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Schwärzer als die tiefste Nacht: Die Filialen von TransDime
Schwärzer als die tiefste Nacht: Die Filialen von TransDime
Schwärzer als die tiefste Nacht: Die Filialen von TransDime
eBook730 Seiten10 Stunden

Schwärzer als die tiefste Nacht: Die Filialen von TransDime

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Über dieses E-Book

Kann man so viel Glück auf einmal haben? Das fragt sich Nick, wird er als Berufsanfänger doch aus hunderten von Bewerbern auserwählt. Nur eine Handvoll Uni-Absolventen werden jedes Jahr vom Multimilliarden-Konzern TransDime für diesen Traumjob angestellt.
Ihre Kunden hingegen, die sogenannten Inspektoren der Firma, geben sich durch die Bank verschroben und auffällig. Nicht nur ihm passieren immer seltsamere und unheimlichere Dinge auf seinen Reisen im Auftrag der allmächtigen Firma. Es wird klar, dass diese im Hintergrund mehr Fäden zieht und seine Leute stärker manipuliert, als er es ahnt. TransDime lockt mit einer traumhaften Karriere, aber der Preis dafür scheint stetig zu steigen.
Nick und seine Kollegen fragen sich immer öfter, ob sie bereit sind, diesen Preis zu bezahlen, den die sagenumwobene 'Offenbarung' des größten Firmengeheimnisses ihnen abverlangen wird. Denn ist man erst einmal eingeweiht, gibt es kein Zurück mehr ...
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum26. Nov. 2018
ISBN9783748185635
Schwärzer als die tiefste Nacht: Die Filialen von TransDime
Autor

Andreas R. Schopfheimer

Geboren und aufgewachsen in Südbaden, interessierte sich Schopfheimer schon zu Schulzeiten fürs Schreiben von Kurzgeschichten. Er schloss die Mittlere Reife mit dem jahrgangsbesten Deutschaufsatz von Baden-Württemberg ab, verfolgte aber einen Werdegang der Berufslehre. Die darauf folgende Zeit der Ableistung des Grundwehrdienstes als Sanitäter im Heer nutzte er auch zum Schreiben eines Romans, damals noch handschriftlich. Ein Förderprogramm der Bundeswehr erlaubte ihm dabei das Erlernen des Schreibmaschinenschreibens. Er arbeitete danach in seinem erlernten Beruf im pharmazeutischen industriellen Umfeld weiter. Das Schreiben als Hobby hat er dabei nie aufgegeben und sich so im Lauf der Jahre eine gewisse Erfahrung mit ersten literarischen Gehversuchen für ein kleines privates Publikum angeeignet. Heimatverbundenheit und Weltoffenheit waren für ihn nie Gegensätze, was sich auch in diesem Werk niederschlägt, das sein Debut als ernsthafter Autor darstellt, der sich allerdings nicht immer so ganz ernst nimmt.

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    Buchvorschau

    Schwärzer als die tiefste Nacht - Andreas R. Schopfheimer

    hatte.

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    Schwärzer als die tiefste Nacht

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    Frankfurt am Main, TransDime Zentrale - Bewerbung Tag 1

    Colin Kardon lehnte sich in seinem Bürosessel zurück, als die Tür sich nach kurzem Klopfen öffnete. Sein Sekretär Ingo Willfehr trat ein und nickte ihm zu.

    „Hier ist die Liste der diesjährigen Bewerber, Herr Kardon. Vierundzwanzig diesmal, die zu den Einstellungstests eingeladen wurden." Er händigte ihm ein mehrseitiges Dokument aus, das unter anderem eine kurze Beschreibung der Vita jedes Bewerbers beinhaltete.

    Der Vertrauen erweckende Mann hinter dem massiven Schreibtisch mit den dunklen, lockigen Haaren, die er gewollt eine Spur zu lang trug, nahm das Dokument entgegen. Er besaß dunkle, forschende Augen hinter einer Hornbrille mit dicken Gläsern und glatte, sympathisch wirkende Gesichtszüge. Nachdenklich ließ er seinen Blick über die ersten Kandidatenakten schweifen, während er über seinen schwarzen Henriquatre-Bart, der ihm das Aussehen eines Mannes im besten Alter verlieh, strich.

    „Die Dossiers deuten doch auf einige Erfolg versprechende Subjekte hin, meinen Sie nicht auch, Ingo?"

    Vorsichtig äußerte sich der blonde Hipster, der Ende Zwanzig war: „Ich selbst habe mir lediglich erlaubt, die Liste zu überfliegen, Herr Kardon. Mir ist bekannt, dass diesmal über dreihundert Bewerbungen eingegangen sind. Wahrscheinlich auch, weil wir völlig unabhängig von sonst üblichen Marktgepflogenheiten nur einmal jährlich diese spezielle Art von Stellen ausschreiben."

    „Das mag schon stimmen, pflichtete Kardon ihm bei, „was auch die erste Auslese stets so schwierig macht. Es ist immer wieder erstaunlich, wie viele junge Leute sich direkt nach dem Studium hauptsächlich aufgrund von Mundpropaganda auf eine Stelle bewerben, deren Tätigkeitsfeld so vage beschrieben wird. Vor allem ist ihnen das Potential dieses Jobs fast vollständig unbekannt. Und wenn auch nur einer dieser über dreihundert Bewerber wüsste, was das erste Ausschlusskriterium ist, wären die Folgen für uns nicht auszudenken.

    „Ich glaube, vor allem unsere Firma muss sich doch in dieser Hinsicht keinerlei Gedanken über Diskretion machen." Willfehr war seine Überzeugung deutlich anzuhören.

