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Schlund
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eBook518 Seiten5 Stunden

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Über dieses E-Book

SCHLUND: Über den täglichen medialen und mentalen Lärm und wie er uns in den Wahnsinn treibt. Was aus Punks wird, wenn sie alt werden. Vom Überleben in Supermärkten, U-Bahnen und Fußgängerzonen. Über Junkfraß und Suff, Nazi-Fetisch und den Sex der Gestörten. Die Unfähigkeit, das Richtige zu tun. Ein Mix aus Biografie, Beobachtungen, Ängsten, wüsten Spekulationen, Halbwahrheiten und Lügen. SCHLUND ist Schund!
SpracheDeutsch
HerausgeberHirnkost
Erscheinungsdatum22. Nov. 2018
ISBN9783947380237
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    Buchvorschau

    Schlund - Karl Nagel

    Films

    KAPITEL 1

    KINO ODER KNAST

    Der Tag, an dem ich mich dagegen entschied, in die Geschichte einzugehen und den Rest meines Lebens hinter Gittern zu verbringen, war weder kalt noch warm. Er war lau, unauffällig und hinterfotzig. Wie alle anderen zog ich es vor, mich kaufen zu lassen, wie sie schaufelte ich die Exkremente Satans auf den Teller und bildete mir ein, wie ein König zu speisen. Doch nicht mal Gurgeln mit Coca-Cola konnte den schlechten Geschmack im Mund vertreiben.

    An besagtem Tag – es war der 4. Februar des Jahres 2004 – entging Berlin einem verheerenden Terroranschlag, und die Welt erlaubte sich den Luxus, das zu ignorieren. Niemand nahm Notiz von der tickenden Zeitbombe in Gestalt eines Mannes im schwarzen Anzug, schlank, mit Glatze und flinken Augen, hinter denen ein Albtraum nackt auf dem Tisch tanzte.

    Noch heute will es nicht in meinen Kopf hinein, dass ich dieser Mann war. Versteckt in der Masse emsig arbeitender Ameisen, hatte ich am Gendarmenmarkt Position bezogen, gleich am Eingangsbereich des dortigen Konzerthauses. Hier träumte ich vor mich hin, während ich meinen Job machte: Die Tickets der prominenten Gäste entgegennehmen, Platzierungsprobleme lösen, Computer überwachen und nebenbei ein Dutzend Hostessen bei Laune halten, die sich mit meiner Software abmühten. Ich sollte sicherstellen, dass damit alles rundlief, als Mann für alle Fälle.

    Vorbei die Zeiten, in denen mich die Sicherheitsbehörden als Teilnehmer von Gewaltexzessen führten, als »reisenden Chaoten« und »linksextremistischen Punker«. Als »Gefährder«, wie Leute meiner Sorte auf dem Höhepunkt der Terror-Hysterie einige Jahre später genannt werden sollten.

    In meinen Augen stellte sich das natürlich anders dar. Dennoch hätte man mir diesen Job niemals anbieten dürfen – in einer Welt, in der alle das nächste Blutbad herbeiredeten. Weil aber die Security keine Telepathen beschäftigte, drückte niemand den Alarmknopf. Die Sirenen blieben stumm.

    Nun stand ich hier im Tempel der Schleimer, Schönen und Mächtigen und amüsierte mich bei dem Gedanken, dass Axel Springer gerade jetzt im Grab rotierte. Denn die Lebenden traten das Erbe des Verlegers mit Füßen; sie hatten in ihrer Ahnungslosigkeit die Sicherheit hunderter Prominenter einer zwielichtigen Gestalt anvertraut, der offenbar alles zuzutrauen war – mir! Und das ausgerechnet zur Verleihung der Goldenen Kamera, dem pompösen Film- und Fernsehpreis des Axel-Springer-Verlags. Wie jedes Jahr gab sich aus diesem Anlass die TV-, Film und Politprominenz in Berlin ein Stelldichein und ließ sich vom ewig gutgelaunten Thomas Gottschalk Honig ums Maul schmieren.

    Hier war ich also gelandet, mittlerweile 43 Jahre alt. Ohne bunte Haare, ohne Lederjacke, keine Chaostage – jetzt trug ich Schlips und Anzug bei der Goldenen Kamera. Ich stand nicht mehr mit den Heiligen Scheinen auf der Bühne, die Faust gereckt, sondern begrüßte den Botschafter Israels, schrie nicht »Niemals aufgeben«, bis der Saal tobte. Stattdessen sagte ich wie im Briefing empfohlen mein Sprüchlein auf: »Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend«. Immer wieder, bis zum Erbrechen.

    Wir taten unsere Pflicht: ich, die Mädchen und eine Rotte Fotografen, die alle prominenten Neuankömmlinge mit einem Blitzlichtgewitter überfiel. Sobald sich die Tür einer Limousine öffnete und ein Gast den roten Teppich zum Konzerthaus beschritt, gab es kein Entkommen. Unzählige Gaffer bildeten ein Spalier, um sich der Existenz der Lichtgestalten aus Film und Fernsehen zu versichern.

