf ihre Bitte hin wird jedes Wort von ihr in den Überresten des Imperiums verbreitet – durch Chips, die direkt in Gedanken flüstern, durch Läufer, Händler und alle Netzwerke, die den Lupen zur Verfügung stehen.

    Ihr eigener Chip füttert ihr jetzt die Worte der Rede. Sie weiß, was zu sagen ist; aber wie Huldigung ihr erklärt, hören nur die Ohren die Worte. Es ist an ihr, die Herzen zu gewinnen.

    Sie sieht sich nach Unterstützung um, nach einem letzten Schub für ihr Selbstvertrauen, bevor sie beginnt.

    Sie findet ihn in einem Paar bernsteinfarbener Augen, die sie von einigen Stufen unter ihr beobachten. Ihr Vater wirkt in der angelegten Rüstung merkwürdig. Obwohl er im Stile der Stadt zurechtgemacht ist, fällt er auf, denn er fühlt sich offensichtlich unbehaglich. Trotz aller Ehren weiß sie, dass er lieber daheim wäre, um sich um die Ziegen zu kümmern und wackelige Erweiterungen am Haus anzubringen.

    Der Gedanke lässt sie lächeln. Sie ist überrascht und es wärmt ihr Herz, ihn dort zu sehen.

    Ihr Vater lächelt zurück.

    Das genügt.

    Sie atmet tief durch, hält ihr Schwert hoch und beginnt zu sprechen. »Unser Krieg gegen die Höllenbrut ist seit nunmehr zehn Jahren vorüber. Der Bruch bleibt versiegelt. Doch die Wunden aus diesen Zeiten bleiben.« Für einen ganz kurzen Moment zögert sie und sucht nach irgendeiner Reaktion. Es gibt keine. »Der Süden ist vom Krieg verheert. Als die Dämonen über uns kamen, rief unser Volk die Strahlende Stadt um Hilfe an und wir taten nichts. Ein ums andere Mal wiederholten sie diesen Ruf. Ein ums andere Mal taten wir nichts. Jetzt müssen wir das wiedergutmachen.

    Einige unserer Kolonien, wie Klangvoll, fühlten sich vom Imperium verlassen, also verließen sie uns. Und sie hatten das Recht, wütend zu sein, denn wir haben sie im Stich gelassen, als sie uns am meisten brauchten. Wir haben Klangvoll jetzt verloren, genau wie wir das südliche Imperium verloren haben. Aber es ist noch nicht zu spät, erneut eine Bindung zu ihnen aufzubauen und Wiedergutmachung zu leisten. Sie brauchen nicht länger unsere Schwerter, aber sie brauchen unsere Hilfe.

    Wisst ihr, die Welt da draußen hat sich gezwungenermaßen verändert. Es gibt neue Mächte jenseits des Meeres – Menschen, Dämonen und Halbblüter und wunderbare Mischungen aus den dreien. Einige dieser Mächte haben an meiner Seite gegen das Schlimmste gekämpft, was der Bruch aufbieten konnte.«

    Sie bricht ab. Ihr Blick schweift über Hunderte Gesichter, die zu ihr hochstarren. Nur der Kopf ihres Vaters bewegt sich, während sie spricht, und nickt ermutigend. Die unzähligen anderen sind reglos, ausdruckslos. Stimmen sie dem zu, was sie sagt? Verstehen sie sie überhaupt?

    »Wir können die Höllenbrut nicht länger einfach als unsere Feinde betrachten. Einige sind uns feindlich gesinnt, ja. Aber nicht alle. Und einige von ihnen haben uns die Hand als Friedensangebot entgegengestreckt. In Neu Horizont wurden unsere Leute versklavt und es war nicht die Macht des Imperiums, die sie befreite. Es war ein Höllischer. Es war nicht das Imperium, das ihre Wunden versorgte oder ihnen Nahrung und Kleidung gab, es war ein Höllischer.

    Ich werde bald wieder nach Süden gehen und die Völker, die sich von uns entfremdet haben, aufsuchen. Doch ich werde nicht an der Spitze einer Armee marschieren, ich werde als Freund dorthin gehen. Wenn wir unseren Platz in der Welt finden wollen, müssen auch wir uns ändern. Wir müssen einen neuen Weg finden. Zu diesem Zweck habe ich ein Treffen der größten Anführer unseres Zeitalters arrangiert. Gemeinsam werden wir einen Weg finden, um in Harmonie zu leben und zu arbeiten, die Vergangenheit hinter uns zu lassen und für unsere Familien und Freunde eine bessere Zukunft zu gestalten.«

    Als sie fertig ist, gibt es keinen Beifall, kein Zeichen von der Menge, dass man sie gehört hat.

    Ihr Vater lächelt zu ihr auf. Seine Augen sind vor Stolz zusammengekniffen.

