Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Letzter Halt Bahnhofstrasse: Roman
Letzter Halt Bahnhofstrasse: Roman
Letzter Halt Bahnhofstrasse: Roman
eBook271 Seiten6 Stunden

Letzter Halt Bahnhofstrasse: Roman

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Zürich im Sommer 2008: Noch ahnen die hohen Bankangestellten nicht, dass eine Krise kommt, die sie um Boni, Posten und, vor allem, ihren Status bringen wird. Für solche Gedanken sind sie zu beschäftigt mit ihren Karrieren. In der Privatbank Helfenstein hat der Chef eine junge Frau mit teurem Hobby, das die Bank bezahlt. Und sein Stellvertreter eine billigere Freundin zwar, dafür ein grösseres Problem. Der Bankbesitzer wiederum will seinem missratenen Sohn die stolze Bank nicht überlassen – er verfolgt stattdessen einen Geheimplan. Doch als am 15. September die New Yorker Investmentbank Lehman Brothers Pleite macht, endet die Welt, wie man sie kennt. Auch an der Bahnhofstrasse.
SpracheDeutsch
HerausgeberMünster Verlag
Erscheinungsdatum2. Nov. 2018
ISBN9783907146125
Letzter Halt Bahnhofstrasse: Roman

Ähnlich wie Letzter Halt Bahnhofstrasse

Ähnliche E-Books

Fiktion für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Letzter Halt Bahnhofstrasse

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Letzter Halt Bahnhofstrasse - Mark van Huisseling

    Uhr

    Kapitel 1

    Freitag, 15. August 2008, 20.30 Uhr

    «Der schönste Ort der Welt, für mich. Ich möchte nirgendwo anders sein, ich könnte hier bleiben», sagte Niklaus Helfenstein und nahm einen Schluck von seinem Rotwein, einem Merlot aus der Gegend.

    «Ich weiss, das sagst du jedes Jahr, wenn wir hier sind», sagte Chiara, seine Frau, und nahm einen Schluck von ihrem Detox Le Jardin, einem grüngelben Saft aus Gurke, Sellerie, Karotte, Apfel und Ingwer.

    Niklaus zündete eine Zigarette an, atmete durch die Nase aus und sah auf den Lago Maggiore. Das beste Stück Land, am schönsten Flecken des Tessins: Ascona, dachte er. Das hatte sein Vater immer gesagt. Dieser hatte die von seinem Grossvater bereits 1878 gegründete Bank Helfenstein bedeutend und die Familie reich gemacht. Unter ihm, Ulrich, dem Löwen von der Bahnhofstrasse, war aus der kleinen Privatbank mit regionaler Ausstrahlung eine wichtige Privatbank von internationalem Ansehen geworden. Jetzt sagte der Löwe nicht mehr viel. Er verbrachte seine Tage in einem Pflegeheim am Zürichsee. Umnachtet die meiste Zeit, mit 94.

    Niklaus fragte sich oft, was sein Vater wohl an seiner Stelle mit der Bank tun würde. Sie war zwar gross, klar, aber vermutlich nicht gross genug. Wer sollte da sein Nachfolger sein? Wer würde nach ihm, Niklaus, die Grösse haben zu sagen: «Ich bin der Präsident der Bank Helfenstein; ich hafte für Ihr Geld mit meinem Namen und allem, was ich besitze.» Und was würde der Löwe sagen, wenn er erfahren und, vor allem, verstehen würde, dass es wahrscheinlich keinen mit Namen Helfenstein gab, der dafür in Frage käme? Niklaus hatte zwar einen Sohn, Curd, für den man immerhin die Sprachregelung «vorgesehener Nachfolger» verwendete, aber ernst zu nehmen war das wohl nicht.

    «Kommt Curd eigentlich zu Besuch mit … wie heisst sie noch mal? Tiffany?», fragte Chiara in seine Gedanken hinein und fächelte sich mit ihrer Gala, in der sie geblättert hatte, Luft zu, was sie oft machte, wenn Niklaus rauchte. Dabei schaute sie ihn so an, dass er merken musste, wie falsch und, mehr noch, wie respektlos er sich ihr gegenüber verhielt. Immerhin arbeitete sie wirklich hart dafür, gesund, frisch, jung und sexy auszusehen für ihn, und bekam zum Dank seinen Zigarettenrauch ins Gesicht geblasen.

    «Wie? Wer? Ich weiss es nicht, ich habe keinen Überblick über seine Agenda. Und über seine Freundinnen.»