    Doch niemand sah den Film, den ich sah – sonst hätte sich der Laden in ein Tollhaus verwandelt! Nach außen hin posierte ich als gewöhnlicher Anzugträger, der in versierter Seelenruhe seine Arbeit tat, aber in mir kochte ein Hackfleischgericht ganz besonderer Art.

    Ein fixer Griff unter den Tisch, und ich habe die Sporttasche in der Hand. Ziehe die Halbautomatische heraus, den Rucksack über. Munition gecheckt, den Promi-Mob im Blick: Keine zehn Meter von mir entfernt Veronica Ferres, die debil lächelnd ihr Kleid vor Zaungästen und VIP-Kameras präsentiert und auf Stöckelschuhen über den Teppich tänzelt. Die sieht sich bestimmt schon in der nächsten Gala.

    Nix da, anlegen, ballern: »Hey, Vroni, nimm’ DAS!« Die Grinsefresse der Ferres erfriert, als die Kugel in ihre Brust einschlägt. Ihr letzter Auftritt vor der versammelten Presse endet jäh, sie kippt sofort um. Blut bespritzt die Fotografenmeute, die von der nächsten Garbe dahingemäht wird.

    Ich stürme zum Eingang des Konzertsaales, hinter mir Geschrei und vor mir niemand, der mir den Weg versperrt. Doch, einer: Dieter Thomas Heck schwingt seine Arme wie Windräder, hält lautstark Volksreden. Der Schreihals ruft nach den Verantwortlichen des Radaus, das kann er haben: BRRRAAAKKSCH!!! Sein Kopf explodiert in einem blutroten Heiligenschein. Treffer, versenkt!

    Im bereits gut gefüllten Saal mache ich Schluss mit der Präzisionsarbeit: RRRATTATTATTATT-RRRATTATTATTATTATTATTATTATT!!! Dank dieser gleichmäßigen Verteilung von Blei erwische ich den Großteil der Bande. Einer nach dem anderen fällt vom Stuhl, die Simulanten zuerst. Glauben sie etwa, ihr Ableben schauspielern zu können? Mir ist es gleich, ob jemand davonkommt. Solange es nur für die Top-Nachricht des Tages reicht!

    Ich bin ein T-800 aus Terminator und scanne die Umgebung, ssss-ssssssss! Thomas Gottschalk erspähe ich nirgendwo. Klar, fällt der Groschen, der kommt erst, wenn die Kameras laufen – Glück für ihn! Bei Gottschalk drücke ich gerne ein Auge zu, weil er im Bayerischen Rundfunk vor seiner TV-Karriere die Sex Pistols gespielt hat. Auch die Klitschko-Brüder erschieße ich nicht, kann ich nicht, die mag ich. Dafür bekommt Mutter Beimer von der Lindenstraße die doppelte Ladung zwischen die Augen, sicherheitshalber. Die geht mir dermaßen auf den Zeiger, die ist fällig! Meine Art, jemanden aus einer Serie herauszuschreiben – sehr innovativ, wie ich finde.

    Schade, dass Axel Springer himself nicht anwesend sein kann! Dem würde ich gerne persönlich was ins Gästebuch schreiben. Aber toter als tot geht nun mal nicht.

    Nächste Runde: Rucksack abschnallen und Präsente auspacken! Im Supermarkt gibt’s bereits Oster-Süßkram – und von mir Eierhandgranaten! Zwei Dutzend von den Dingern, voll auf die Zwölf! JAAAAAAA! RRRRUUUMMMSSS! Wer braucht da Silvester?

    Ich ziehe die Axt aus dem Rucksack, um allem, was noch zuckt, wimmert und atmet, den Rest zu geben. Hacken für den Frieden in meinem Herzen, harte Arbeit, wahrer Lohn!

    Zum Abschluss der schweißtreibenden Großwildjagd ein gellender Tarzanschrei – danach ist Ruhe im Puff, der Saal ein planes Planquadrat. »Mit Gewalt geht alles« von den Heiligen Scheinen hätte auch gut gepasst.

    Wozu Osama Bin Laden, Al-Kaida und die Taliban – es gibt ja KARL NAGEL, den LETZTEN PUNK!

    Licht an: Statt zu schießen, drückte ich mir eine Handvoll Gummibärchen in den Mund und beließ es dabei. Ich kaute, schmatzte, schluckte und wurde nicht zum Massenmörder, obwohl ich gerne mitangesehen hätte, wie die Welt aus Lügenpresse, Stars und TV-Moderatoren zusammenfällt. So wie früher, in Straßenpunk-Zeiten, als Chaos und Anarchie meine besten Freunde waren.

    Schon damals hatte ich eine eigenwillige Vorstellung von Spaß. Der Tumult wartete immer nur einen Steinwurf entfernt – es reichte, mit einem Dutzend Kamikaze-Kandidaten durch eine x-beliebige Fußgängerzone zu laufen. Pöbel und Gesocks gegen den Normalzustand: Spätestens nach einer Viertelstunde stand ich grinsend im Bombenhagel und das Chaos trieb frisches Adrenalin durch die Adern.