    Sie fragt sich, ob sie vom Text abweichen soll, mehr sagen soll, einen Weg finden soll, um an den zahllosen unergründlichen Masken vorbeizukommen und eine Reaktion zu erhalten.

    Das Schwert in ihrer Hand beginnt zu summen.

    Sie sieht es an.

    Es sieht an ihr vorbei nach oben.

    Genau wie Huldigung, ihr Vater und die Menge.

    Zwillingsschatten werden länger, fallen auf sie, lassen sie erzittern. Hinter ihr bewegt sich etwas zwischen ihr und den Sonnen aus Rot und Gold, etwas Riesiges.

    Als die Erkenntnis dämmert, sinken die Versammelten auf die Knie, wie eine große Welle aus Dominosteinen, die gegeneinanderfallen.

    Vesper muss sich nicht umdrehen, um zu wissen, was geschieht.

    Sie dreht sich trotzdem um.

    Das Allerheiligste Der Sieben, ein Würfel aus glänzendem Metall – eineinhalb Kilometer lang –, steigt auf. Dabei dreht er sich langsam. Dann verdeckt das Allerheiligste die Sonnen.

    Alle beobachten mit offenem Mund verblüfft den Aufstieg.

    Ein Bogen aus blutrotem Licht schimmert unter dem Würfel hervor, dann ein zweiter aus Gold. Wolken teilen sich, lange bevor der Würfel sie erreicht. Sie scheinen sich ehrerbietig zur Seite zu biegen.

    Der Würfel schwebt noch weiter in die Höhe.

    Niemand wagt es, den Blick abzuwenden. Unausgesprochene Fragen hängen auf den Lippen. Was hat das zu bedeuten? Ist es ein Zeichen für eine triumphale Rückkehr der Sieben oder dafür, dass schlimmere Dinge bevorstehen?

    Wie ein Ballon an einer unsichtbaren Schnur setzt der riesige Würfel seine Reise senkrecht nach oben fort, bis er aussieht wie ein kleiner, silberner Mond, der sich zu den Sternen gesellt.

    Als er nur noch ein winziger, glitzernder Fleck am Himmel ist, richtet sich die Aufmerksamkeit wieder auf das obere Ende der Treppe. Vesper sieht in ein Meer aus Gesichtern und leckt sich über die plötzlich trockenen Lippen. Sie hat keine Ahnung, was sie sagen soll. Ihr wird keine vorbereitete Rede über ihren Chip vermittelt und sie hat keinen Einblick in die Handlungen Der Sieben.

    Sekunden verstreichen quälend langsam.

    Ein Schweißtropfen zeigt sich auf Vespers Stirn und läuft über ihr Ohr hinunter.

    Ihr Vater nickt ihr zu, hebt dann einen Herzschlag später die Augenbrauen und lässt die Hand dreimal kreisen.

    Sie öffnet den Mund, atmet tief durch … und dann spricht Huldigung.

    »Bewohner des Imperiums, schenkt mir eure Aufmerksamkeit. Denn heute ist wahrlich ein großer Tag. Der Träger steht vor uns allen und bittet uns darum, dass wir uns erheben und die Herausforderungen, die vor uns stehen, annehmen. Und sehet! Die Sieben sind aufgestiegen als Inspiration für Ihr Volk. Denn Ihr Auge ruht auf uns und Sie erwarten nur das Beste. Wir dürfen Sie nicht enttäuschen. Geht jetzt wieder an eure Pflichten und tragt die Worte des Trägers mit euch, die Anmut Der Sieben in euren Herzen und wisset, dass Sie zusehen.«

    In ordentlichen Reihen löst die Menge sich auf. Gemessene Schritte können nicht über den Eifer hinwegtäuschen.

    Huldigung wendet sich an Vesper. »Offenbar überlassen Die Sieben es dir nicht länger alleine, dich zu mühen.«

    »Das ist wahr«, antwortet sie und zwingt sich zu einem Lächeln. »Wir haben großes Glück.«

    Doch das Schwert in ihrer Hand scheint etwas anderes anzudeuten. Sein Auge starrt immer noch sorgenvoll in den Himmel.

    Vesper trifft ihren Vater am Stadtrand der Strahlenden Stadt. Zum ersten Mal, seit sie ihn vor fünf Jahren für ihre große Reise verlassen hat, sind die beiden allein. Es dauert eine Weile, bis sie den Mann, der vor ihr steht, mit dem Bild, das sie von ihrem Vater hat, vereinen kann. Die bernsteinfarbenen Augen sind dieselben, aber sie scheinen in ein anderes Gesicht versetzt worden zu sein, ein jüngeres. Langes Haar wurde kurz geschnitten, die Stoppeln verbannt. Obwohl der Kragen gelockert ist, wurde ihm seine Kleidung auf den Leib geschneidert und ein Symbol des Geflügelten Auges in die Schultern eingewoben. Die Narben an der Seite seines Kopfs wurden behandelt. Man sieht immer noch Linien, die bis zum Haaransatz reichen, aber sie sind nicht so auffällig, wie sie sie in Erinnerung hat. Seine Gestalt wirkt voller.

