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Die Reise zur abgewandten Seite der Erde
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eBook285 Seiten4 Stunden

Die Reise zur abgewandten Seite der Erde

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Über dieses E-Book

Das Buch reflektiert ein während einer gemeinsam unternommenen Schiffsreise geführtes, kontroverses Gespräch zwischen Vater und Sohn, bei dem die Betrachtung des real Schönen der Natur mit der Sicht des potentiell Bösen des Menschen kontrastiert. Der lebhafte gedankliche Austausch ist eingebettet in eine abwechslungsreiche und informative Beschreibung der besuchten, in der unermesslichen Weite des Ozeans gelegenen exotischen Orte.
SpracheDeutsch
HerausgeberMünster Verlag
Erscheinungsdatum2. Nov. 2018
ISBN9783907146132
Die Reise zur abgewandten Seite der Erde

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    Buchvorschau

    Die Reise zur abgewandten Seite der Erde - Jürg Knessl

    Autor

    Kapitel 1

    Die reine Grösse des Schiffes war einfach überwältigend. Staunend stand Leo am Pier und schaute die sieben aufgetürmten Decks hoch. «Schon sehr gross», meinte sein Sohn. Till war jetzt bald dreiundzwanzig. Gelegenheit genug zu reden hatten sie nie gehabt. Der Vater dachte, würden sie einmal eine längere Zeit zusammen verbringen, könnte sich womöglich Einiges ändern. Es war Anfang August, die Sonne schien. Gestern waren sie in Los Angeles angekommen. Der Economy Flug war nicht gerade das Bequemste, zumal sie beide hochgewachsen waren, die Sitze schmal und der Abstand zur vorderen Reihe eine Strafe. Leo war bewusst, dass die Fluglinien stets bestrebt waren, die Anzahl der Sitze soweit möglich hochzuschrauben, aber ein Upgrade wäre für ihn angesichts der bereits teuren Schiffsreise kaum tragbar gewesen. Noch in frischer Erinnerung waren ihm die Worte eines referierenden Kaders einer grösseren Fluggesellschaft, mit denen er die für die nächste Zukunft geplante Differenzierung der zu befördernden Insassen nach Kategorien schilderte. Künftig würde eine zuvorkommende und proaktive Bedienung nur noch den Passagieren der ersten Klasse zukommen, denjenigen der Business Class erst dann, wenn sie es selbst ausdrücklich verlangen und den Reisenden der sogenannten Holzklasse bloss, wenn es aus der Sicht des Bordpersonals nötig ist. Leo fand solche Überlegungen albern. Der Vortragende machte ihn aber darauf aufmerksam, dass in den ersten Jahrzehnen der Luftfahrt selbstredend jedes Ticket ein solches erster Klasse war, da es sonst nichts anderes gegeben hatte. Faszinierend während des ganzen eher anstrengenden Hinflugs war die Sicht auf die unendlichen Weiten des nördlichen Kanadas gewesen, auf die riesigen Buchten, welche den Eindruck von Meeren machten und auf Landmassen, die den Anschein von Kontinenten erweckten.

    Es waren fast schon zwanzig Jahre her, als Leo zum letzten Mal in Los Angeles gewesen war, der ‹Stadt der Engel›. Die neuen Kontrollen am Flughafen, so notwendig sie offenbar waren, befremdeten und ärgerten ihn. Er kam sich vor wie ein Schaf, das zum Scheren antraben und sich dabei durch endlose enge Gatter hindurchzwängen muss, um sich am Ziel freiwillig einer eindeutig entwürdigenden Prozedur zu unterziehen. Fingerabdrücke wurden nun nicht mehr nur an einem Finger abgenommen, nicht einmal das hatte Leo je erleben müssen, sondern an allen Fingern beider Hände, die an Science fiction gemahnende fotographische Dokumentation der Iris kam noch hinzu. Man war ein potentiell Verdächtiger, so war das. Ein verdächtiger potentieller Kapitalverbrecher. Leo dachte, da gehe ich nie mehr hin, zumindest solange dies andauert. Sein Sohn nahm es eher sportlich, heute ist es so, normal halt. In der Stadt angekommen nahmen sie, um die Zeit bis zum Einschiffen zu überbrücken, an einer Rundfahrt teil, sahen Frank Gehrys Walt Disney Concert Hall sowie den über 300 Meter hohen U.S. Bank Tower und konnten, um etwas Bewegung zu haben, am Hollywood Boulevard mit dem Chinese Theater und am Rodeo Drive spazieren.