    Irgendjemand fand sich immer, der uns sein »Euch müsste man vergasen!« nachrief; wenn wir nicht asozial genug aussahen, untermauerte eben der Mutigste von uns (der meist der Besoffenste war!) mit einem Tritt gegen einen Mülleimer unsere Glaubwürdigkeit.

    Nun, zwanzig Jahre später, erschien mir dieser fast vergessene Tanz auf dem Vulkan so unwirklich wie Szenen aus Mad Max oder Die Klapperschlange, aber im Gegensatz zu Snake Plissken hatte ich einen Amoklauf im Alleingang nicht im Repertoire. Ich zeigte lediglich milde lächelnd die Zähne, statt sie als ausgewiesener Splatterexperte ins Fleisch prominenter Leichen zu schlagen oder fotogen mit herausquellenden Gedärmen zu spielen. Der Ego-Shooter tobte sich ausschließlich im Kopf aus und verzichtete auf das Blutbad meiner Träume.

    Dumm gelaufen, klasse Schlagzeile verpasst: NIE WIEDER ›DEUTSCHLAND SUCHT DEN SUPERSTAR‹ – DIETER BOHLEN VON KANNIBALEN GEFRESSEN! Ich wäre unsterblich geworden, zum Helden unzähliger Punk-Songs und Namensgeber von Bands wie Nagel Youth oder Killer Karls. Verehrt von Millionen Fans weltweit – Je suis Karlie!

    Eine einmalige Chance hatte ich da vertan! Just als mir Helmut Kohls Mantel der Geschichte zugeworfen wurde, fehlte ein Zehn-Punkte-Plan. Stattdessen landete ein Löffel Dünnes in der Hose, weil ich Angst um den leckeren Mammon bekam. Und vorm Knast.

    Nicht mal ein Amokläufchen wagte ich, eines mit Ketchup, faulen Eiern oder Juckpulver. Das wäre auf jeden Fall drin gewesen und hätte eh besser zu mir gepasst; jenseits ausufernder Splatterphantasien wurde ich nie vom Verlangen getrieben, im echten Leben Menschen umzubringen.

    Trotzdem war ich weder fähig noch willens, diesen günstigen Moment für eine Programmänderung zu nutzen; wie alle anderen an jenem Abend funktionierte ich; phantasielos, zuverlässig und bar jeder Bedrohung für Vroni, Dieter und den Rest der Bande.

    Weil ich ahnte, versagt zu haben, verfolgten mich die Geschehnisse vom Februar 2004 in den Jahren darauf mehr als einmal bis in den Schlaf. Ich fürchtete, nie wieder eine vergleichbare Gelegenheit zu erhalten, den medialen Windmachern und Blendern ins Gesicht zu scheißen. Was konnte noch kommen? Würde ich von nun an dahindämmern wie ein stillgelegter Gaskessel? Dein Schwanz wird für immer schlaff bleiben – das plärrte Berger auch in dieser Nacht per Zaubertelefon in meinen Schlaf. Nur noch zum Pissen da.

    Ich reihte mich ein in die Armee der Untoten, als Teil der Generation, die in den 60ern aufwuchs, in den 70ern pubertierte und sich in den 80ern im Zentrum des Zeitgeistes wähnte. Die Generation der Blender, Selbstdarsteller und Schaumschläger, die jede Ordnung zertrümmern wollte, Eltern, Rentner und Politiker verhöhnte und selbst zu GROSSEM bestimmt schien. Nur um später in Medienindustrie, Wohnzimmer, Fußballkneipe zu versacken. Oder abzukratzen zwischen Astra Urtyp und mit Hundescheiße gestrecktem Heroin.

    Begründungen und Entschuldigungen, warum ich zu denen gehörte, die die welterschütternden Schlachtpläne der Sturm- und Drangzeit voll gegen die Wand gefahren hatten, hatte ich gleich dutzendweise auf Tasche: Machten es die anderen nicht ebenso? Wurden wir nicht alle reifer und vernünftiger? Ich dachte an Lena, die damals nicht mal ein Jahr alt war. Was konnte ein Einzelner ausrichten? Und überhaupt, die Miete musste bezahlt werden, die Brötchen gebacken, die ganz kleinen.

    Meine Entscheidung, die Füße stillzuhalten und mein Leben nicht auf dem Altar einbetonierter Prinzipien von einst zu opfern, lag in dieser Nacht fast 13 Jahre zurück. Die Ereignisse vom Februar 2004 holten mich ein letztes Mal ein, als Auftakt zu einem Albtraum.

    Ich verließ den Zeitschlund und fand mich in einem National-Express wieder. Schleppte meinen Koffer auf den Bahnsteig von Wuppertal-Oberbarmen und blickte mich um. Ich erwartete, für mein Versagen zu büßen.

    Vor mir ragte ein Betonbau in die Höhe und erleuchtete in dämonischem Glanz die Dunkelheit. KAUFLAND. Der Palast eines monströsen Kraken, der meine Flucht ins Mittelmaß mit einem brutal zupackenden Fangarm ein Ende bereitet hatte, um mich für immer in den Supermarkt zu verbannen.