    »Wow!«, sagt sie.

    Er macht einen Schritt auf sie zu und es gibt kein Anzeichen für sein Hinken. Als er sie umarmt, wird sie hochgehoben wie früher, als sie noch ein Kind war.

    Für einige kostbare Momente verschwinden alle Sorgen der Welt und können nicht an den Armen ihres Vaters vorbei. Sie umarmt ihn ebenfalls stürmisch.

    Der Klang eines beinahe menschlich klingenden Schreis lässt sie zusammenzucken. Er stammt von jemand anderem, der ebenfalls gewartet hat, dass sie die Stadt verlässt. Vespers Gesicht strahlt sofort begeistert. Das Böckchen ist gewachsen und zum Bock geworden. Der Bock ist hochgewachsen und stolziert umher, wo er früher nur hoppelte. Das Meckern des Ziegenböckchens war niedlich, liebenswert – aber das des Bocks ist entsetzlich. Manchmal ein Schreien, manchmal eher ein Kreischen, nicht ganz der Ruf einer Ziege, aber auch nicht der eines Menschen. Ein seltsamer, hässlicher Laut irgendwo dazwischen. Nur Vesper findet ihn entzückend.

    Der Bock eilt eifrig an ihre Seite und das Wasser läuft ihm bereits im Maul zusammen.

    Sie enttäuscht ihn nicht und steckt ihm einen dicken, fasrigen Schössling ins Maul. »Du siehst heute großartig aus.«

    Die Augen des Bocks funkeln, wobei nicht deutlich ist, ob das am Futter oder an dem Kompliment liegt. Die Kiefer machen sich an die Arbeit und der Schössling quietscht entrüstet. Vesper kichert und zaust ihm die Ohren. Der Bock wimmert. Ihre Finger fahren langsam am Rand des rechten Ohres entlang, bis sie eine ausgefranste Stelle finden, die einst glatt gewesen war. »Und keine Sorge, ich werde mit dem Monster reden, wenn ich heimkomme. Sie wird dich nicht noch einmal beißen.«

    Der Gesichtsausdruck des Bocks wirkt pessimistisch.

    Vesper macht sich auf den Weg. Ihre Arme wedeln, während sie mit ihrem Vater spricht und der Bock kauend und eifrig nebenhertrottet.

    »Du glaubst also wirklich, dass die Rede gut war, ja?«

    Ihr Vater nickt.

    »Ich weiß, ich frage immer dasselbe, es ist nur …«

    Er streckt die Hand aus und legt sie auf ihren Arm.

    »Danke. Und dass Die Sieben jetzt zurückgekehrt sind, was, glaubst du, hat das zu bedeuten?«

    Ihr Vater zuckt mit den Schultern.

    »Huldigung sagt, es ist ein Zeichen für Ihr Wohlwollen. Jedenfalls hat sie dafür gesorgt, dass der Kommandant der Ritter das allen erzählt. Ich bin da nicht so sicher. Als ich hochsah, fühlte ich mich nicht hoffnungsvoll. Ich hatte … Angst.«

    Ihr Vater runzelt die Stirn und schweigt.

    Vesper wird langsamer, als sie sich dem Hügel nähert. Sie hatte erwartet, aufgeregt zu sein, vielleicht ein wenig nervös, aber in Wahrheit sträubt sich etwas in ihr.

    Zehn Jahre sind vergangen, seit sie den Bruch versiegelt hat. Zehn Jahre des Wiederaufbaus, der Erneuerung und des Versuchs, etwas von dem wiederherzustellen, was während des Kriegs mit der Höllenbrut verloren gegangen war. Während dieser Zeit ist sie innerlich gewachsen. Obwohl das Imperium des Geflügelten Auges Den Sieben gewidmet ist, haben die Unsterblichen, solange sie lebt, geschwiegen. Die Befehle, die sie in Ihrem Namen gegeben hat, gestalten jetzt die Zukunft.

    In den letzten fünf Jahren hat sie die Welt mit ihren Rittern – dem Orden der Zerbrochenen Klingen – bereist und hat sich mit Dämonen, Halbblütern und Menschen getroffen; eine Gruppe grundverschiedener Anführer, geschmiedet durch Unglück und Beschwernisse. Nicht alle dieser Zusammenkünfte waren angenehm verlaufen, aber es ist ihr gelungen, durch eine Kombination aus Überredung, natürlichem Enthusiasmus und – wo nötig – Machtdemonstrationen funktionierende Beziehungen zu den meisten aufzubauen.