    „Auch das ist sicher korrekt. Aber wie viele Mühen wir bei diesem ersten Aussieben immer auf uns nehmen müssen! Sich mit so einer langen Namensliste auf den Weg zu machen und diesen extrem aufwändigen Background-Check vorzunehmen...

    und wie viele extrem fähige Kandidaten wir aufgrund dieses einen Kriteriums jedes Jahr nicht annehmen können, vor allem, seitdem die Zentrale die Obergrenze von fünf auf drei herabgesetzt hat, weshalb auch immer... na ja, ich will nicht klagen.

    Der Erfolg gibt uns schließlich recht, nicht wahr, Ingo?"

    „Ja, natürlich. Bisher haben Sie meist die Richtigen für den Job ausgesucht." Mit einem fast unverschämten Grinsen bekundete der Assistent seine Zustimmung.

    „Nun, eigentlich arbeitet das Testverfahren beinahe autonom, wie Sie wissen. Nach all diesen Jahren ist es von den fähigsten Experten soweit perfektioniert worden, dass wir eigentlich nicht mehr viel Mitspracherecht bei dem endgültigen Entscheidungsfindungsprozess haben. Und die nötigen Anpassungen, die aufgrund der verschiedenen vorherrschenden Gesellschaftsstrukturen und deren Veränderungen in den jeweiligen Filialen vorgenommen werden müssen, sind fast immer auf einem ausreichend aktuellen Stand.

    Ich habe lediglich die bescheidene Aufgabe, die übrig gebliebenen Kandidaten nochmals in persönlichen Augenschein zu nehmen. Aufgrund meines Eindrucks dieser durchwegs jungen und engagierten Leute gebe ich meine Zustimmung...

    oder eben nicht. Und manchmal können wir ja auch Einigen, die nicht für den Job als Steward geeignet sind, eine normale Arbeitsstelle anbieten, bei deren Ausübung sie dennoch Mehrwert für die Firma generieren können."

    „Trotzdem ist es keine leichte Aufgabe, die Sie schultern müssen", gab Willfehr zu bedenken.

    „Nein, und der schwere Teil kommt für mich immer erst, wenn es eigentlich kein Zurück mehr gibt für die Betroffenen. Ich bin wie dieser Morpheus in dem Film 'Matrix'. Keine schöne Aufgabe." Kardon seufzte und massierte sich mit geschlossenen Augen die Schläfen.

    „Ein toller Film", begeisterte sein Assistent sich eine Spur zu sehr, wohl wissend, dass dies einer der absoluten Lieblingsfilme seines Chefs war.

    „Wie steht es eigentlich um den Fall in Berlin?" Kardon gab vor, als wäre ihm erst jetzt eingefallen, danach zu fragen, doch Willfehr kannte seinen Chef inzwischen gut genug, um es besser zu wissen.

    „Nun, am Tatort hat man keine Spuren mehr finden können, die zu den Angreifern geführt haben. Glücklicherweise gab es keine unbeteiligten Zeugen des Vorfalls.

    Durch die rasche Meldung der Stewards an die dortige Niederlassung war ein Spezialistenteam zum Aufräumen zeitnah vor Ort und konnte alles soweit sichern, dass nichts Verdächtiges mehr von dem Vorfall zeugt. Willfehr nickte zufrieden und fügte hinzu: „Wir können wirklich froh sein, dass unsere beiden Leute so schnell und korrekt gehandelt haben.

    „Das schon, nur ist es etwas unglücklich, das die Beiden das mitangesehen haben.

    Bernd Wagenschmied und Rebecca Paulenssen, nicht wahr?"

    „Ja. Wir haben Herrn Wagenschmied, wie von Ihnen angeordnet, zur Beförderung auf Funktionsstufe Eins geladen; er hat bereits einen Termin bei Ihnen, direkt nach den Einstellungstests. Dank der Konditionierung hat er sich wirklich wie im Lehrbuch verhalten. Und sobald er die Beförderung erhalten hat und alles erklärt bekommt, wird er es auch verstehen.

    Frau Paulenssens Anwesenheit bei dem Vorfall nach nur einem Dienstjahr war allerdings sehr ungünstig. Ihr Grad der Beeinflussung ist noch nicht so hoch, dass das Erlebte völlig spurlos an ihr abprallen wird. Aber für diesen Fall haben wir ja unser Programm. Sie ist bereits auf Sonderurlaub, zusammen mit einem dienstälteren Steward, der ihr Gesellschaft leistet. Danach wird sie hier betreut werden, solange sie es wünschen wird." Willfehr war etwas unwohl in seiner Haut.

    Kardon versicherte ihm: „Keine Sorge, die Gute wird das mit der Zeit schon verkraften. Ich halte große Stücke auf diese junge Dame, Ingo. Frau Paulenssens Grad der Resilienz ist hoch, wie Sie wissen. Und Sylt im Hochsommer ist traumhaft."

    „Ich selbst war nie dort. Aber zur Erholung ist eine Reise ans Meer sicher gut."

    „Das wäre dann alles für den Moment, Ingo."

    Nickend zog sich Willfehr respektvoll zurück und überließ Kardon dem Studium der Bewerberliste.