    Ich wälzte mich im Schlaf, getrieben vom Drehwurm. Wie ein Ertrinkender strampelte und kämpfte ich ums Überleben und war nicht bereit, jede Hoffnung fahrenzulassen. Die Lage war aussichtslos, dennoch wehrte ich mich mit Händen und Füßen gegen das Monster, das mich mit seinem hypnotischen Gesang einzulullen suchte: »Komm herein … folge mir … wehr dich nicht … kauf ein bei mir!«, imitierte es die Schlange Kaa.

    Ich redete mir ein, es gäbe einen Ausweg: Du musst es nur wollen! Ich flehte das Schicksal an, mir noch eine Chance zu geben.

    Und dann werde ich verficktnochmal alles klarmachen!

    KAPITEL 2

    THE DAY BEFORE TOMORROW

    Donnerstag, 19.01.2017, 6:30 Uhr

    AUFWACHEN, befahl das iPhone und hämmerte »Das wahre Leben« von Cotzbrocken in meinen Traum; Punkrock ohne Gnade. Das perfekte Vorspiel eines Wochenendes, das alles verändern würde. 36 Stunden später klangen alle Glocken.

    Ich erinnere mich gut, wie das vielarmige Ungeheuer verblasste und ich im Dunkeln nach dem Handy fingerte – abgesehen davon begann der Tag wie jeder andere: Ein Knopfdruck, ein paar Klicks, Twitter geöffnet, das Gesicht zur Grimasse verkrampft, ohne Chance, die zerquetschten Ameisen auf dem Display in Buchstaben zu verwandeln. Auch an diesem Morgen musste die Künstliche Intelligenz des iPhones ran.

    »Hey Siri, ist die Welt noch da?«

    »Ich bin mir nicht sicher, ob ich das richtig verstanden habe.« Ihre Stimme gefiel mir, für ihre Antworten hätte ich sie am liebsten ins Arbeitslager geschickt.

    »Du willst mich bloß nicht verstehen«, versuchte ich sie zu provozieren.

    »Ok.«

    »Arschloch.«

    »Ich versuche nur, dir zu helfen, Karl.«

    »Du kannst mich mal.«

    »Wenn du meinst.«

    Ich hielt Siris an meinen Arsch, doch sie ließ keine Taten folgen. Ich gab auf und versuchte es mit den Augen, ganz altmodisch. Nach einer Weile gelang es mir, Worte und zuletzt Sätze zu entziffern; der Neustart der Sinne schien abgeschlossen.

    Innerhalb von drei Minuten hatte ich mir einen Überblick verschafft, und wie jeden Morgen wurde meine Hoffnung auf das Jüngste Gericht enttäuscht. Raumschiff Erde war noch da – wenn ich dem Internet Glauben schenkte – und folgte unbeirrt seinem Kurs durchs All. Spiegel Online und Konsorten verbreiteten routiniert die Durchhalteparolen des Imperiums, unterstützt durch Schlaftabletten und Textbausteine von Merkel, Putin, Erdogan und weiteren geschwätzigen Lautsprechern.

    Und morgen sollte Donald Trump als 45. Präsident der USA vereidigt werden. »Das ist das Ende der Welt, wie wir sie kennen«, hyperventilierte ein Schwätzer namens Flüstertüte in der Kommentarspalte der Welt. »Leere Versprechungen!«, murmelte ich. Darauf fiel ich nicht länger herein.

    Anfang der 80er hatte ich »Deutschland, Deutschland, alles ist vorbei« skandiert und Zeilen wie »Alles geht kaputt, alles geht in Schutt, und ich lach!« mitgesungen, der Untergang konnte mich nicht schrecken. Vielleicht zog er es deshalb vor, sich häppchenweise in mein Leben zu schleichen.

    Vor nicht einmal zehn Jahren war DAS ENDE DER WELT in erster Linie ein Steckenpferd von Science-Fiction-Autoren, religiösen Spinnern, Punks und Death-Metal-Musikern – nun schrien Wutbürger und Sparkassenangestellte die Apokalypse herbei, sie schien unvermeidlich. Daraus leitete ich den Anspruch ab, nicht länger vertröstet zu werden. Ich wollte keine schleppende Klimaerwärmung mit gemütlich schmelzenden Polkappen, sondern ein Feuerwerk: New York, vernichtet durch die Atombombe, die endgültige Seuche, entwischt aus einem vietnamesischen Hühnerstall oder geheimen Bio-Labor in Arizona. Der Bundestag gesprengt, egal von wem; Ideen dieser Qualität hatte ich zur Genüge.

    Seit Jahren wartete ich darauf, dass der 11. September 2001 zur unbedeutenden Episode verblasste. Wischt die Scheiße ein für alle Mal vom Tisch, ihr Versager! Arnold Schwarzenegger hat’s vorgemacht – wo ist das Problem?

    Die Dinge selbst in die Hand zu nehmen, war eine abwegige Idee. Die Ereignisse am Berliner Gendarmenmarkt hatten bewiesen, dass ich für derartige Aufräumarbeiten nicht genügend Courage besaß. So sah es an diesem Morgen jedenfalls aus, weshalb ich ein reines Gewissen hatte. Es war nicht meine Schuld, wenn der Affenzirkus in die Luft flog.