    Curd, dachte Niklaus, sein Sohn, war bereits 30 Jahre alt. Das heisst, einen Augenblick, 31 war er mittlerweile. Mit 31 hatte er schon das Anwaltspatent des Kantons Zürich gemacht, eine Dissertation geschrieben, über Bluntschli, einen sogenannten Säulenheiligen der Zürcher Juristen, der sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts interessante Gedanken zur Erhöhung der Erbschaftsteuer gemacht hatte, die es Niklaus Ende der 1960er-Jahre Wert schienen, weiterverfolgt zu werden. Worüber sich der Löwe sehr aufgeregt hatte: «Mein Sohn, ein Linker», was natürlich nicht stimmte; aber ein kurzzeitiges Erkunden einer Idee, die er in seinem späteren Leben verwerfen und nie wiederaufnehmen würde, sowie ein kurzzeitiges Aufbegehren gegenüber seinem Vater waren in Ordnung. Er hatte gerade angefangen, für die Bank zu arbeiten. Noch keine glanzvolle Laufbahn, aber ein Anfang wenigstens.

    «Ich denke, er kommt uns nicht besuchen», sagte Chiara.

    «Wer kommt uns nicht besuchen?», fragte Niklaus.

    «Wer wohl? Curd, logischerweise, dein Sohn, erinnerst du dich? Er sagt ja oft genug, wie langweilig er Ascona findet. Und dass Tiffany auch nicht hinfahren will. Oder mit wem er gerade zusammen ist.»

    «Gut möglich, auch in Ordnung.»

    «Und, um ganz ehrlich zu sein, er hat eigentlich recht», sagte Chiara. «Also könnten wir genauso gut nächste Woche nach St. Tropez fahren. Bruno und Viviane haben uns eingeladen, sie sind im Château. Und Curd ist wahrscheinlich auch dort, im Byblos. Dann könnten wir ihn doch noch sehen. Ich hätte wirklich Lust, in unseren letzten zwei Ferienwochen noch ein wenig unter die Leute zu gehen. Und du magst ja Bruno.»

    «Ja, ich mag Bruno. Aber nach St. Tropez muss ich diesen Sommer nicht wegen ihm. Ich habe ihn und Viviane wieder eingeladen, Silvester mit uns in St. Moritz zu verbringen. Ausserdem sind meine Angestellten in St. Tropez, und die will ich nicht sehen in den Ferien.»

    «Weisst du, Niklaus, du denkst wirklich nur an dich», sagte Chiara. «Mir ist schon langweilig genug das ganze Jahr, wenn du arbeitest. Was habe ich schon zu tun, seit Charlotte in Paris studiert? Und dass ich arbeite, willst du ja nicht. ‹Du bist Frau Helfenstein, da geht man nicht arbeiten.› Thema erledigt, für dich.»

    «Ich werde Curd fragen, wenn ich ihn das nächste Mal am Telefon habe, ob er vorbeikommen mag. Er ruft bestimmt bald an: Er wird wie immer, wenn er in St. Tropez ist, Geld brauchen. Und fahr du doch nach den Ferien nach Paris und verbring ein paar Tage mit Charlotte. Die Wohnung, die sie wollte und die ihr Vater nicht bezahlen konnte, ist schliesslich gross genug für euch beide. Und du hast recht: Frau Helfenstein geht nicht arbeiten. Jedenfalls nicht am Empfang von Charles und auch nicht im Terrasse. Helfensteins stehen nicht in Coiffeurgeschäften oder Restaurants und begrüssen Leute, sie werden begrüsst, wenn sie hingehen als Kunden.»

    Chiara liess den fast leeren Detox-Le-Jardin-Saft stehen, die Gala mit einer Bildergeschichte über «Traumurlaub der Society in St. Tropez» und «So feiern die Stars auf Ibiza» liegen und Niklaus sitzen. Bevor sie von der Terrasse nach drinnen ging, in das Haus, das der Löwe in den späten 1950er-Jahren gebaut hatte, blieb sie stehen. Sie drehte sich um, gab Niklaus von hinten einen Kuss knapp auf die Stirne und sagte: «Ich geh jetzt schlafen. Morgen früh gehe ich rennen, dann kommt Mike fürs Training und anschliessend Jangzom für meine Massage; ich sehe dich zum Mittagessen. Trink nicht mehr zu viel. Schlaf gut, Nik.»