    Der Fortschritt daheim und anderswo ist langsam, aber sie ist jetzt nah dran, ihre Vision zu verwirklichen. Dennoch verblasst dieses Gefühl des Triumphs, jetzt, da sie herkommt. Sie ist zu lange fort gewesen und hat Dinge zu Hause vernachlässigt, um an ihrer großen Vision zu arbeiten. Jetzt muss sie sich dieser Tatsache stellen.

    Sie spürt, wie jemand ihre Schulter drückt, und wirft einen Blick hinunter. Sie sieht, dass eine kleine silberne Schwinge sich darumgelegt hat. Sie streicht mit den Fingern darüber und lächelt.

    Sie geht weiter und das Gras unter ihren Füßen wird kürzer und gepflegter. Es legt Zeugnis von der Arbeit vieler Ziegen ab. Sie sind als Tupfen in der Landschaft zu sehen. Mattweiß und braun gescheckt heben sie sich von dem Grün ab, groß und klein, fast zwanzig Generationen. Es gab eine Zeit, da kannte Vesper jede einzelne Ziege mit Namen. Diese Zeit ist längst vorüber.

    Zwei Gebäude werden sichtbar. Sie bleibt stehen und staunt darüber, wie sehr sie sich verändert haben. Das erste – das Haus, in dem sie aufgewachsen ist – ist größer geworden. Ein neuer Anbau steht schief an seiner linken Seite. Er wurde offensichtlich nicht von den Ingenieuren des Imperiums gebaut. Jeder Ziegel wurde mühsam per Hand gelegt. Aber für Vesper haben die Unvollkommenheiten einen gewissen Charme.

    Sie wendet sich an ihren Vater. »Du warst fleißig.«

    Er betrachtet seine Arbeit, sieht dann verlegen zur Seite und geht ins Haus. Sie folgt ihm nicht. Sie ist noch nicht ganz bereit, sich dem zu stellen, was auf sie wartet. Noch nicht.

    Das zweite Gebäude ist kleiner. Es dient als Schuppen für ihre Tiere und als Lagerplatz. Als Vesper darauf zugeht, wird der Bock langsamer und bleibt immer weiter zurück.

    Drinnen ist es dunkel und voll alter, muffiger Gerüche. Vesper späht in die Schatten, bis sie eine Gestalt in einer Ecke entdeckt.

    Hände stemmen sich in die Hüften. »Wach auf, du armseliges Ding!«

    Ein Kopf hebt sich langsam und unsicher auf einem zotteligen Hals. Die dunklen Augen sehen nicht mehr so gut wie früher, sind aber so hasserfüllt wie eh und je.

    »Mir ist vollkommen egal, wie alt du bist. Wenn du nicht aufhörst, jeden zu beißen, mache ich Gulasch aus dir, okay?«

    Die Augen der Ziege ziehen sich zusammen.

    »Dieses Mal meine ich es ernst.« Vesper deutet mit dem Finger auf sie, um ihre Worte zu unterstreichen, und steckt dann die Hand in den Beutel. »Aber ich habe dir das hier mitgebracht. Ich weiß allerdings nicht, warum ich mir die Mühe mache, du undankbares Monster.«

    Sie wirft der Ziege einen ledrigen Streifen hin und tätschelt ihr den Kopf. Die Ziege schnuppert an der Gabe und beginnt dann, sie zu fressen. Dabei ignoriert sie die Zuneigung, so gut es geht.

    Vesper geht zum Haus zurück und bleibt an der Tür stehen. Ihre Hand hebt sich unsicher, als ob sie klopfen will. Sie nimmt Geräusche von drinnen wahr. Stimmen von Erwachsenen, die sich unterhalten, und eine jüngere, die sie übertönt. Schreit? Ist das ein Spiel oder eine Art Streit?

    Vesper hat ein flaues Gefühl im Magen und ihre Hand bleibt, wo sie ist.

    Auf ihrem Rücken öffnet sich ein Auge und die Schwinge drückt erneut ihre Schulter. Vesper muss sich nicht umdrehen, um die stille Ermutigung des Schwerts zu sehen.

    »Also schön«, murmelt sie. »Ich gehe hinein.«

    Sie klopft einmal so leise, dass es fast unhörbar ist. Das Schwert auf ihrem Rücken schaut finster und die Schwinge drückt fester zu. Vesper klopft ein zweites Mal, dieses Mal lauter.

    Die Geräusche auf der anderen Seite hören auf.

    Sie atmet tief durch, öffnet die Tür und geht hinein.

    Vesper durchquert schnell den Flur. Jeder Blick ist bittersüß, beschwört Kindheitserinnerungen herauf und zeigt ihre Ungenauigkeiten auf. Schränke haben die falsche Farbe, die Wände weisen Altersspuren auf und alles ist kleiner, als sie es in Erinnerung hat.

    Bis auf die Küche. Eine der Wände wurde durchbrochen, um Platz für einen neuen Tisch zu schaffen. Um diesen herum glotzen vier Gesichter sie an.