    Meine einzige Chance, das nächste Level zu erreichen, schien ein harter Reset zu sein. Auf dass die Spielkarten neu gemischt wurden und sich die mich umgebenden Gefängnismauern von einer Sekunde zur anderen in Luft auflösten – sich als sadistisches Trugbild entpuppten!

    Dass ich gefangengehalten wurde, davon war ich überzeugt, auch wenn ich mir über die Natur meiner Unfreiheit bislang nicht im Klaren war. Ich befürchtete aber, dass ich für die Irrwege meines Lebens büßen sollte. Die Länge der Strafe kannte ich nicht, aber wenn ich nicht die Kurve bekam, sah es nach lebenslänglich aus.

    Eine Situation, in der ich nicht das erste Mal steckte. Mit zwanzig hatte ich tagelang in meiner 25-Quadratmeter-Wohnung in Wuppertal-Oberbarmen auf dem Bett gelegen, an die Decke geglotzt und auf Erlösung gewartet. Bis ich die Realität zertrümmerte und meine eigene aus Nieten und Leder zusammenklöppelte. Den Job wollte mir ja niemand abnehmen.

    Nun war ich 56, lebte mit unzähligen Schundheften und einem Untermieter auf 75 Quadratmetern in Hamburg-Bahrenfeld und hatte mein Pulver verschossen. Der Trick von ’81 würde 2017 nicht funktionieren – dafür war ich zu alt: ein in die Jahre gekommener Joe Dalton, in der Zelle tobend, Eisenkugel am Bein, doch ohne William, Jack und Averell chancenlos, auch nur einen Bonbonladen auszurauben. Ohne meine Brüder fehlte mir jede Idee, was ich in der Welt da draußen anstellen sollte, also verbrachte ich die meiste Zeit allein in der Bude. Die nicht nur ein Knast war, sondern auch ein Bunker, mein letztes Asyl. Was mich nicht davon abhielt, tagtäglich Explosionen und einstürzende Mauern zu ersehnen. Ich wollte, dass es knallte.

    Damit diese Träume wahr wurden, musste ich den Arsch in Bewegung setzen. Jetzt!

    Wettercheck, 4 Grad plus, in den Mails nichts als Spam. Ich stieg vom Hochbett und blickte aus dem Fenster. Mein iPhone log nicht: Alles noch da, die Autos vorm Haus standen in Reih und Glied, die Bäume ohnehin. Eine S-Bahn fuhr quietschend in den Bahnhof Diebsteich, um die besinnungslosen Massen durch die Dunkelheit zur Arbeit zu bringen, aus einem Lautsprecher verkündete eine glucksende Roboterstimme die Anweisungen der Ordnung.

    Das waren Momente, in denen ich mir einen Kasten Bier herbeiwünschte. Oder einen anderen Trick, dem Tag nicht in die verlogene Visage blicken zu müssen. Aber derartige Zirkusnummern hatte ich nie erlernt; außerdem brauchte ich jederzeit einen klaren Kopf für die Flucht aus Alcatraz.

    Nachdem ich den Fernseher eingeschaltet hatte und das ZDF-Morgenmagazin den Bunker mit der Soundkulisse einer Wohngemeinschaft zu füllen begann, stieg ich in die Pantoffeln und schlurfte ins Büro; eine übersichtliche Aufgabe, weil nur ein Zimmer weiter gelegen. Dort startete ich den Computer. Während der Laptop hochfuhr, versank der Morgenschiss im Klo, begleitet von murmelnden Stimmen, die vom anderen Ende der Wohnung zu mir herüberdrangen.

    Auf die Waage, 99 Kilo, noch mal davongekommen! Dann im Stechschritt zurück ins Wohnzimmer, wo ich auf ein Gesicht prallte, das mich auf 55 Zoll angaffte. »Die USA sind ein gespaltenes Land«, verkündete die Moderatorin mit besorgter Miene, und vermutlich erwartete sie, dass ich genauso beunruhigt zurückblickte. »Wie sehr wird Trump Amerika verändern?«

    Keine Ahnung, weshalb fragte sie das mich?

    Ich nahm die Vortagsklamotten vom Boden und schlüpfte hinein. Dann ging es endgültig ins Büro, wo mich mein kampfbereites MacBook samt angeschlossenem Monitor anstrahlte, der digitale Altar für eine neue Runde durchs Web. Die ganze Chose von vorn: volles Brett auf 33 Zoll statt Handy-Mäusekino, die Fürze des Systems in der ersten Reihe schnuppern!

    SO LITTEN DIE 13 GESCHWISTER IM HORRORHAUS ++ KINDER WURDEN ANGEKETTET, GESCHLAGEN UND STRANGULIERT ++ NUR EINE MAHLZEIT AM TAG ++ EINMAL IM JAHR DURFTEN SIE DUSCHEN – mit diesem prickelnden Grusel-Krimi befriedigte BILD meine Lust an einer teuflischen Geschichte, was fürn geiler Scheiß!

    Dann fiel mir UNTENRUM RASIEREN LOHNT SICH IM DSCHUNGEL NICHT ins Auge, dazu drei TV-Fressen – eindeutig Dschungelcamp, schnarch.