    Nick und Lothar stiegen aus der Straßenbahn aus und sahen sich kurz um. Auf beiden Seiten der mehrspurigen Ausfallstraße, in deren Mitte die Bahntrasse auf einem Grünstreifen verlief, war ein mindestens drei Meter hoher, massiver Zaun aus senkrechten Stahlelementen in den Boden neben den Gehwegen eingelassen. Er signalisierte deutlich, dass dieses Firmengelände, welches sie im Begriff waren zu betreten, nicht nur halbherzig abgesichert war. Die in regelmäßigen Abständen auf von der Straße zurückgesetzten Masten angebrachten Kameras, welche den Zaun und den Perimeter des Firmengeländes dahinter flächendeckend überwachten, unterstrichen diesen Anspruch. Über den Masten waren große Scheinwerfer montiert, welche zudem gewiss die Nacht zum Tag machen würden, um das Bild des unüberwindbaren Werkschutzes zu perfektionieren.

    Lothar sah seinen alten Freund an und schluckte kurz. „Jetzt wird es ernst. Ich bin so aufgeregt, Mann!"

    „Hör auf, 'Mann' zu sagen, du bist nicht auf einem Mallorca-Sauftrip", wies Nick ihn ein wenig unwirsch zurecht, wohl um seine eigene Nervosität zu überspielen.

    „Komm schon, wir sind jung, lässig und eine Spur albern. Wer will uns das verdenken?"

    „Heute sind wir jung, pflichtbewusst und ernsthaft. Willst du diesen Job oder nicht? Ich hab inzwischen ein paar Dutzend Bewerbungen und sieben Vorstellungsgespräche hinter mir. Dieses Angebot ist bisher das Beste." Wie stets musste Lothar ein wenig eingebremst werden, um nicht übers Ziel hinaus zu schießen.

    „Wenn du es sagst, Mister Korrektheit", lenkte dieser widerwillig ein und sah sich weiterhin beeindruckt um. Nicks Studienkumpel hatte selbst auch schon so einiges hinter sich bei der Jobsuche.

    Auch Nick ließ seinen Blick in beide Richtungen schweifen, um das Ende des weitläufigen Werksareals abzuschätzen, was nicht leicht war aus dieser Perspektive.

    Zweifellos wirkte es wie eine Stadt in der Stadt, nur dass die langen Reihen von vierbis achtstöckigen Gebäuden ausnahmslos weiß gestrichen waren und in Reih und Glied im Schachbrettmuster standen.

    Das Gelände war so groß, dass an seinen beiden Außenseiten jeweils eine S-Bahn- und eine U-Bahn-Linie verliefen, mit eigenen Haltestellen für den Anschluss an das Firmenareal, wie Nick aus der Betrachtung des Geländes auf einer Karte im Internet wusste. Die Straßenbahnlinie auf der Ausfallstraße hier teilte das Gelände grob in zwei Hälften. Sie endete jedoch tatsächlich am hinteren Ende in einer Wendeschleife neben einem eigenen Park & Ride-Parkplatz und diente auf seinem letzten Streckenabschnitt somit ebenfalls allein als Zubringer für die zahlreichen Angestellten der Firma.

    Ein Passagierflugzeug überflog sie mit ausgefahrenem Fahrwerk in niedriger Höhe, was die Nähe zum Frankfurter Flughafen implizierte.

    Sie überquerten die Straße am Ende der Straßenbahn-Haltestelle auf einem Zebrastreifen gemeinsam mit einem knappen Dutzend Leute, welche sich auf den Weg zu den diversen Werkstoren und Zugängen über Drehkreuze machten. Diese wurden elektronisch über Werksausweise freigeschaltet, welche die Leute an Scannerfelder hielten.

    Ihnen war etwas anderes beschieden: sie standen nun am Fuß eines direkt an der Außengrenze des Werksgeländes gelegenen Büroturmes, welcher sehr hoch aufragte und unübersehbar das Logo der Firma an seiner Spitze zur Schau trug. Es handelte sich dabei um einen Kreis, in dem ein anderer, etwa halb so großer Kreis dessen linke Seite berührte. Während der Rest des größeren Kreises schwarz ausgefüllt war, war der linke weiß und mit vier Querstreifen verziert. Daneben war der Name der Firma zu lesen:

    TransDime

    In welchem Stockwerk das mannshohe Signet montiert war, konnte Nick nur ahnen, da er sich nicht die Mühe gemacht hatte, die Anzahl der Etagen zu zählen. Er konzentrierte sich allein auf das, was nun kommen würde.

    Was genau das war, konnte er allerdings nicht einmal ahnen.

    Sie betraten eine großzügig angelegte und ausgestattete Lobby im Erdgeschoss des Büroturms. Lothar steuerte zielsicher den Empfangstresen an, worauf sich Nick beeilte, zu ihm aufzuholen. Aus dem Augenwinkel bemerkte er, dass abseits vom ständigen Kommen und Gehen von Angestellten mindestens zwanzig Leute auf den zahlreichen, teuer aussehenden Ledergarnituren saßen, warteten und sich allesamt nervös und etwas eingeschüchtert umsahen.

    „Guten Morgen, mein Name ist Lothar Kranach. Ich habe einen Termin für ein Bewerbungsgespräch." Lothar reichte das offizielle Einladungsschreiben über den Tresen an einen leicht gelangweilt wirkenden Mann in dunkler Uniform, der gedankenverloren an seinem ergrauenden Schnurrbart herum zupfte, während er das Blatt Papier studierte. Währenddessen hielt Nick sein eigenes Schreiben hoch und übergab es wortlos dem Nebenmann am Empfang, der es mit einem wissenden Nicken entgegennahm und auf eine Liste sah.