    Sie winkt und lächelt verlegen. »Hi!«

    Wie aus einem Guss erheben sie sich, um sie zu begrüßen.

    Es ist schwer zu sagen, wem sie sich zuerst zuwenden soll. Bevor sie sich entscheiden kann, ist Jem auf den Füßen und kommt auf sie zu. Er beugt sich vor, küsst sie und seine Arme legen sich um ihre Schultern, nur um dann steif zu werden, als sie auf das Schwert treffen.

    Sie hat kaum Zeit, den Kuss wahrzunehmen oder ihn zu genießen, bevor er sich wieder zurückzieht.

    Sie mustern sich gegenseitig und bemerken die kleinen Veränderungen. Sie ist gewachsen und jetzt so groß wie er, doch sie wirkt größer, weil sie gerade steht und er vornübergebeugt. Seine Augen sind so scharf wie immer, aber darunter befinden sich dunkle Flecken, die auf schlaflose Nächte hindeuten. Gutes Essen hat seiner Gestalt Rundungen hinzugefügt, aber sein Lächeln ist nach wie vor ungezähmt.

    Sie mustert sein Gesicht und kann nicht erkennen, ob das Lächeln aggressiv ist oder nicht.

    Bevor einer von beiden etwas sagen kann, mischt sich eine andere Stimme ein: »Vesper, bist du das?«

    Ihr Onkel Harm streckt seine Arme zaghaft nach ihr aus. Sie nimmt seine fragende Hand in ihre und drückt sie. »Ich bin es.«

    Sie umarmen sich und Harms Fingerspitzen bewegen sich zu ihrem Gesicht, fahren über ihre Wangen, ihren Nasenrücken und ihre Stirn. Er nickt zufrieden. »Keine neuen Narben. Das ist ein gutes Zeichen.«

    »Dasselbe könnte ich zu dir sagen.«

    Er kichert. »Schön, dass du wieder zu Hause bist.«

    Von ihnen allen hat Harm sich am wenigsten verändert. Ein paar zusätzliche Lachfalten, einige graue Haare mehr. Vesper findet das tröstlich. Dann wendet sie sich ihrem Vater zu und dem kleinen Mädchen, das neben ihm steht.

    Sie sieht hinunter.

    Ein kleines Gesicht starrt zu ihr hoch.

    Dunkle Locken umrahmen mürrische Augen und hinuntergezogene Mundwinkel. Die Haut des Mädchens ist dunkler als ihre, aber heller als Jems. Die Spirallinien, die ihren Körper bedecken, sind im Laufe der Jahre noch deutlicher geworden und nicht verblasst, wie Vesper gehofft hatte. Das ist der Grund, weshalb ihre Tochter von der Strahlenden Stadt ferngehalten wurde. Die Menschen im Imperium des Geflügelten Auges sind noch nicht bereit, mit so offensichtlichen Zeichen der Verderbnis umzugehen, ganz gleich wie geringfügig sie sein mag. Innerlich schwört sie, dass sich das zu ihren Lebzeiten ändern wird.

    Das Mädchen sieht nervös zu Vespers Vater hoch.

    »Hallo, Reela!«, sagt Vesper. »Ich bin es, deine Mutter. Ich bin wieder da.«

    Eine Pause entsteht. Ihr Vater nickt dem kleinen Mädchen beruhigend zu und schiebt es dann sanft in Richtung Vesper.

    Vesper lässt sich auf ein Knie herab und öffnet die Arme. »Ist schon gut, ich beiße nicht.«

    Das Mädchen tritt vor und akzeptiert die Umarmung ihrer Mutter. Vesper fragt sich, ob die Dinge vielleicht doch nicht so schlecht stehen, wie sie befürchtet hat.

    Alle zucken zusammen, als Reela schreit. Sie duckt sich unter Vespers Arm hindurch und rennt an ihr vorbei. Der Schrei hallt die Treppe hinauf, bis er durch das Zuschlagen einer Tür oben verstummt.

    Vesper redet einige Minuten lang, um die Zurückweisung ihres Kindes durch Erzählungen von größeren Dingen zu verbannen. Ihre Arme wedeln immer mehr vor Enthusiasmus. Drei Männer sitzen um den Tisch herum und hören zu: ihr Vater, ihr Onkel und ihr Geliebter.

    Reela bleibt oben. Von Zeit zu Zeit kann man hören, wie sie in ihrem Zimmer umherspringt und kreischt. Die Geräusche knarrender Dielen und schrillen Gelächters werden immer lauter.

    Vesper versucht das zu ignorieren, aber ihr rechtes Augenlid zuckt bei jeder neuen Unterbrechung.