    DEUTSCHER ISIS-TERRORIST DESO DOGG IST TOT lag eher auf meiner Wellenlinie. Metzelvideos sprudelten aus der Erinnerung, wie unter Zwang wechselte ich die Front. Ab zu YouTube, mich mit Blutfontänen aus Syrien besudeln lassen. Zerfetzte Kinderleichen frei Haus, Horrorfilme fern von Hollywood.

    Bereits vorm Frühstück hing mein Schädel schwer wie eine Bowlingkugel über die Reling des Schreibtischs und kotzte Fischfutter in den Ozean. Keine Chance, den digitalen Fraß zu verdauen.

    Ich trank zwei Gläser Wasser und drückte ein paar Käsebrote rein. Kohlenhydrate, Proteine und Fett braucht das Volk. Duschen kann ich morgen. Achselschweiß ist ok, Menschen stinken – mein Bunker, meine Regeln! Pass bloß auf, Berger – wie oft habe ich dir schon gesagt: Was Punk ist, bestimme ich!

    Sogleich ärgerte ich mich, dass ich wieder einen Gedanken an Berger verschwendet hatte. Lieber wäre es mir gewesen, jede Erinnerung an den widerlichsten Quälgeist des Universums hätte sich in Wohlgefallen aufgelöst. Ich musste ihn komplett ignorieren, um meinen Schlachtplan für den Ausbruch zu schmieden. Heute!

    Ich posierte vorm Spiegel, stemmte die Hände in die Hüften und zog den Bauch ein. Zeit für meine Lieblingsrolle. Es galt, Erstaunliches zu vollbringen; ohne Ziel, ohne Sinn, Hauptsache, es reichte für die Geschichtsschreibung.

    »Nicht lange fackeln!«, rief ich mir zu. »Rücken gerade, Arschbacken zusammen, den Belagerungsring der feindlichen Horden sprengen – der Kampf geht weiter! Bis zur letzten Patrone! Parole für heute, wie immer: RAUS AUS DEM BUNKER, RAN AN DIE FRONT!«

    Genau: Volles Vertrauen in die ultimative Wunderwaffe, die ein Ingenieur in meinem Hinterkopf konstruierte, die den Krieg entschied!

    »Eva, ab sofort wird zurückgeschossen!«, fuhr ich fort und versuchte, meiner Stimme einen scharfen und entschiedenen Klang zu verleihen. Das Volksgemurmel aus dem Wohnzimmer deutete ich als Zustimmung.

    Dabei hatte ich gar keine Eva. Ich war ein Schwätzer, ein Nerd und Spinner, den niemand ernstnahm, wenn er seine Entdeckungen der Welt offenbarte. Stattdessen tratschten sie hinter vorgehaltener Hand über mich. Über den alten Punk, der seine Bude mit Comics, Perry-Rhodan-Heften, Büchern, Platten und Punk-Devotionalien vollgemüllt hatte und die angeblich Verschwörungstheoretikern als Treffpunkt diente. Was an sich keine schlechte Idee war: mein Führerhauptquartier im Kampf um Das Wahre Leben!

    Und jetzt? Gedanken ordnen, aaaaatmen, eins, zwei, drei, vier. He … was soll das? Meine Maushand entwickelte ein Eigenleben, klick-klick-klick! Spiegel Online. Welt. BILD. Zeit. Süddeutsche. Sie übernahmen die Kontrolle! Die Hand war scharf auf Erschütterungen aller Art und wollte nichts verpassen. Irgendetwas musste passiert sein!

    Aber nix los im Internet. Seit heute früh ein dutzend Mal die gleichen Nachrichten verschlungen, mit unterschiedlicher Würze und doch überall derselbe fade Geschmack. Neues? Fehlanzeige! Entweder die Selbstmordattentäter, Despoten und Triebtäter schliefen noch – oder die Journalisten!

    Welt, dreh dich schneller!, tobte es in mir. Lass krachen, Amigo! Warum gab es den Hähnchenbrater »Los Pollos Hermanos« in Breaking Bad, aber nicht hier im Block? Ich forderte Pogo mit der Drogenmafia! Oder eine Nazi-Kneipe vor der Tür, mit Aufmärschen dafür und dagegen! Chaostage wären auch ok gewesen, solange niemand erwartete, dass ich deshalb den Bunker verließ. Ein bequemer Fensterplatz reichte mir.

    Wenigstens der DHL-Bote könnte klingeln! Ich war nicht anspruchsvoll.

    Ab ins Wohnzimmer zur Glotze, aber auch dort passierte nichts. Keine EILMELDUNG, sondern gespielte Aufregung um die Frage WAS WUSSTE WINTERKORN? Interessierte das wen? Mich jedenfalls nicht.

    Ich verfolgte eine Weile das Treiben der Anzugträger und Machtmenschen. Betrachtete auf dem Flachbildfernseher Wesen, für deren Existenz ich meine Hand nicht ins Feuer gelegt hätte. Und niemand war da, mit dem ich den Ernst der Lage beraten konnte; mein Mitbewohner war seit sieben aus dem Haus und ging längst irgendwo am Flughafen seiner Arbeit nach.