    Nach dem Einchecken am Schiff, das ebenfalls unter erheblichen Sicherheitsvorkehrungen, aber schnell vonstatten ging und nachdem sie ihre Kabine bezogen hatten, begannen sie, das Schiff zu erkunden. Weder Leo noch sein Sohn hatten je so etwas gesehen. Natürlich gab es noch deutlich grössere Schiffe. Dieses war in den Proportionen optisch erfreulich ausgewogen, was heute nicht selbstverständlich ist, gut 240 Meter lang und bot bei 900 Personen Besatzung Platz für etwa 2000 Passagiere. Wirksame Seitenstabilisatoren sorgten für einen möglichst ruhigen Lauf. Die Flure waren in Beige gehalten, ausgelegt mit bunten blau-grünen, aber dezenten Teppichen, die Wände des doppelläufigen Treppenhauses und die Handläufe aus dunklem Holz, das mit verschiedenen Cafés bestückte zentrale Treppenhaus hell, ausgewogen mit Palmen geschmückt und von unzähligen Lichtern erleuchtet. Dann sahen sie die Reling mit der Liegewiese und dem Pool für das Personal, die rund um das Schiff gezogene, durchgehend holzbeplankte, mit vielen blau gepolsterten Liegestühlen versehene Bordpromenade samt den über dem Deck aufgehängten Tender- und Rettungsboten sowie am Heck auf zwei Stockwerke verteilt weitere Möglichkeiten, sich auszuruhen. Ein zusätzlicher Weg rundherum lag am Oberdeck, wo sich auch ein nicht allzu grosser Swimmingpool befand, zudem ein rot gepolstertes Theater in Art déco, mehrere Restaurants, verschiedene Bars, eine solche mit viel Messing, roten Plüschsesseln und einem schönen hölzernen Steuerrad, sowie eine klassische englische Bibliothek in Kirschbaumholz. Es fand sich auch ein gut ausgerüsteter Fitnessraum. Ausser dem Letzteren entsprach im Stil alles mehr oder weniger den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts. Bei schönem Wetter betraten sie erneut das Oberdeck des vor fünfzehn Jahren in einer italienischen Werft gebauten Schiffes. Vom Bug konnte man über die Kaimauern hinweg noch einige Grünflächen, einzelne Wohnblöcke und eine Brücke mit sich kreuzenden Autobahnen sehen. Ganz weit am Horizont stieg Rauch aus einem Kamin einer grösseren Raffinerie.

    Das weisse Schiff setzte sich langsam, wie wenn ein träges Tier erwacht, schwer und bedächtig manövrierend in Bewegung. Bald fuhren sie durch diesen beeindruckend grossen Hafen an riesigen, grün gestrichenen Hafenkränen vorbei, später dann an einer grasgrünen Metallhängebrücke, bis sie sich auf einmal auf offener See befanden.

    Die Kabine auf dem 11. Deck war nicht übermässig geräumig, jedoch hell und ansprechend eingerichtet. Vom kleinen Balkon mit zwei sich gegenüber stehenden Sesseln und einem runden Beistelltisch bot sich ein weiter Blick über das sonnenbeschienene blaue Meer. Reklameoptik. Als Leo, sich etwas hinauslehnend, in der Fahrrichtung nach vorne blickte, fielen ihm die in regelmässigen Abständen seitlich an der Aussenwand angebrachten schwarzen Überwachungskameras auf. Wie er später in Erfahrung bringen konnte, lag deren primärer Zweck in der möglichst raschen Erfassung der sich gelegentlich in die Fluten hinabstürzenden Lebensmüden, was jedoch eher statistische als lebensrettende Gründe hatte, denn bei einer Geschwindigkeit von bis zu 22,4 Knoten, also 41,5 km/h und der enormen Trägheit des Schiffes wäre es schlicht unmöglich, rechtzeitig zu stoppen. Ein offenbar weitgehend tabuisierter Tatbestand auf Kreuzfahrten. Bei einer Gelegenheit wurde Leo erzählt, unter den Schiffbesatzungen wäre es eine so bekannte wie traurige Tatsache, dass wiederholt Menschen verschwinden, wobei stets zu hoffen ist, dass dies in der überwiegenden Anzahl der Fälle, Unfälle nicht eingerechnet, einem freiwilligen Entschluss der Betroffenen entspricht. Wie sie rasch feststellen konnten, befanden sich auf ihrem Schiff zu einem ganz überwiegenden Teil Australier, deutsch sprach kaum jemand, was die ganze Atmosphäre kulturell weitgehend homogenisierte.