    Als sie weg war, stand er auf und ging in die Küche, wo Graziella, die Haushälterin, am Aufräumen oder Putzen war und, als sie ihn sah, sagte: «Mi scusi, signore, posso …?» – «No, no, grazie», sagte Niklaus. Dann nahm er eine Flasche Merlot vom Gestell neben dem Schrank, den Zapfenzieher aus der Schublade und wollte wieder nach draussen auf die Terrasse gehen, um sich eine Zigarette anzuzünden und weiter auf den See zu sehen. Doch er bemerkte, dass Graziella ihn ansah. «Ja, ist noch was? Von mir aus können Sie aufhören für heute und nach Hause gehen», sagte er. «Geht es Ihnen gut, avvocato?», fragte die Haushälterin, die ungefähr gleich alt war wie er, das heisst, sie musste ein wenig älter sein, denn sie hatte als junges Mädchen, noch unter dem Löwen, angefangen, für die Helfensteins in deren Ferienhaus zu arbeiten. «Mir geht’s immer gut, wenn ich hier bin. Und Sie für mich kochen», sagte er. Graziella bedankte sich und sah auf die Flasche in seiner Hand. Und Niklaus sagte: «Kommen Sie schon, fangen Sie jetzt nicht auch noch an wie Chiara. Was ist los, wenn ein Mann, der das ganze Jahr arbeitet, in den Sommerferien keine zweite Flasche Merlot mehr aufmachen darf?» – «Sì, signore», sagte sie nur und ging aus der Küche.

    «Der schönste Ort der Welt, für mich. Ich möchte nirgendwo anders sein, ich könnte hier bleiben», sagte Beat Suter und nahm einen Schluck von seinem Rotwein, einem Ribera del Duero.

    «Du hast recht, babe», sagte Sandra Ruprecht Suter, seine Frau, und nahm einen Schluck von ihrem Detox Le Jardin, einem grüngelben Saft aus Gurke, Sellerie, Karotte, Apfel und Ingwer, und dachte: Interessant, vor drei Jahren kannte er die Insel bloss vom Hörensagen. Bevor er bereit war, sie sich auch nur einmal anzusehen, musste ich Flüge sowie eine Boutique-Finca mit nur vier habitaciónes buchen und ihm sagen: «Dieses Jahr feiern wir meinen Geburtstag auf Ibiza, das ist mein einziger Wunsch zum 30. Und es wird dir gefallen.»

    Beat nahm einen Schluck Wasser – «zwei Glas Wasser ohne Kohlensäure, ein Glas Wein und morgen no carbs» war sein Grundsatz, wenn er Alkohol trank – und blickte über seine Terrasse und seinen Infinity Pool, hinter dem, so sah es aus, das Mittelmeer begann und wo im Licht der untergehenden Sonne die Umrisse der Nachbarinsel Formentera gerade noch zu erkennen waren. Den Sonnenuntergang konnte er von seinem Grundstück aus nicht sehen, denn sein Haus lag ab 16 Uhr im Schatten. Dafür war es zirka 600 000 Euro günstiger gewesen, und seither sagte er allen: «Morgensonne – nicht zu schlagen …»

    600 000 Euro günstiger, dachte er. Das heisst, so war es, bevor Sandra das Haus, das er vor zwei Jahren jemandem abgekauft hatte, der es zweieinhalb Jahre zuvor hatte neu bauen lassen, «upgradete». Er hatte es, ocker wie es war, in Ordnung gefunden, sie hatte es mittelmässig gefunden, wie sie sagte. Das heisst, sie hasste es. Sie hatte gesagt: «Ein Haus am Meer muss weiss sein. Und die Platten auf der Terrasse und um den Pool sowie im Haus müssen ebenfalls weiss sein.» Und der Pool müsse ein Infinity Pool sein, weil Terrakotta-Platten und ein gewöhnlicher Pool – eben gewöhnlich seien. Sandra hasste alles Gewöhnliche.