    Ich riss mich zusammen und kehrte ins Büro zurück. Schluss mit den Ausflüchten und Ablenkungen, ich musste mich fokussieren, es stand Essentielles auf dem Zettel: AUSBRUCH hieß der erste und wichtigste Punkt auf der Tagesordnung! Der SCHLACHTPLAN! Tunnel buddeln, Wärter austricksen, Klamotten wechseln! Im Vergleich dazu war alles andere nebensächlich, weshalb ich meinen Job auf den Nachmittag verschoben hatte.

    Ohne Ziel würde der Ausbruch scheitern, so viel war klar. Ich musste etwas wollen. Wollen. Trommelte mit den Fingern eine Weile auf dem Schreibtisch herum, begann an den Fingernägeln herumzunagen. Weil ich genau jetzt eine Idee brauchte, mit der ich das Spiel herumreißen konnte! Jeder Vorschlag war willkommen, jeder hingeworfene Knochen.

    So sehr ich mir auch die Birne zermarterte, ich hatte nicht den Hauch einer Idee. Nur abgegessene Misserfolgsrezepte. Ich war längst ein Experte in Ausbrüchen, die garantiert fehlschlugen.

    Ok, dann eben mit der Brechstange: 30 Sekunden später stand ich nach einen erneuten Sprint ins Wohnzimmer wieder vor dem Schreibtisch, Stahlhelm aufgesetzt, mit erhobener Axt. Bereit zuzuschlagen. Der Helm stammte aus Beständen der Roten Armee, bei eBay abgegriffen. Das Beil besaß ich schon seit über 30 Jahren, ich hatte ihm den Namen Anwalt gegeben.

    Anwalt hatte einen festen Platz an meinem Hochbett, wo er griffbereit auf seinen Einsatz wartete. Der Gedanke, in schwierigen Situationen mit dem Anwalt drohen zu können, hatte mir gefallen.

    Weil sich die Ideenlosigkeit nicht per Anwalt in die Flucht schlagen ließ und mich die im Wohnzimmer ausgetragene Handball-WM nicht interessierte, legte ich Axt und Russenhelm beiseite und wandte mich wieder dem Spektakel zu, das im Internet bereitstand: Würde mich die Muse bei Spiegel Online küssen? Mit Fassbomben? Giftgas? Erdogan? Donald Trump? NEIN! AUS! Konzentration! Durchhalten, Karl! LOS, BLITZ, SCHLAG EIN! DIE UHR LÄUFT!

    Ohne Vorwarnung blies mir der faulige Atem des Internets aus einer anderen Richtung ins Gesicht. Eine unbezwingbare Kraft trieb mich zu Facebook. Widerstand war zwecklos. MUSS-DA-HIN!

    Ganze Hundertschaften ehemaliger Kumpels und Weggefährten wohnten dort, so auch ich. Weil ich nicht einsam im Bunker verrotten wollte. Punkrock hatte bei Facebook ein Reservat gefunden, und Zuckerberg diktierte den rebellischen Indianern von einst die Spielregeln. Kein Platz für Ausbrüche. Eher für Einbrüche. Meiner Konzentration.

    Hör auf zu lachen, Berger! Ich hatte nicht vergessen, worüber das blitzgescheite Scheusal bereits vor Jahren doziert hatte: »Ohne Facebook wirst du zum sozialen Paria! Die Leute tauschen sich da aus, alle Freunde und Bekannte sind mit an Bord, keiner will von gestern sein; wer bei Facebook nicht mitmacht, sitzt bald einsam als Waldschrat in einer Holzhütte.«

    Ok, gewonnen! Hände an die Hosennaht und prüfen, was sich in den letzten Stunden an der Front getan hatte: Dreizehn neue Kommentare, meine Follower hofften, dass Karl Nagel öffentlich die Hose runterließ und auf die Tastatur onanierte, als Beweis, dass er nicht gestorben war.

    Unangenehmer waren die Giftspritzer, die sich Anerkennung verdienen wollten, indem sie mir vor die Tür schissen. Besonders dann, wenn ich bei Facebook über Facebook abkotzte – den Guten Diktator. Damit machte man sich keine Freunde.

    Ich löschte ein Arschloch. »Deinen Dreck will hier niemand lesen, alter Mann! Leg’ dich in die Kiste!«, hatte da gestanden. »Als Sänger der Heiligen Scheine warst du ein geiler Typ. Aber jetzt HALT EINFACH DIE FRESSE und jammere uns nicht die Ohren voll!«

    Das war der Ton, der in Zeiten wie diesen vorherrschte. Früher gab es die SS, in der digitalen Gegenwart räumten Hater hinter der Front auf; die Freude am Tritt in die Eingeweide wollte nicht aussterben.

    Gut, hielt ich eben die Fresse. Lieber widmete ich mich eh den Profilen der Weiber, die ihre Spuren auf meiner Seite hinterlassen hatten. Facebook war das Tinder für Arme, ohne die Möglichkeit, nach links oder rechts zu wischen. Nur Wichsen ging.

    Aber nicht an diesem Tag. Da funkte nichts. Keine Erektion aus der gähnenden Leere, und erst recht keine Gesichter, die es mit meinen Phantasien aufnehmen konnten. Noch nicht mal mit meiner Ex.