    Zu dieser Zeit war Till ein geforderter Student der Ingenieurswissenschaften, ein hochaufgeschossener, schlanker, trainierter junger Mann mit dunklem Haar und blauen Augen, überragend intelligent und mit einem zum Sarkasmus neigenden Humor ausgestattet, was nicht überall Anklang fand. Sein gutes Aussehen war vielen jungen Frauen nicht entgangen, sodass er diesbezüglich längere Zeit zu einem eher betont selbstsicheren Auftreten neigte. Dies legte sich dann aber weitgehend wieder. Den scharfen Verstand, die Disziplin und die Emotionalität hat er überwiegend von der Mutter geerbt, den sarkastischen Witz und die Freude am Debattieren vom Vater. Die vorhandene, teilweise frappante Ähnlichkeit mit seinem Erzeuger war ihm Anlass genug, zu den Aussagen seines Vaters jeweils umgehend in eine kritische, scharf beobachtende und hart polemisierende Distanz zu gehen, was wiederum seiner eigenen Denkfähigkeit nur förderlich war. Erschwerend wirkte sich aus, dass Leos Ansichten nicht einfach einem standardisierten Denkschema zugeordnet werden konnten, sie oszillierten vielmehr je nach Fragestellung zwischen links und rechts, verständnisvoll und rigoros, konservativ und neuerungsfreudig, zudem auch zwischen konform und rebellisch. Für Till gestaltete sich dadurch das Auffinden einer festen Stelle, aus der heraus eine nachhaltige Fundamentalopposition gegen seinen Vater betrieben und dessen Position ausgehebelt werden könnte, entsprechend erschwert.

    Till versuchte, das zu lösen, indem er sich einerseits eine zum Teil weit rechts positionierte Haltung zulegte und gleichzeitig sowohl einem dezidiert realitätsbasierten Antiintellektualismus huldigte als auch eine betont gläubig christliche Sicht der Dinge vertrat. Leo war nämlich ein druckimprägnierter Intellektueller, weitgehend trendresistent, ständig sinnierend und assoziierend, schreibend und grübelnd. Und sollte bei ihm doch nicht alles von Grund auf selbst und genuin ausgebrütet worden sein, so hielten ihn zumindest diejenigen, welche ihn kannten, für einen solchen. Jetzt hatten die beiden die einmalige Gelegenheit, Dinge oder wenigstens Positionen zu klären. Ausserdem wollte Leo seine in vielen Jahren gesammelten Philosophiekenntnisse weitergeben, sei es auch nur in einer stark verkürzten Form. Vater und Sohn erwarteten 22 Tage auf See, eine Fahrt, welche sich mit insgesamt 14 500 km über 70 Breitengrade und 90 Längengrade erstreckte, davon 14 volle Tage ausschliesslich zu Wasser, ohne jeden Landkontakt. Zeit zuhauf, um sich aussprechen zu können.