    „So so, nochmal zwei Bewerber. Warum nehmen Sie nicht Platz, während wir Ihnen Ihre Besucherausweise anfertigen? Dort drüben, bitte. Sie waren die letzten zwei, auf die wir noch gewartet haben, dann können wir ja jetzt gleich loslegen." Ohne ein weiteres Wort drehte er sich weg und verschwand mitsamt ihren Einladungen durch eine Tür im rückwärtigen Bereich.

    „Dürfte ich noch einen Blick auf ein Ausweispapier von Ihnen werfen, bevor Sie in den Wartebereich gehen?" Das erregte Nicks Aufmerksamkeit und er besah sich den jüngeren, glattrasierten, aber im Grunde ebenso gelangweilt aussehenden Kollegen des ersten Herren vom Empfang. Er händigte ihm seinen Personalausweis aus, welchen der Angestellte gemeinsam mit dem von Lothar an sich nahm, sich umdrehte und nach nur drei Schritten vor einem großen, hochmodernen und sehr teuer aussehenden Kopier-, Scan- und Druckgerät von Xerox stand.

    In Windeseile hatte er beide Ausweise eingescannt, entnahm aber keine Kopien, was Nick vermuten ließ, dass er die Abbilder ihrer Papiere direkt per interner e-mail an eine werksinterne Adresse zur Ablage und Bearbeitung gesendet hatte. Sicher Standardvorgehensweise, dachte er leicht beeindruckt.

    Sie erhielten ihre Ausweise zurück und setzten sich ohne weitere Umschweife am anderen Ende der Lobby zu der Menge an anderen Leuten, die wohl zum größten Teil ebenfalls Bewerber auf die freien Stellen hier waren. Vom Aussehen der meisten anderen her konnte man dies zumindest vermuten. Alle in etwa in ihrem Alter; genau wie sie passend für diesen Anlass gekleidet und nervös wie ein Sack Flöhe.

    „Dass sie so viele Leute gleichzeitig zu Gesprächen hierher einladen... das hätte ich nie gedacht." Lothar schien nun doch etwas eingeschüchtert.

    Nick gab zu bedenken: „Bei so einem großen Konzern haben sie sicher genügend Kapazitäten in der Personalabteilung für so eine Aktion. Außerdem soll ihr Vorgehen bei der Auslese an Bewerbern ja sehr unorthodox sein, nach dem was ich gehört habe."

    „Wieso hast du mir nichts davon erzählt?, beschwerte sich Lothar auch gleich, wie es typisch für ihn war. „Und woher hast du das überhaupt?

    „Ich hab' dir das nicht erzählt? Na, ich kenne doch diesen Typ von der Uni, der ein Jahr vor uns abgeschlossen hat. Der hatte sich ebenfalls hier bei..."

    Er unterbrach sich, als der ältere der beiden Empfangsmänner sich vor ihnen auf ­baute und mit fester Stimme das Wort an ihre Gruppe richtete: „Ich möchte Sie alle bitten, mir zu folgen. Sie werden zur Begrüßung und Information über den weiteren Ablauf nun in einen unserer Sitzungssäle geführt. Ich möchte Sie bitten, sich Ihre auf diesem Tisch hier bereitliegenden Besucherausweise heraus zu suchen.

    Tragen Sie sie stets offen und gut sichtbar an Ihrer Kleidung, solange Sie auf dem Werksgelände sind. Idealerweise befestigen Sie ihn mit dem Clip hier am Brustbereich Ihrer Oberbekleidung. Dies dient primär Ihrer eigenen Sicherheit, denn wie Sie sich gewiss denken können, herrschen hier sehr strenge Sicherheitsvorschriften."

    „Wow, wann haben Sie denn dieses Ausweisbuffet aufgebaut? Hab überhaupt nichts davon mitgekriegt", gab Lothar leise und völlig erstaunt zu.

    „Vor allem sind wir noch keine zwei Minuten angekommen. Wenn alles hier so effizient abläuft..."

    Nick ließ den Satz unvollendet und griff nach seinem Ausweis, dessen Laminierung tatsächlich noch etwas warm vom Herstellungsprozess war. Er besah sich das Farbfoto, das sich tatsächlich als sein Ausweisfoto herausstellte, und war noch beeindruckter über diese kleine logistische Meisterleistung.

    Eine Spur Vorfreude mischte sich unter das Gewirr von anderen Emotionen in dieser besonderen Situation. Es würde sicher toll sein, für diese Firma zu arbeiten, falls er die Stelle bekommen würde.

    Sie durchschritten eine doppelt gesicherte breite Tür, neben der zwei weitere Wachmänner mit Stöcken und Elektroschockern am Gürtel standen. Die Gruppe folgte dicht gedrängt dem autoritär voranschreitenden Empfangsmann zu einer Reihe Aufzugstüren. Nachdem einige Eingaben von ihm getätigt worden waren, hielten parallel zueinander zwei benachbarte Kabinen und nahmen mühelos die gesamte Gruppe auf. Ohne eine weitere Bedienung des Tastenfeldes beschleunigte der Lift spürbar und entließ sie nach kurzer Fahrt wieder.

    Sie befanden sich auf einem langen Gang, der an beiden Enden mit vom Boden bis zur Decke durchgehenden Fenstern sein Ende fand und somit die gesamte Länge des Stockwerks durchmaß.

    Direkt gegenüber war ein breiter zweiflügeliger Eingang, durch den sie geschickt wurden und sich in einem großen Sitzungsraum wiederfanden. Die einzelnen Reihen waren nach vorne hin abschüssig wie in einem Kino oder Theater und endeten bei einem Podium vor einer großen Leinwand. Vor jeder der Reihen befand sich ein durchgehendes Pult wie in einem Vorlesungssaal. Der Raum bot Platz für etwa hundert Leute, sodass sie sich ein wenig verloren vorkamen und sich instinktiv in mehrere Reihen hinten zusammensetzten.