    «Wie du meinst, Sandy», hatte er gesagt und gedacht: 250 Quadratmeter weisse Platten aus dem Baumarkt-Inseläquivalent plus ein paar Liter Farbe «Verkehrsweiss», plus zirka 160 Mannstunden von vier Philippinos gleich 20 000 Euro. Oder 30 000. Oder, allerhöchstens, 45 000. Und dann vielleicht doppelt so viel für den Infinity Pool, den er selber eigentlich auch wollte, weil ein gewöhnlicher Pool – eben gewöhnlich war. Und Beat Suter, CEO der Bank Helfenstein, seine ganze Laufbahn, sein ganzes Leben im Grunde eines nie gewollt hatte: gewöhnlich sein. Und zu einem kleineren Teil, weil Sandra gesagt hatte: «Stell dir vor, was man für Sachen machen kann in einem Infinity Pool, wenn einem niemand dabei zuschauen kann.» Also plus 10 000 Euro für die blickdichte grüne Wand, die Sandra um das Grundstück herum bauen lassen wollte. Das heisst, unter Berücksichtigung der fehlenden Abendsonne und des nicht sichtbaren Sonnenuntergangs, was Sandra beim Kauf irgendwie nicht bemerkt oder jedenfalls nicht als mittelmässig bezeichnet und abgelehnt hatte, hatte er 455 000 Euro gespart, so kam Suter zum Schluss seiner Berechnungen. Den Kaufpreis des Hauses von 2,4 Millionen vernachlässigte er, weil Immobilien sichere Werte seien und der Wert einer Villa in Spanien fast nicht sinken könne.

    Das war die Sicht, die Suter auf die Welt hatte: Er war 455 000 Euro up. Die Wirklichkeit sah anders aus: Das Haus war zwar seit einigen Wochen weiss und die Fliesen um den Infinity Pool ebenfalls. Die im Haus sowieso. Auch die blickdichte, grüne, mit lila Bougainvillea bewachsene Wand um das Grundstück stand. Doch Suter war nicht 455 000 Euro up, sondern, im Licht der wohlmeinendsten Betrachtung und nicht zu schlagender Morgensonne, 120 000 down – nach Aktivierung der, streng besehen, nie vorhanden gewesenen 600 000 Euro. Kostenwahr gerechnet war er, den Kaufpreis nicht eingerechnet, 720 000 Euro down. Sandra hatte die Platten nicht im Baumarkt-Inseläquivalent ausgewählt und weder ein paar Liter verkehrsweisse Farbe noch 160 Mannstunden von vier Philippinos bestellt, sondern Jordi angerufen, über den in Casa y Campo, einer spanischen Wohnzeitschrift, stand, er sei der König des entspannten Insel-Minimalismus.

    Was in Casa y Campo nicht stand: Jordi, ein entspannter Inselkönig mit Sicherheit, war vor allem ein Minimalist in der Umsetzung der Vorgaben seiner Kunden. Also mussten Handwerker gefunden werden, die die von Jordi ausgewählten Fliesen irgendwie an die Stellen, für die sie vorgesehen waren, verlegten. Und wenn nicht diesen Monat, dann spätestens nächsten, respektive, nachdem der Sommer zu Ende gegangen war, wenigstens bis kommendes Frühjahr …

    Im darauffolgenden Sommer fand Sandra, nachdem Beat sich bei ihr beklagt hatte über den langsamen Fortschritt des Umbaus seines fast neuen Hauses, einen ostdeutschen Bauleiter mit Namen Kai-Rüdiger, der seit zehn Jahren erfahren war darin, Jordis Fliesen wegzuspitzen und andere Fliesen – solche, die für Bodenbeläge im Aussenbereich geeignet waren – zu verlegen.

    Kai-Rüdiger war ferner in der Lage, ein Weiss zu liefern, das Sandra nicht gewöhnlich fand, das aber nach vier oder so Anstrichen den Ockerton, in dem das Haus zuerst gestrichen worden war, überdeckte, und zwar nicht bloss mittelmässig.

    Beat nahm einen Schluck vom Ribera del Duero und sagte: «Gehen wir in den Pool?»

    «Findest du es nicht schon ein bisschen spät dafür?», fragte Sandra.

    «Spät? Es ist zwanzig vor zehn, wir haben Ferien, und das hier ist Ibiza.»

    «Und wenn Aurélien aufwacht?»

    Beat zeigte auf das Babyfon-Empfängergerät, das neben dem Ribera del Duero und dem Detox-Le-Jardin-Saft auf dem Tisch stand, und sagte: «Er schläft wie ein Baby, was er ja auch ist.»

    «Er ist eineinhalb Jahre alt, kein Baby mehr.»

    «Umso besser.»

    «Und wenn uns jemand sieht?»

    «Es ist fast dunkel, erstens, und zweitens haben wir dafür die grüne Wand.»

    «Du hast recht», sagte Sandra und zog den weiten Baumwollpullover aus, den sie über ihrem Bikini-Top trug. Dann die ganz kurzen Jeans-Shorts. Sie stand auf und schlüpfte in die Louboutin-Sandalen, die neben ihrem Stuhl lagen. Es war nicht einfach, auf hohen Absätzen über die abends immer ein wenig feuchten und rutschigen Fliesen zum Pool zu gehen. Eigentlich auch nicht nötig für die sieben Meter. Doch «Bikini und hohe Hacken», wie Beat sagte, war einer seiner Lieblingslooks an ihr. Schliesslich hatte sie vor und während der Schauspielschule als Model gearbeitet und laufen gelernt.