    Die Weite des Meeres war beeindruckend. Die Sonnenuntergänge übertrafen alles, was es an kitschigen Postkarten zu haben gibt. Die fast einschüchternde Weite des Horizonts, zu Lande kaum je so ausgeprägt gegeben, war etwas, woran man sich nicht sattsehen konnte. Die langsam ins Meer fallende Sonne liess ihr blendend aufleuchtendes wärmendes Licht waagrecht auf die Bordpromenade fallen und verlieh allen Dingen und Menschen märchenhaft lange Schatten. Bald färbte sich das Meer stahlblau, bald wieder zunehmend dunkelgrau, in unerwarteten Kontrasten zu der immer noch hell glühenden Sonne, deren untere Hälfte, eingeklemmt zwischen der See und einer langgezogenen, im Gegenlicht fast schwärzlich dunkel imponierenden Wolke, wie flüssiges Gold glänzte.

    Als sie auf dem Heck anhielten, sahen sie fasziniert zu, wie das von den mächtigen Schiffsschrauben aufgewirbelte Meerwasser förmlich kochte, unaufhörlich zischte und dunkel dröhnend brodelte, das Wasser änderte dabei ständig die Farbe zwischen weiss, hellblau, türkis, ultramarin und fast schwarzblau. Manchmal begleiteten Kormorane das Schiff, drehten dann aber bald ab, um in der Weite des Himmels wieder unsichtbar zu werden. An einem Abend, eine unerwartete Abwechslung, lud der Kapitän die Gäste ein, um sie willkommen zu heissen, für das Dinner bekamen sie einen festen Platz zugewiesen. Für Stammgäste eine Formalität, aber angenehm für diejenigen, für die es neu war. Es gab Drinks und klassische Musik. In der späten Abenddämmerung war der Mond riesig, nie hatte Leo einen solchen Mond gesehen, man sah Details der Oberfläche, wie man es sonst nicht gewohnt war. Alles war schön.

    Als sie einmal am Deck sassen, kam Leo in den Sinn, Till auf eine frühere Begebenheit anzusprechen aus der Zeit, als sein Sohn noch zur Schule ging. Die Noten waren für einmal nicht so wie erhofft und nach diesen gefragt gab Till damals zur Antwort, er hätte das Zeugnis noch nicht erhalten, was nicht ganz, genauer gesagt gar nicht der Wahrheit entsprach. Als Leo damals, sichtlich enttäuscht, von sich gab, er fände es gar nicht gut, belogen zu werden, klärte ihn sein Sohn dahingehend auf, er, Leo, wäre nun aber wirklich von gestern oder eigentlich fast schon jenseits dessen, was man noch als realitätsbezogen bezeichnen könnte. Ob zu begrüssen oder zu bedauern, Leos idealistische Vorstellung dessen, was «Lüge» ist, so Till, gehörte nun einmal zu einer längst vergangenen Ideenwelt.

    «In der heutigen Zeit», hatte ihm Till damals gesagt, «musst du, wenn dir jemand eine Frage stellt, einfach eine dazu passende Antwort geben, eine, mir der sich dein Gegenüber zufrieden geben kann. Es muss natürlich glaubwürdig wirken. Wenn er nicht mehr weiter fragt, dann hast du es richtig gemacht. Da geht es nicht um richtig oder falsch. Es geht nur um eine glaubwürdige Art, es rüberzubringen. Alle tun es so.»