    Lothar kratzte sich seine blonde Bürstenfrisur und wollte leise wissen: „Was meinst du, werden sie uns schlimm in die Mangel nehmen?"

    „Na ja, bei all diesen Privilegien, die dieser Job bietet, werden sie ihn keinem einfach so schenken. Und die Tests sollen so umfangreich sein wie kaum woanders. Du sollst dich wie mit dem Röntgengerät durchleuchtet fühlen, wenn sie hier mit dir fertig sind. Aber keine Sorge, allein schon die Tatsache, dass wir überhaupt eingeladen wurden, bedeutet dass wir bereits in der richtig engen Auswahl sind."

    Nick beendete seine gemurmelten Ausführungen, als sich vorne eine unauffällig in die Wand integrierte Seitentür öffnete und eine Frau Ende zwanzig in einem teuer aussehenden Business Dress und mit einem blonden Pferdeschwanz ans Podium trat. Sie ließ ihren Blick durch eine randlose moderne Brille kurz über die Anwesenden schweifen und bemerkte keck: „Setzen Sie sich doch bitte nach vorne, wir sind hier nicht in der Kirche."

    Nach etwas höflichem Gelächter erhoben sich alle folgsam und nahmen die ersten drei Reihen des Sitzungssaales ein. Sobald sich alle umpositioniert hatten und rasch wieder Ruhe eingekehrt war, fuhr die sehr geschäftsmäßig wirkende Frau fort: „Mein Name ist Andrea Pielau. Ich bin Mitarbeiterin der Personalabteilung mit Fachrichtung Juristik und heute mit der ersten Einweisung beauftragt, was diesen Aspekt des Bewerbungsprocederes betrifft. Ihnen mag das seltsam vorkommen, doch was die Rechtssicherheit betrifft, die mit diesem Prozess einhergeht, versteht die Firma keinen Spaß. Daher werde ich Sie kurz darüber instruieren, was Sie erwartet, wenn Sie die Bewerbung als Mitarbeiter von TransDime durchlaufen werden.

    Wir werden von Ihnen diverse schriftliche Einverständniserklärungen benötigen, damit alle Tests, seien sie medizinischer, psychologischer oder auch anderweitiger Natur, durchgeführt werden können. Das ist unabdingbar, denn TransDime stellt für die Arbeitsplätze, für die Sie sich beworben haben, nur Menschen ein, die bereit sind, sich über alle Maßen für die Firma einzusetzen. Das beginnt bereits bei der Feststellung der Eignung für diese Stellen. Auch werden Sie sich rechtlich bindend dazu verpflichten müssen, keinerlei Details über die Art und Weise unserer Anstellungsverfahren nach außen zu tragen."

    Andrea Pielau sah nach links und präsentierte ihr Profil, während sie zwei im Schatten des schwach erleuchteten Raumes wartenden Assistenten zunickte. Dabei offenbarte sich dem überraschten Nick eine recht große Nase, die man in der Vorderansicht nicht hatte erkennen können, da sie normal breit und völlig gerade war, nur einfach größer als durchschnittlich. Wieder einmal schalt er sich selbst oberflächlich bei der Taxierung der jungen Anwältin, während die Assistenten für jeden einen dünnen Stoß an Formularen austeilten, zusammen mit Stiften.

    „Lesen Sie sich jedes Formular bitte sorgfältig durch; unterschreiben Sie keinesfalls irgendeines davon blind oder ohne es vollständig verstanden zu haben. Sie haben ausreichend Zeit dafür, wir gehen von mindestens einer Stunde aus. Wenn Sie irgendeine Frage haben, egal wie banal oder unpassend sie Ihnen erscheinen mag, zögern Sie dennoch nicht, sie zu stellen. Das wird Ihnen sicher nicht angekreidet werden, soviel kann ich Ihnen versichern." Die Juristin klang durchaus verständnisvoll und sympathisch bei der Abgabe dieser Erklärungen.

    „Wenn Sie eines dieser Formulare nicht unterschreiben wollen, können wir das gut verstehen. Niemand wird hier zu etwas gezwungen. Es geht hier ausschließlich um die international anerkannte rechtliche Absicherung der Firma. Falls Sie sich dazu entschließen, eine Unterschrift unter eine dieser Erklärungen nicht leisten zu wollen, melden Sie sich bitte bei mir. Ihre Bewerbung für eine dieser vier Stellen findet damit dann leider ein Ende.

    Wir werden aber dennoch Ihre Unterlagen aufbewahren und Sie eventuell zu einem späteren Zeitpunkt für eine ähnlich gelagerte Position anfragen, falls dann bei Ihnen noch Interesse bestehen sollte. Das wäre dann mit Sicherheit ein Posten mit weniger Verantwortung und geringeren Aufstiegschancen innerhalb der Firma, aber man kann ja nie wissen, ob der eine oder andere vielleicht auch daran ein Interesse haben könnte.

    Für diese Bewerbung allerdings müssen wir hier und heute sämtliche ausgegebenen Formulare unterschrieben vorliegen haben."

    Leise raunte Lothar Nick zu: „Hast du gehört? Für eine dieser vier Stellen! Also sind es vier freie Plätze!"