    Beat stand ebenfalls auf, ein erwartungsvolles Strahlen in den Augen. Er nahm ihre Hand und – in diesem Moment ertönte der Klingelton von Sandras Mobiltelefon, das auf dem Tisch neben dem Babyfon lag: «Pierre Mobil» stand im Anzeigefeld.

    Sandra stieg aus ihren Louboutins, nahm das Telefon und sagte zu Beat: «Entschuldige, babe», drehte ihm den Rücken zu und ging ins Haus, von wo Beat noch hörte: «Pierre, mein Lieber, ist alles gut?»

    Pierre, eigentlich Peter, Peter Ruprecht, meldet sich mit tödlicher Sicherheit genau dann, wenn man ihn am wenigsten brauchen kann, dachte Beat und nahm einen Schluck vom Ribera del Duero und vergass, dass er schon zwei Schlucke Wasser short war. Pierre war Sandras Exmann, zu dem sie noch immer eine geistige Verbundenheit spürte, wie sie sagte, was Beat ein wenig irritierte, wie er sagte. Pierre war vor Jahren ein hohes Tier im Zürcher Kulturbetrieb gewesen: Hausregisseur am Schauspielhaus. Und nebenbei Gastregisseur einer weiteren Produktion im Jahr an einem grossen deutschsprachigen Haus, wie dem Thalia Theater in Hamburg, dem Gorki in Berlin oder der Burg in Wien.

    Nicht dass Beat sich fürs Theater interessiert hätte, doch er hatte so oft und so viel über die Laufbahn des Pierre gehört, dass er es nicht verhindern konnte, eine Art Theaterkenner zu werden. Und als er einmal darüber geklagt hatte, meinte Sandra: «Ich war mit dem wichtigsten Theater-Guy seiner Zeit zusammen, jetzt bin ich mit dem wichtigsten Banker-Guy seiner Zeit zusammen – wo ist das Problem?»

    Das Problem war, dass Beat Pierre, um zu untertreiben, nicht besonders mochte. Nicht bloss, weil Pierre während eines gemeinsamen Abendessens mit vier anderen Paaren, nachdem Beat mit ihm höflich Theater-Small-Talk gemacht hatte, laut gesagt hatte: «Interessant, Banker reden am liebsten über Kunst. Aber Künstler reden lieber über Geld, mit Bankern.» Beat fand es auch ziemlich arm an Stil, wie Pierre, damals bereits 48 Jahre alt, verheiratet und Hausregisseur des Schauspielhauses, die damals erst 20-jährige Schauspielschülerin hemmungslos umworben und ihr die Rolle des Käthchens von Heilbronn versprochen hatte. Daraufhin hatte sie die Schule ohne Abschluss verlassen und war bei ihm eingezogen. Die Rolle des Käthchens bekam sie nie, doch immerhin ein paar Auftritte, welche den Zuschauern jedoch schnell klarmachten, dass sie diese nicht ihrer Schauspielkunst, sondern ihrem wirklich sehenswerten Äusseren zu verdanken hatte.

    In einem Porträt, das in Theater heute über Pierre erschienen war, war er wiedergegeben worden mit den Worten: «Besetzungscouch? Ersparen Sie mir Ihre kleinbürgerlichen Moralvorstellungen.» Immerhin hatte er sich ein Jahr später von seiner Frau, einer älteren Schauspielerin, scheiden lassen und Sandra geheiratet.

    Sandra kam nicht mehr in Bikini und hohen Absätzen, sondern in einem Trainingsanzug aus Frottee und Wollsocken auf die Terrasse, ihr Mobiltelefon in der Hand. Sie stellte sich vor Beat.

    «Alles gut, Sandy?», fragte er.

    «Ich verstehe das nicht. Pierre hat gesagt, es sei noch immer kein Geld auf dem Konto für ‹Dantons Tod›. Und die Belgier, die er mir vermittelt hat, diese freie Gruppe, von der ich dir erzählt habe, die seit über zwanzig Jahren in der gleichen Besetzung arbeitet –»

    «Die mit dem Lastwagenballett?»