    Die Frage der Ehrlichkeit hätte sich somit, überlegte Leo, innerhalb einer Generation zu einer Frage eines technisch korrekten, situativ-kommunikativen Vorgehens gewandelt. Aus einer Idee, einer Forderung, aus einem Grundpfeiler des menschlichen Zusammenlebens wurde eine Fertigkeit, die sich jeder, die Bereitschaft und Fähigkeit dazu vorausgesetzt, aneignen konnte. Später musste Leo feststellen, dass die Mehrheit seiner Studenten, sie hatten ungefähr Tills Alter, insofern ähnlich dachte, als sie die Meinung vertraten, es gäbe durchaus gute Gründe, und diese wären nicht selten, in bestimmten Situationen zu lügen. Leo versuchte dann jeweils, darauf hinzuweisen, dass alle Anwesenden mit Sicherheit selbst höchst empört gewesen wären, hätte sie eine ihnen nahestehende Person in einer wichtigen Angelegenheit angelogen, seien es der Freund, die Freundin, die Eltern oder jede Person, mit der man ein Vertrauensverhältnis unterhielte. Ganz abgesehen davon, dass die postulierte Legitimität der situationsbezogenen Lüge diese auch gegenüber vertrauten Menschen zuliesse, ginge es doch nicht an, argumentierte Leo, dass man wie in einer archaischen Stammesgesellschaft die Menschen in zwei getrennte Spezies einteilte, wobei höchstens die Nahestehenden die Wahrheit verdienten, die anderen hingegen dürften problemlos angelogen werden. So wie bei den Hopi-Indianern, heute sagt man «native American», bei denen der Name des eigenen Stammes schlicht dem Wort für «Mensch» entspricht. Kein ‹Hopi›, kein Mensch. So war es auch bei den alten Griechen mit dem Begriff «Barbar». Der andere war zwar Mensch, er hatte Arme und Beine, war aber einer, der nicht sprechen konnte. Aber vielleicht kehren wir, dachte Leo, tatsächlich allmählich zu einem tribalistischen Bezugssystem zurück. Man ist Teil des Stammes oder Freiwild. Jener kanadische Medientheoretiker Marshall McLuhan meinte mit seiner Vorstellung der Welt als eines «globalen Dorfs» nämlich nicht, dass nun die allgemeine Verbrüderung ausbräche, sondern eher, dass dann jeder jedem noch besser an die Gurgel gehen könnte.

    «Ich möchte dich da jetzt fragen: Wie bringst du dann deinen Glauben, den du doch irgendwie hast, mit deiner Begründung der Lüge unter einen Hut?», wollte Leo wissen. Till dachte nach, wies dann auf die nicht zu vernachlässigende Tatsache hin, dass die Dinge eben die Dinge wären, auch er hatte früher mal in der Schule Robert Musil gelesen, und die Welt wäre wirklich so, wie sie nun mal ist.

    «Gut, ich erzähle dir, was Immanuel Kant, der deutsche Philosoph, dazu geschrieben hat», fuhr Leo fort, so schnell wollte er auch nicht klein beigeben, «er war der Überzeugung, dass lügen einfach nicht geht, nie und nimmer, unter keinen Umständen, aus ganz prinzipiellen Überlegungen nicht.»

    «Es gibt aber sicher Situationen, in denen die Lüge nicht nur erlaubt, sondern eigentlich zwingend geboten ist!», konterte Till.

    «Die da wären?»

    «Beispielsweise, um jemanden vor einem schlimmen Schaden zu bewahren oder zu beschützen.»

    «Und stell dir vor, eben, weil es so instruktiv ist und jeder mit dieser Antwort kommt, bringt Kant genau ein solches Beispiel: Ein Unschuldiger wird von einem Mörder verfolgt. Er rennt zu einem Haus, bittet um Hilfe, der Besitzer gewährt ihm Einlass und versteckt ihn. Bald steht der Mörder vor der Tür und verlangt vom Hausbesitzer Auskunft, wo sich der Fliehende befinde. Und hier ist Kant der Ansicht, man dürfe auch den Mörder nicht anlügen.»

    «Aber das ist ja völlig absurd», warf Till ein, «so ein Mist! Eine solche Haltung steht im völligen Widerspruch zu der auch von dir hochgelobten menschlichen Pflicht, das Leben zu schützen und zu helfen, umso mehr als es sich um eine uralte Aufgabe des Gastgebers handelt, denjenigen, den er aufgenommen hat, vor Schaden zu bewahren. Das findest du schon in der Bibel, du kannst es bei Noah nachlesen.»

    «Ja, klar, aber Kant war nicht dumm und hat sich auch etwas überlegt. Damals hatten Leute, die es sich leisten konnten, noch Zeit zu denken, einer Sache wirklich auf den Grund zu gehen. Das kann heute kaum mehr jemand. Und er wählte mit Bedacht dieses Beispiel, um darzustellen, worum es ihm geht und als wie grundlegend er es betrachtet. Kant wollte aufzeigen, dass die ganze Gesellschaft, jegliches zwischenmenschliche Zusammenleben, darauf basiert, dass man sich voll darauf verlassen kann, vom Gegenüber nicht getäuscht, betrogen und übervorteilt zu werden. Wie soll man denn noch Verträge eingehen, wie kann man sich auf etwas verlassen, wenn man nie weiss, ob der andere die Wahrheit sagt oder nicht?»