    „Ja, schon gut. Lies dir das lieber alles gut durch, das hat sie sicher nicht zum Spaß gesagt." Nick überflog das erste Dokument anfangs, doch nach der Hälfte der Seite setzte eine Ernüchterung bei ihm ein, die ihn dazu bewog, abzubrechen und nochmal von vorne mit Lesen zu beginnen. Nach zehn Minuten war sein Mund staubtrocken und er hatte einen Kloß im Hals.

    Lothar stupste ihn mit dem Ellenbogen an: „Hast du das hier auf Seite drei gelesen?

    Können die so was überhaupt verlangen? Ich meine, ist das rechtlich überhaupt möglich, dass man..."

    Wie aus dem Nichts stand Frau Pielau hinter Lothar. „Sie haben eine Frage, Herr...?"

    Lothar begann leicht zu schwitzen, als er ertappt entgegnete: „Kranach, Lothar Kranach. Nein, ich habe mich nur über diesen Passus hier gewundert. Für mich klingt das so, als ob man einwilligt, gewisse persönliche Freiheitsrechte während den Aufnahmetests..."

    Er wurde leiser und legte der Anwältin seine Bedenken dar, worauf diese sich leicht vorbeugte, um die fragliche Stelle besser sehen zu können. Nick erwischte sich selbst dabei, dass er sie dabei musterte. Sie war viel kleiner als sie vorne am Podium gewirkt hatte, vielleicht eins sechzig und ziemlich dünn. Er schätze, dass sie weder groß Sport trieb noch eine gute Esserin war. Ihre Augen waren ungewöhnlich und wiesen in der Iris ein konzentrisch wechselndes Spektrum aus blau, grau und grün auf, das er so noch nie gesehen hatte.

    Schnell widmete er sich wieder seinen Formularen, bevor sie bemerken konnte, dass er in ihre Augen gestarrt hatte. Nachdem sie leise mit Lothar geredet hatte, ging sie zielstrebig zurück zum Podium, wo sie das Mikrofon einschaltete.

    „Darf ich kurz um Ihre Aufmerksamkeit bitten? Es ist eine Frage aufgekommen, die ich Ihnen allen pauschal beantworten möchte, weil die fragliche Stelle offenbar missverständlich formuliert ist. Einer von Ihnen hat mich auf diesen Sachverhalt aufmerksam gemacht, daher möchte ich gleich mit diesem Missstand aufräumen."

    Sie nickte Lothar wohlwollend zu, worauf dieser mit falscher Bescheidenheit lächelnd zu Boden sah. Nick verdrehte die Augen.

    Nachdem sie den fraglichen Absatz erklärt hatte, standen gleich drei Bewerber auf und verließen ohne ein weiteres Wort mit grimmigen Mienen demonstrativ den Saal, einer zerriss vorher noch effektvoll die ausgehändigten Papiere und ließ sie einfach auf der Bank vor sich liegen. Die anderen sahen sich mit staunend geweiteten Augen an, blieben aber standhaft sitzen und machten sich daran, weiter zu lesen.

    Nick murmelte: „Nachdem, was hier steht, könnte TransDime den Typ, der mir von der Bewerbung erzählt hat, bis auf sein letztes Hemd verklagen, wenn sie erfahren würden, was er mir alles erzählt hat."

    Lothar meinte gespielt großspurig: „Ich hab kein Problem mit dem, was hier steht.

    Man muss auch Opfer bringen können. Und dieser Job ist es mir wert."

    „In der heutigen Zeit bei dem Konkurrenzdruck auf dem Arbeitsmarkt kann man sich glücklich schätzen, wenn man in so einer Firma arbeiten kann. Sie verlangen zwar viel von einem, kümmern sich aber auch um ihre Angestellten. Da ist ein wenig Loyalität wohl nicht zu viel verlangt", stimmte Nick zu und widmete seine Aufmerksamkeit ebenfalls wieder dem Ausfüllen der Einverständniserklärungen.

    Als sie nach einer endlos erscheinenden Zeitspanne alle zu verstehen gegeben hatten, dass sie die Dokumente unterzeichnet hatten, waren noch siebzehn Kandidaten übrig.

    Eine alternativ aussehende linksliberale Kandidatin hatte etwa zur Halbzeit ihrer Sitzung sogar für ein wenig Aufruhr gesorgt, als sie einige Passagen ohne Vorwarnung laut verlesen hatte und Frau Pielau mit den implizierten Konsequenzen dieser ihrer Meinung nach höchst verwerflichen Forderungen konfrontiert hatte. Trotz derer Beschwichtigungsversuchen war die Situation eskaliert und hatte schlussendlich mit einem Eklat geendet. Die lauthals kommunistische Parolen und wüste Beschimpfungen krakeelende 'Bewerberin' musste vom Werkschutz mit sanfter Gewalt aus dem Saal entfernt werden.

    Der Gleichmut, mit dem die Anwältin diesen Vorfall hinnahm, ließ erahnen, dass dies wohl nicht der erste Vorfall dieser Art gewesen sein musste, den sie soeben erlebt hatte. Vielleicht schaffte es ab und zu ein Systemfeind der Großkonzerne, sich bis hin zu diesem Punkt in die Bewerbungsprozesse einzuschleusen. Dafür entschuldigte Frau Pielau sich auch bei den Bewerbern, obwohl sie ja an diesem Vorfall keine Schuld trug.

    Die verbleibenden jungen Männer und Frauen waren nach der ersten kollektiven Verlegenheit nur umso entschlossener, ihre Bewerbungen durchzustehen, nachdem sie sich schon so weit in die Hand ihres potenziellen Arbeitgebers begeben hatten.