    »Und«, schließt Vesper, »es bedeutet, dass wir einen Ort haben werden, an dem wir uns treffen und Probleme lösen können. Aber mehr noch, wir werden eine neue Lebensweise erschaffen, in der wir erst reden, anstatt zu kämpfen.« Ein weiterer Knall von oben lässt Vesper zusammenzucken. »In der Kinder wie Reela ohne Angst aufwachsen können.« Sie macht eine Pause, aber niemand sagt etwas. »Nun, was haltet ihr davon?«

    Sie sieht nacheinander in ihre Gesichter. Harms ist sorgfältig ausgewogen – Unterstützung durchsetzt mit Sorge. Ihr Vater sieht stirnrunzelnd auf den Tisch hinunter. Jem sieht einfach nur verärgert aus.

    Einige dumpfe Schläge und ein Kreischen von oben sind nicht dazu angetan, die Spannung aufzuheben.

    Harm beugt sich vor. Seine Stimme ist sanft. »Ich glaube, was du versuchen willst, ist sehr mutig.«

    »Aber?«

    »Aber ich bin nicht sicher, ob das Imperium bereit ist. Hast du darüber nachgedacht, wie es Reela schaden könnte?«

    Vesper schüttelt ihren Kopf. »Ich tue es für Reela und all die anderen wie sie. Sie sollte sich nicht in den Schatten verbergen müssen, weil das Imperium zu engstirnig ist, um sich mit Veränderungen zu befassen!«

    »Da stimme ich dir zu, aber du riskierst, sie zu einem Ziel zu machen.«

    »Als du in die Strahlende Stadt gekommen bist, hast du dich nicht versteckt, Onkel.«

    Harm lächelt traurig. »Das stimmt, aber ich bin freiwillig hingegangen und ich kannte die Risiken. Und man akzeptierte mich erst, nachdem ich von der Verderbnis gesäubert worden war – und selbst dann durfte ich nur hier draußen leben.«

    »Das sollte so nicht sein. Ich werde das beheben.«

    »Die Leute im Imperium sind dir bis jetzt gefolgt, weil du dich langsam bewegt hast, aber wenn du anfängst, dich direkt gegen das Gesetz Der Sieben zu stellen … Nun, das könnte für uns alle schlimm enden.«

    Eine peinliche Stille entsteht. Vespers Vater starrt weiterhin mit gerunzelter Stirn auf die Tischplatte.

    »Wir haben gesehen, wie der Würfel aufgestiegen ist«, sagt Jem. »Haben Die Sieben irgendetwas getan?«

    »Nein. Sie sind einfach weggeflogen. Vielleicht in den Weltraum? Ich weiß es nicht und, um ehrlich zu sein, es ist mir egal. Wir haben schon viel zu lange auf Sie gewartet.«

    »Was willst du jetzt tun?«

    Sie sah ihn verwirrt an. »Genau das, was ich auch vorher tun wollte. Wenn Die Sieben beschließen, die Dinge zu verbessern, dann komme ich vielleicht zurück und lebe hier. Bis dahin braucht das Imperium uns.«

    Jem schluckt. »Aber … hast du keine Angst?«

    Sie geht zu ihm hin und nimmt eine seiner Hände in ihre. »Natürlich habe ich Angst. Aber das wird mich nicht aufhalten.«

    »Uns«, fügt Harm hinzu. »Es wird uns nicht aufhalten. Wir stehen das zusammen durch. Als Familie.«

    »Ich bin froh, das zu hören. Um genau zu sein, bin ich erleichtert. Ich glaube nicht, dass mein Plan ohne euch funktioniert.«

    Harm lächelt. »Das klingt rätselhaft.«

    Sie lächelt zurück. »Ich will, dass du die Leute hier anleitest, wie du mich angeleitet hast.«

    »Ich bin kein Ausbilder.«

    »Nein, und ich will auch keinen. Ich will jemanden, der ihnen etwas über das Leben jenseits des Meeres erzählen kann. Und ich will, dass du ihnen dabei hilfst zu begreifen, dass nicht alle Höllischen gleich sind. Ich habe versucht, ihnen das in meiner Rede zu sagen, aber ich glaube nicht, dass sie es verstanden haben. Es ist zu groß.«

    Harm nickt langsam. »Das wird nicht einfach, aber ich habe ein paar Ideen. Vielleicht erzähle ich ihnen ein paar meiner alten Geschichten.«

    »Ja, erzähl ihnen von Verdigris und Zäher Brocken.«

    »Also schön.«

    »Oh, und du musst ihnen von der Usurpatorsippe dort erzählen und dass sie ein Teil der Stadt sind.«

    »Das werde ich.«

    »Und ich glaube …«

    Harm lacht und Vesper fällt schnell ein. Dann schwelgen die beiden in Erinnerungen an alte Zeiten, tauschen Namen aus und sind von der Aufregung völlig vereinnahmt. Vesper bemerkt nicht, dass Jem in den hinteren Bereich der Küche schlüpft, um sich einen starken Drink zu machen. Ihr Vater bemerkt es und kneift die Augen zusammen.