    «Sorry, aber dann verfährt Kant in diesem Beispiel, wenn man es genau anschaut, utilitaristisch. Lieber einen Menschen opfern als das Wohl des Ganzen zu schmälern.»

    «So gesehen hast du natürlich Recht. Kant wurde wegen seiner Position in dieser Frage bereits zu seinen Lebzeiten vielfach massiv angefeindet, ja, auch belächelt. Es gibt sogar einen manifesten Denkfehler in seiner Argumentation, auf den mich einmal eine junge Studentin aufmerksam gemacht hat. Und dieser gedankliche Schnitzer liegt eigentlich so auf der Hand, dass es fast einem Skandal gleichkommt, dass es nicht bereits in den letzten zweihundert Jahren erkannt und diskutiert worden ist. Mir selbst, peinlich genug, ist es auch nicht aufgefallen. Andererseits überrascht es nicht, dass es ein junger Mensch war, dem da ein Licht aufging. Alle wirklich bahnbrechenden Ideen kamen von Leuten unter fünfundzwanzig, oder zumindest unter dreissig.»

    «Fahr nur fort, ich kann mir schon denken, in welche Richtung es geht …»

    «Indem der Hausbesitzer den Verfolgten in sein Haus lässt, der Grund ist ja der erbetene Schutz vor dem Mörder, hat er ihm explizit oder implizit, verbal oder stillschweigend versprochen, ihn zu beschützen. Wenn er dann den Mörder wahrheitsgemäss informiert, dass sich der Flüchtende in seinem Haus befinde, hat er nicht nur seine Zusicherung nicht eingehalten, er hat sein gegebenes Versprechen gebrochen und dadurch, rückblickend betrachtet, den Schutzsuchenden schlicht und einfach angelogen. Also genau das gemacht, was man, seiner eigenen Theorie gemäss, nie tun sollte und wofür er, Kant, zumindest in diesem Beispiel, bereit gewesen wäre, ein Menschenleben zu opfern.»

    «Aber dann verstehe ich nicht», antwortete Till, «was diese unlogische und blöde Geschichte soll …»

    «Es ist einfach ein vielleicht nicht ganz zu Ende durchdachtes Beispiel, um die eigene Überzeugung darzulegen, dass Wahrhaftigkeit für das Zusammenleben der Menschen etwas ganz Grundlegendes ist.»

    Till holte tief Luft. «Seit es Menschen gibt, haben sie sich, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, nur gegenseitig betrogen und angelogen. Du zitierst ja so gerne Machiavelli. Was sagt er darüber, wie die Leute sind? ‹Undankbar, wankelmütig, verlogen, heuchlerisch, ängstlich und raffgierig.› Verstehst du: ‹verlogen›. Machiavelli hat man dann jahrhundertelang schlecht gemacht und verteufelt. Und warum? Weil er eben der Wahrheit gemäss sagte, wie es ist. Mit Wahrheit schafft man sich keine Freunde.»

    «Ja, ich weiss, du hast deine Abiturarbeit über Machiavelli geschrieben. Kein Wunder kannst du den Satz auswendig.»

    «Eben.»

    «Das ändert aber nichts an der Erkenntnis, dass man, wenn immer möglich, ehrlich sein sollte.»

    «Und wozu?»

    «Weil du selbst nicht ertragen würdest, sollte dich deine Freundin anlügen.»

    «Das ist meine Sache. Und die ‹goldene Regel› ist mittlerweile reichlich abgedroschen, meinst du nicht? Die kannst du dir an den Hut stecken. Überzeugt hat sie nämlich bisher kaum jemanden, zumindest handelt niemand danach.»

    «Schau mal bei Sartre nach: Du bist ‹der andere› für die anderen, wenn ich ihn da anführen darf. Es sind immer ‹die anderen›, nicht wahr? ‹L’enfer, ce sont les autres›. Wenn alle so denken, kann man es nie besser machen.»