    Schließlich konnte sie am Ende niemand dazu zwingen, den Job auch anzunehmen und es würden sicher auch etliche weitere Kandidaten während der Tests ausgesiebt werden oder von sich aus das Handtuch werfen.

    Nach gut anderthalb Stunden stand nun die erste Pause an und sie wurden am vorderen Ende des Saales durch eine Tür in ein Foyer gelotst, das sich eine Etage unter dem Eingang am vorderen Ende des Auditoriums befand. Dort erwarteten sie Gebäckstücke und Getränke sowie eine Obstplatte.

    Leise unterhielten sich Nick und Lothar bei Kaffee und Laugenbrezeln mit Butter.

    Lothar meinte: „Teilweise war das starker Tobak, was sie uns da zur Unterschrift vorgelegt haben. Da fragt man sich doch, was uns hier noch alles erwartet."

    „Ja, sie wollen wirklich todsicher sein, dass sie rechtlich abgesichert sind bei all dem, was sie mit uns während der Tests durchziehen wollen. Nick sah sich um und musterte die anderen verbliebenen Kandidaten verstohlen und abschätzend. „Hast du schon mal so was Ähnliches mitgemacht?

    „Nicht mal im Entferntesten", gestand Lothar nur halbherzig ein und verschlang gleichzeitig eine Brünette am anderen Ende des Raumes derart mit Blicken, dass es fast schon unverschämt war. Sie hingegen nippte lediglich an ihrem Tee und legte einen erstaunlichen Appetit an den Tag, als sie das kleine Buffet am Tisch vor ihr durchkämmte. Sie schien nicht einmal zu ahnen, dass sie derart penetrant beobachtet wurde.

    Nick schüttelte nur den Kopf und fuhr fort: „Wie gesagt, ich habe mich bereits bei sieben anderen Jobs vorgestellt, aber so etwas hatte ich auch noch nie. Wobei das hier natürlich die größte Chance ist, die wir zur Zeit wahrscheinlich bekommen werden. Alle reißen sich um diese Stellen, ohne eigentlich genau zu wissen, was da alles dranhängt."

    „Na ja, so vage war die Stellenbeschreibung nun auch wieder nicht. Betreuung, viel Reisen... allerdings sagen viele, es wäre ein Sprungbrett zu höheren Leistungsklassen in der Firma." Lothar ließ vom Objekt seiner Begierde ab, als er von Nick unsanft angerempelt wurde.

    „Funktionsstufen, nicht Leistungsklassen. Bist du dir wirklich sicher, dass du alles verstanden hast, was du da drin unterschrieben hast? Denn falls nicht..."

    „Schon gut, schon gut, maulte sein Freund, während Nick aus dem Augenwinkel bemerkte, wie die aparte Brünette verschmitzt vor sich hin lächelte. Also hatte sie entweder gerade zufällig an etwas äußerst Amüsantes gedacht oder den unverfrorenen Blickkontakt von Lothar durchaus registriert, sowie auch dessen abrupten Unterbruch. „In der Kurzfassung: sie werden uns so ausführlich in die Mangel nehmen wie möglich und wenn wir auch nur ein Sterbenswörtchen darüber verlieren und sie das spitzkriegen, werden sie noch die Hintern von unseren Enkeln auf deren letzten Eurocent verklagen. Zufrieden?

    „Ja, das sollte es so ziemlich getroffen haben," gab sich Nick zufrieden. Er leerte noch schnell ein Glas Orangensaft und machte sich dann nach einem Blick auf die Uhr auf den Weg zurück zu seinem Platz, mit Lothar auf den Fersen.

    Die Anwältin erschien nicht mehr, dafür eine junge und ebenso geschäftsmäßig gekleidete Frau mit kaffeebrauner Haut und Afrofrisur. Sie verteilte ohne viele Worte und Umschweife individuelle Terminpläne an sie, welche sowohl ärztliche Untersuchungen als auch diverse Testsitzungen zum Ausfüllen von Fragebogen und Interview-Gespräche beinhalteten.

    „Noch diesen und den ganzen morgigen Tag? Das ist aber krass! So viele Testes haben sie ja nicht mal bei der Musterung bei der Bundeswehr gemacht. Was die wohl alles mit uns vorhaben?" Lothar stöhnte leise auf beim Studium des vollgepackten Zeitplans.

    „Tja, sie wollen es eben haargenau wissen, wen sie da einstellen. Nick besah sich das eng beschriebene Blatt mit seinem Namen darauf. „Ich soll zuerst zum Gesundheitscheck.

    „Ich muss einen Testfragebogen beantworten gehen, so eine Art Psychotest. Lothar wandte sich um. „Na dann bis heute Abend. Ich glaube nicht, dass wir uns vorher nochmal über den Weg laufen werden.

    „Dann viel Erfolg, altes Haus." Nick wandte sich um, um den Weg zum Sanitätsbereich zu suchen.

    Die 'Sanitätsstation' dieser TransDime Niederlassung erschien Nick vielmehr wie eine Kombination aus Arztpraxis und Krankenhaus, alles sehr modern und gut aus­gerüstet. Vom Stolperunfall auf einer Treppe bis zu einfacheren Notoperationen konnte hier so ziemlich alles behandelt und durchgeführt werden. Das Personal von der Empfangsdame der Station über die Arzthelfer bis hin zu den Medizinern erschien Nick insgesamt als sehr professionell und versiert. Nun, da Mitarbeiter der Firma zu gewissen Sprechzeiten auch ohne vorliegenden Notfall mit allen erdenklichen Blessuren und Erkrankungen hier unentgeltlich zur Behandlung vorstellig werden konnten, war das wohl auch vonnöten.