    »Und mach dir keine Sorgen um Reela«, fügt Harm hinzu. »Sie ist normalerweise nicht so schlimm.«

    »Ich weiß nicht genau, ob ich mich jetzt besser oder schlechter fühle.«

    »Sie wird schon zur Vernunft kommen.«

    »War ich … wie sie? Du kannst ruhig ehrlich sein.«

    Harm schüttelt den Kopf. »Nein, du warst einfacher. Aber mach dir keine Sorgen, sie wird das überstehen. Ich glaube, sie vermisst dich einfach.«

    »Sie hat eine merkwürdige Art, das zu zeigen.«

    »Liebe kann Leute dazu bringen, sich merkwürdig zu verhalten.« Er hüstelt höflich. »Ich kann mir kaum vorstellen, von wem Reela das hat.«

    Jem räuspert sich. Das Glas in seiner Hand ist bereits halb leer. »Wann wirst du uns wieder verlassen?«

    »Bald.«

    »Und wie lange wirst du dieses Mal fort sein?«

    »Ich weiß es nicht.«

    »Einen Monat? Sechs Monate?« Seine Unterlippe kräuselt sich, während er spricht. »Ein Jahr? Weitere fünf Jahre?«

    »Ich sagte doch, ich weiß es nicht.«

    »Harm hat recht, du wirst uns in Gefahr bringen. Die Strahlende Stadt hasst uns.«

    »Das ist lächerlich.«

    »Spionieren die Lupen uns deswegen aus? Wahrscheinlich hören sie genau in diesem Moment zu.«

    »Die Lupen müssen eine ganze Welt überwachen. Die wissen kaum, dass du existierst!«

    Jem leert sein Glas und steht auf. »Das kommt mir bekannt vor.«

    »Wo willst du hin?«

    »Nirgendwohin. Wenn du deine Meinung änderst, darfst du dich mir gerne anschließen.«

    Vesper blinzelt ihre Tränen weg. »Ich muss das tun, verstehst du das nicht?«

    »Doch«, sagt Jem bitter. »Das tue ich.« Er geht aus der Küche. Kurz darauf schlägt die Haustür zu.

    Das rhythmische Hopsen oben wird durch einen lauten Knall unterbrochen. Dann folgt eine kurze Pause, dann schrilles und anhaltendes Weinen.

    Vespers Vater wirft einen Blick in Richtung des Lärms und sieht dann Vesper an.

    Sie vergräbt das Gesicht in den Händen. »Nicht jetzt … ich kann es nicht.«

    Seufzend erhebt ihr Vater sich. Er berührt kurz Harms Arm, geht um den Tisch herum, um eine Hand auf Vespers Schulter zu legen, und geht dann hinaus.

    Sie hören Schritte auf knarrenden Treppenstufen und dann, wie eine Tür sich öffnet und schließt. Das Weinen wird gedämpft und bewegt sich langsam über ihren Köpfen von links nach rechts. Allmählich klingt es ab.

    Harm spricht in die Stille hinein. »Wieso gehst du nicht nach oben und siehst nach ihr? Sie vermisst dich.«

    »Also schön. Danach muss ich mit Jem reden, wenn es keine weiteren Ablenkungen gibt. Es gibt Dinge, die ich ihm unter vier Augen sagen muss.«

    »Viel Glück!«

    Sie macht sich daran, die Treppe hinaufzusteigen, und nickt Harm grimmig zu. »Danke.«

    Irgendwie ist es ermüdender, sich mit ihrer Tochter zu befassen, als ein ganzes Imperium zu verwalten. Reela wieder ihrem Vater zu übergeben und das Haus zu verlassen, ist eine Erleichterung.

    Sie findet Jem am Fuße des Hügels. Er blickt auf die Strahlende Stadt und erinnert sie daran, wie sie dasselbe getan hat.

    »Na, dann mal los!«, murmelt sie dem Schwert zu und geht hinunter, bis sie neben ihm steht. »Hi! Was dagegen, wenn ich mich zu dir geselle?«

    Er zuckt verdrießlich mit den Schultern.

    »Hör zu.« Sie nimmt das Schwert von ihrer Schulter und legt es hin. »Es tut mir leid, dass ich nicht da war.«

    Ein schuldbewusster Ausdruck huscht über sein Gesicht und er scheint in sich zusammenzusacken. »Ah, Vesp, es tut mir leid, was ich da drinnen gesagt habe. Seit es hieß, du seist zur Strahlenden Stadt zurückgekehrt, habe ich darauf gewartet, dass du wieder herkommst, und am Ende jedes einzelnen Tages konnte ich nicht verstehen, warum du es nicht getan hast. Ich redete mir ein, dass du am nächsten Tag oder dem Tag danach kommen würdest, und habe mich darauf gefreut, wieder mit dir zusammen zu sein. Glaube es oder nicht, ich war aufgeregt. Ich hatte sogar Pläne für ein paar nette Dinge, die wir gemeinsam unternehmen könnten. Und als du dann aufgetaucht bist, hast du, kaum fünf Minuten nachdem du da warst, davon gesprochen, wieder fortzugehen. Noch eine lange Reise übers Meer … Ich konnte es einfach nicht glauben. Da habe ich die Beherrschung verloren.« Er lächelt sie schief an. »Aber ich nehme an, den letzten Teil hast du dir bereits gedacht.«