    «Es denken aber alle so und man wird es nie besser machen können. Du sprichst immer von Lebenserfahrung und bist dabei unglaublich naiv. Wenn du nichts dagegen hast, kann ich dir noch einmal mit Machiavelli etwas nachhelfen. Es sind zwei der Sätze, die ich noch auswendig kann. Lese wieder einmal das Kapitel 15 im Il Principe, da steht es: ‹Denn zwischen dem Leben, wie es ist, und dem Leben, wie es sein sollte, ist ein so gewaltiger Unterschied, dass derjenige, der nur darauf sieht, was geschehen sollte‹ und nicht darauf, was in Wirklichkeit geschieht›, so, wie du eben, ‚seine Existenz viel eher ruiniert als erhält›. Und dann, noch klarer: ‹Ein Mensch, der nur das Gute möchte, wird zwangsläufig untergehen inmitten von so vielen Menschen, die nicht gut sind›. Willkommen in der Realität, Papa. Es tut mir leid, wenn ich es dir so sage, aber du hättest in deinem Leben wesentlich mehr verdient, wir hätten weniger sparen müssen und wären häufiger in die Ferien gefahren, wenn du darauf verzichtet hättest, deine zum Teil ausgesprochen weltfremden Prinzipien wie ein luxuriöses Hobby zu pflegen. Ein Hobby, das wir uns, objektiv gesehen, gar nicht leisten konnten.»

    «Also verhungert sind wir deswegen trotzdem nicht und du hattest immer alles, was du brauchtest.» Leo war sichtlich irritiert. «Man muss ‹seine Geschäfte so besorgen, dass man am Abend in den Spiegel schauen kann›. Die ‹Buddenbrooks› hast du zwar nicht gelesen, aber den Film wahrscheinlich gesehen.»

    «Dass ich nicht lache. Sind die Buddenbrooks am Schluss wirtschaftlich nicht grandios zugrunde gegangen? Oder verwechsle ich da etwas? Weshalb wohl? Vielleicht gerade wegen solcher Marotten …»

    «Nicht alle Gauner haben Erfolg. Man muss sich selbst treu bleiben. Ausserdem kann niemand einfach so aus seiner Haut raus.»

    Till liess nicht locker: «Kehren wir wieder zum Thema ‹Lüge› zurück. Was sagen die Evangelien? Sogar Petrus, der Fels, auf dem die Kirche ja steht, hat ganz klar die Unwahrheit gesagt, um nicht zu sagen gelogen, als er Jesus verleugnete. Und das ganze dreimal hintereinander.»

    «Als Jesus zu Pilatus sagte, er wäre dazu in die Welt gekommen, auf dass er ‹für die Wahrheit zeuge› – er meinte natürlich eine andere, höhere Wahrheit –, fragte ihn Pilatus: ‹Was ist Wahrheit?, lateinisch ‚Quid est veritas?›. Eigentlich war es bei ihm mehr eine rhetorische Frage, vielleicht eher an sich selbst als an den Verhörten gerichtet. Der Ausspruch eines in seiner weltlichen Macht verwurzelten Zynikers, der klar andeuten will, so etwas wie die ‹Wahrheit› gäbe es eigentlich gar nicht. Eines sehr modernen Menschen, wenn du so willst. Übrigens meinte Nietzsche, Pilatus wäre die einzige differenzierte und im wahren Sinne des Wortes menschliche Gestalt im ganzen Neuen Testament. Es gibt Legenden, Pilatus hätte später nach seiner Abberufung keine Ruhe gefunden, wäre immer weiter geirrt, nach einer Theorie wäre er, neben all den anderen tradierten Orten, in der Schweiz begraben, der Berg ‹Pilatus› hiesse deshalb so, und früher hätte Pilatus dort in einem mittlerweile ausgetrockneten Sumpf gespukt. Vielleicht endet man so, wenn man es mit dem Zynismus und der Lieblosigkeit übertreibt. Weisst du, was ‹Asebia› heisst? Gottlosigkeit, oder auch Gottesferne. Im Mittelalter war das, nach der Erbsünde, die grösste aller denkbaren

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