    «Ja, die. Sie haben ihr Geld auch nicht bekommen. Und wenn das Geld nicht sofort kommt, können sie die Lastwagen nicht nach Zürich transportieren, und ohne Lastwagen findet das Stück nicht statt. Morgen ruft Pierre die Engländer an, diese andere freie Gruppe, und die Schweizer von 400asa und den Hora-Chef, den vom Behindertentheater, um zu fragen, ob alles in Ordnung ist, weil er von denen auch nichts gehört hat. Nein, es ist überhaupt nichts gut. Was ist los, Beat?»

    Sandra hatte während ihrer vier Jahre kurzen Ehe mit Peter Ruprecht mit der analytischen Tiefenschärfe, die ihr sonst manchmal fehlte, erkannt, dass ihre Schauspielerinnenlaufbahn ohne Pierre nicht nachhaltig sein würde. Und das war ein Problem. Es war sogar ein Haufen von Problemen.

    Pierre war die längste Zeit Hausregisseur am Schauspielhaus Zürich gewesen. Er war damals in Verhandlungen mit den Verantwortlichen des Theaters Basel und Schauspielhauses Bochum. In Verhandlungen, die nach nirgendwo führten, merkte Sandra. Jedenfalls nicht zu einer Unterschrift auf der gepunkteten Linie eines mehrjährigen Vertrags. Dann arbeite er halt eine Zeit lang nur als Gastregisseur, hatte er gesagt, auch kein Problem.

    Für Sandra schon. Sie rief einen Anwalt an, den sie kannte, und alle Banken, von denen sie einmal gehört hatte, und verlangte, mit dem für Marketing plus Sponsoring zuständigen Mann reden zu dürfen, um ihm ihre Idee vorzuschlagen: ein Theaterfestival in Zürich. «Ich habe die Idee und das Netzwerk, Sie haben das Geld; lassen Sie es uns ausgeben und Werbung machen für Ihre Bank, für Sie und, vor allem, für mich. Und dabei eine lässige Zeit haben.» In genau diesem Wortlaut hatte sie es zwar nicht gesagt, doch im Kern so gemeint.

    So kam die Bank Helfenstein zum Helfenstein Zurich Theater Festival HZTF. Und Beat zu Sandra. Und Sandra zum Nachnamen Ruprecht Suter und zum Titel HZTF-Intendantin. Und nach einer 18 Monate dauernden Warteschlaufe während Beats Scheidung nach Zollikon in ein freistehendes Einfamilienhaus.

    «Was ist los, Beat?», fragte Sandy noch einmal. «Wo ist das Geld?»

    Einfache Frage, schwierige Antwort, dachte er. Als Beat «Houdini» Suter hatte ihn ein Journalist der Finanz und Wirtschaft einmal beschrieben. Das hatte ihn nur scheinbar und gegen aussen aufgeregt, insgeheim verstand er es als eine seiner besten Qualitäten, aus jeder Lage irgendwie rauszukommen und dabei erstens einigermassen gut auszusehen und zweitens andere schlecht aussehen zu lassen. Und diese Lage, in der er sich zurzeit privat befand, war bestimmt einfacher als manche Situation, aus der er im Geschäftsleben schon rausgekommen war.

    «Mach dir keine Sorgen, Pierre bekommt sein Geld. Und die Belgier bekommen es auch, damit sie ihre Lastwagen nach Zürich transportieren können. Es ist bloss so, dass die Helfenstein Bank ihre Zahlungsvorläufe verlängert hat. Irgendeiner von McKinsey, der seit Monaten bei uns im Haus sitzt mit seinem Team, hat ausgerechnet, wenn wir alle Überweisungen je acht Bankarbeitstage später ausführen, bringt uns das eine niedrige siebenstellige Zahl zusätzliches Zins-Income, weisst du?»

    Er wusste, dass sie nicht wusste. Sie hatte manchmal ein scharfes Auge fürs grosse Ganze, aber wenn es um Arithmetik ging, konnte er sie stehen lassen wie die kenianischen Langstreckenläufer die Europäer bei der Weltklasse-Zürich-Leichtathletikveranstaltung, die er lieber mochte als belgisches Lastwagenballett und von Behinderten gespieltes Theater.

    «Und dann fiel noch der 1. August dieses Jahr auf einen Freitag. Das macht noch einmal drei Tage mehr», sagte er, was auch nicht stimmte.

    «Okay. Ich verstehe das alles nicht», sagte Sandra. «Aber morgen, nein, morgen ist Samstag, am Montag rufe ich Pierre an. Dann muss das Geld auf seinem Konto sein. Und bei den Belgiern. Und den

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1