    Ihr Gesichtsausdruck passt zu seinem. »Ich hatte da so eine Ahnung.«

    »Weißt du, das Letzte, was ich wollte, war, dich wieder wegzustoßen.«

    »Das weiß ich. Deshalb bin ich hier.« Er nickt und die letzte Anspannung weicht aus seiner Haltung. »Würdest du gern noch einmal von vorn beginnen?«, fragt sie. »So tun, als ob ich gerade erst zurückgekommen bin?«

    »Gerne.«

    Sie reden, ihre Finger berühren sich gelegentlich zögernd und die schlechten Gefühle weichen allmählich guten. Als die Sonnen untergehen, fließt die Unterhaltung leichter. Zwangsläufig wird sie nostalgisch und kehrt zu den frühen Tagen ihrer Gemeinsamkeit zurück. Aufrichtiges Gelächter entsteht, und als es vorüber ist, steht Ernsthaftigkeit in Jems Augen.

    »Du hast mir gefehlt.«

    »Du mir ebenfalls.«

    »Ich hasse es, die Dinge zu vermiesen«, sagt Jem, »aber ich muss mit dir über Reela sprechen.«

    »Okay. Sie war heute schwierig. War sie schon immer so lautstark?«

    »Ja. Aber das ist nicht ihre Schuld, sondern die deines Vaters.«

    »Wie kann das seine Schuld sein?«

    »Zum einen verwöhnt er sie zu sehr und zum anderen lässt er sie mit allem davonkommen. Wenn sie etwas zerbricht oder ungezogen ist und ich sie ausschimpfe, hebt er sie einfach hoch und knuddelt sie. Das untergräbt mich vollkommen. Und dann wirft sie mir einen dieser Blicke zu. Du weißt schon.«

    Sie seufzt. »Ich weiß.«

    »Als ob ich derjenige wäre, der etwas falsch gemacht hat.«

    »Hast du versucht, mit Onkel Harm darüber zu sprechen?«

    »Ja, aber er ist genauso schlimm wie dein Vater. Die meiste Zeit findet er Reelas Verhalten lustig. Sie gewöhnen ihr diese Unarten an und halten mich davon ab, das wieder in Ordnung zu bringen.«

    »Ich rede mit ihnen, bevor ich fortgehe, okay?«

    »Okay. Danke. Sieh mal, es wird dunkel. Wir sollten wahrscheinlich wieder nach drinnen gehen.«

    »Lass uns noch ein bisschen hier draußen bleiben.«

    »Es wird kalt.«

    Sie nimmt seine Hand in ihre. »Aber ich bin warm, erinnerst du dich?«

    Ein etwas anderes Glitzern erscheint in Jems Augen. »Ich denke schon, aber es ist schon eine Weile her. Ich glaube, man muss es mir wieder ins Gedächtnis rufen.«

    Vesper tritt ganz nah zu ihm, lässt ihre Hände um seine Taille herumgleiten und küsst ihn. Seine Nase ist wie ein Eisklumpen an ihrer Wange, seine Hände auf ihren Hüften lassen sie vor Kälte zusammenzucken.

    Sie küsst ihn wieder und zieht ihn näher an sich.

    Wie sich herausstellt, muss man Jem gar nichts wieder ins Gedächtnis rufen. Um genau zu sein, ist seine Erinnerung zu diesem Thema hervorragend. Trotzdem – oder deswegen – bleiben sie noch lange, nachdem die Sonnen untergegangen sind, draußen.

    KAPITEL

    ZWEI

    Vesper bricht am nächsten Tag auf. Ihr Vater beobachtet, wie sie mit dem Ziegenbock und ihrer Leibwache aus Seraphrittern – dem Orden der Zerbrochenen Klingen – zur Küste marschiert. Jedes Mitglied des Ordens ist Vesper ergeben und steht persönlich in ihrer Schuld. Ihre Rüstungen glitzern im Sonnenlicht. Stolz macht ihre Bewegungen zackig.

    Als sie nur noch ein Fleck am Horizont sind, bleibt er immer noch stehen. Als der Fleck vollkommen verschwunden ist, bleibt er immer noch stehen.

    Schließlich, als selbst die Erinnerung daran unbestreitbar verschwunden ist, seufzt er und wendet sich seinem Zuhause zu.

    Die Geschäfte in der Strahlenden Stadt werden wieder aufgenommen und jeder Bewohner kehrt zu

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