    Ich trank einen Schluck Wasser aus der Flasche.

    »Hey Siri, was habe ich mit Barbara falsch gemacht?«

    »Ich finde dich cool.«

    Dass Siri mein Elend nutzte, mich vollzuschleimen, gab mir den Rest. In diesem Moment bedauerte ich zum ersten Mal aufrichtig, das Lügengebäude nicht in die Luft gejagt zu haben. Damals, bei der Goldenen Kamera DAS wäre ein Ausbruch gewesen! Dann säße ich jetzt zwar ebenfalls hinter Gittern, aber immerhin echten! Die Kuh wäre vom Eis, mein Statement klar. Vorbei das lächerliche Anrennen gegen unsichtbare Mauern. Kein Internet mehr, kein Telefon, kein Siri, nur herrliche Ruhe.

    »Du feige Sau!«, brüllte mir Biff Tannen aus Zukunft oder Vergangenheit ins Hirn – noch so ein Arschloch!.

    Das leere Wasserglas neben dem Monitor verwandelte sich unvermittelt in eine Cruise Missile für HB-Männchen und zersplitterte an der Wand. »NIEMAND NENNT MICH FEIGE SAU!«, kreischte ich und tänzelte wie ein Wrestler auf Adrenalinzäpfchen durchs Büro. Insgeheim hoffte ich, dass Doc Brown endlich auftauchte und mich mit dem Delorian aus dem Treibsand zog.

    Als mir bewusst wurde, dass ich mich zum Affen machte, atmete ich tief durch und setzte mich wieder.

    Lass dich nicht provozieren!, dachte ich. Sei lieber froh, dass die Trennung von Barbara ohne größere Kriegshandlungen über die Bühne gegangen ist! Dank einer Wagenladung konstruktiver Lösungen und gegenseitigem Verständnis, ganz ohne Amoklauf. Das war einwandfrei die bessere Alternative, nicht wahr? NICHT WAHR?

    Die Geschichte mit Barbara hatte ich an die Wand gefahren, weil ich ein unverbesserlicher Sonderling war, daran gab es trotz Siris Stiefellecken nichts zu rütteln. Ich war nicht für das Konstrukt »Ehe« geschaffen.

    Auch nach der Trennung wohnten wir weiter im gleichen Mietshaus – Barbara und Lena in der vierten Etage, ich in der ersten. Ich zog nicht weg, weil ich unsere Tochter täglich sehen wollte; außerdem hatten die Mieten in Hamburg mittlerweile schwindelerregende Höhen erreicht, was jeden Umzug innerhalb der Stadt zum Scheitern verurteilte. Ich hatte mich damit abgefunden, in diesem Haus alt zu werden – eine Vorstellung, die mir erträglich schien, weil die Nachbarn ein umgängliches Biotop bildeten und mit Barbara friedlich auszukommen war.

    Die Trennung war mir nicht leichtgefallen, meine Flucht hatte ein paar unschöne Spuren hinterlassen. »Manche Dinge muss ein Mann mit sich ausmachen«, erklärte ich, wenn jemand mehr wissen wollte; das hörte sich erwachsen an. Tja.

    Die Scheidung im Juli vergangenen Jahres war das I-Tüpfelchen, ein kurzer Prozess: 13 Minuten, zack, bumm, aus!

    Hinterher in die Bäckerei, zur Nachbesprechung.

    »Alles bleibt wie gehabt«, hatte ich gesagt. »Ich schleppe deine Einkäufe hoch, Lena bekommt mein altes iPhone. Uns trennen nur drei Stockwerke, du kannst dich weiterhin auf mich verlassen.«

    Mein neues Leben roch nach Freiheit. Ich fand mit David einen Mitbewohner, und zusammen lebten wir in einer »Jungsbude«, wie Barbara treffend bemerkt hatte.

    »Sollte mal ’ne Putzfrau durchwirbeln, Karl«, sagte sie. »Besonders übers Klo.«

    »Kannst gerne bei uns saubermachen«, antwortete ich, wir lachten.

    So war das mit Barbara und mir. Es herrschte kein Krieg, wir pflegten einen entspannten Umgang, der Blick nach vorn war frei. Wobei ich keinen blassen Schimmer hatte, was es da zu sehen geben könnte.

    Die Zeiten, in denen ich mich als Superpunk Nagel im Zentrum der Apokalypse gesuhlt hatte und durch bloße Anwesenheit Ordnung in Chaos verwandelte, waren vorbei, dafür gab es zahllose Belege. Jetzt herrschte das Chaos nur noch im Kopf, in meinem Leben passierte gar nichts. Nichts. Überhaupt nichts.

    Wie eine verzweifelte Kakerlake tanzte ich auf der heißen Herdplatte. Die Tage und Nächte schienen nach einem immergleichen, unveränderlichen Schema abzulaufen, meine Ausbruchspläne kamen keinen Millimeter voran. Dennoch standen sie jeden Morgen ganz oben auf der Liste. Niemals aufgeben!

    Manchmal dachte ich, ich sei in einer Zeitschleife à

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