    Er musste eine Blut- und Urinprobe abgeben, wurde vermessen, gewogen und von einem Internisten auf seinen allgemeinen Gesundheitszustand untersucht. Der Arzt war hochzufrieden mit seiner körperlichen Verfassung, denn wie sein Freund Lothar war auch Nick sportlich und trainierte regelmäßig, meist Ausdauersportarten, was sich in einem entsprechend athletischen Körperbau zeigte.

    Es folgten ein Sehtest, bei welchem auch seine Farb- und Tiefenwahrnehmung getestet wurden, sowie ein Hörtest. Nach Ausloten seiner Lungenfunktion und einem Ruhe- sowie Belastungs-EKG wurden zudem diverse Röntgenbilder von ihm angefertigt, bevor ihn auch noch ein Dermatologe lückenlos von Kopf bis Fuß unter die Lupe nahm. Dass sie ihn nicht auch noch in einen Kernspintomographen schoben, war wirklich das Einzige, was noch fehlte.

    Als er nach dem Grund für die Hautuntersuchung fragte, sagte ihm der Hautarzt routiniert: „Ach ja, das wundert viele. Es geht nur darum, ob Sie irgendwelche auffällige Muttermale oder Leberflecken haben, die Ihnen eines Tages Probleme bereiten könnten. Außerdem überprüfen wir bei dieser Gelegenheit gleich noch, ob nicht irgendwelche versteckten Tätowierungen auftauchen, die vergessen wurden anzugeben. Wir schreiben schließlich nicht zum Spaß in die Jobausschreibung, dass Sie hier gar nicht erst auftauchen müssen, wenn Sie irgendwo am Körper ein Tattoo haben."

    „Sollte das nicht eigentlich Privatsache sein, ob ich tätowiert bin oder nicht?"

    „Oh, in diesem Fall kann man das nie wissen. Die Firma denkt langfristig, wenn sie Posten wie den, auf den Sie sich bewerben, neu besetzen. Da kann es bei einer künftigen Beförderung schon zum Tragen kommen, dass Sie sich nicht im jugendlichen Leichtsinn derart selbst verunstaltet haben. In ein paar Jahren werden Sie das verstehen, glauben Sie mir."

    „Sie meinen, falls ich dereinst eine höhere Position einnehmen könnte, würde es das Ansehen der Firma beschädigen, falls bei mir irgendwo ein Tattoo herauslugt?"

    Nick konnte nicht glauben, dass diese so modern und tolerant wirkende Firma derart erzkonservative Maßstäbe ansetzen würde, was diesen Punkt anging.

    „Das ist sicher einer der Gründe", meinte der Doktor mit mühsam unterdrücktem Grinsen, während er mit einem Vergrößerungsglas ein Muttermal auf Nicks Schulter in genaueren Augenschein nahm.

    „Welche Gründe sollte es sonst noch haben?"

    Wie beiläufig murmelte der Mediziner, ohne dabei aufzusehen: „Nun, ohne Tattoo erschwert es Ihre Identifizierung, falls man Sie eines Tages aus dem Rhein herausfischen sollte... oder der Ostsee."

    Nick quollen fast die Augen aus dem Kopf. „Wie bitte?"

    „Ja, Sie werden doch viel reisen müssen in diesem Job, hat man Ihnen das nicht gesagt?" Verschwörerisch blickte der Arzt ihn durch seine dicke Brille an.

    „Das meinte ich doch nicht..."

    Unbeirrt fuhr der Dermatologe fort: „Oder nehmen Sie nur konspirative Zusammenkünfte. Wir haben als internationaler Konzern ja immer wieder mal mit den Russen zu tun. Die treffen sich gerne in der Sauna zu informellen Geschäftsbesprechungen. Ist so ein nostalgisches Überbleibsel aus dem kalten Krieg. Die Hitze und die hohe Luftfeuchtigkeit in einer Sauna machen jedem elektronischen Abhörgerät in kürzester Zeit den Garaus. Deshalb fühlen sich die werten Herren dort sicherer, was Abhörversuche angeht.

    Wenn Sie demnach mit einer Horde Russen in der Sauna sitzen, hilft es immens, wenn Sie keine dauerhaften Merkmale haben, wie es so schön auf dem Personalausweis steht. Auch das erschwert Ihre spätere Identifizierung von konkurrierenden Unternehmen."

    „Sie... WAS? Sie verscheißern mich doch!"

    „Der angemessene Terminus ist auf den Arm nehmen, aber Sie haben völlig recht."

    Breit grinsend beendete der verschrobene Arzt seine Rundum-Untersuchung.

    „Sie... Sie haben eine seltsame Art von Humor." Nick rang immer noch um seine Fassung.

    „Bringt der Beruf mit sich. So, fertig." Er gab Nick einen ebenso gutgemeinten wie unangemessen vertraulichen Klaps auf den Hintern, bevor dieser seine Kleidung an sich nehmen konnte.

    Das war wirklich eine merkwürdige Begebenheit gewesen. Aber es sollte noch seltsamer werden.

    Frankfurt am Main, Bahnhofsviertel - Bewerbung Tag 1

    Abends traf sich Nick im Hotel mit Lothar, der den ganzen Tag über zu jeweils einer anderen Zeit an einer anderen Stelle des weitläufigen Werksareals beschäftigt gewesen war, ganz wie von ihm vorhergesagt. Deshalb hatten sie TransDime nach Beendigung ihres ersten Bewerbungstages auch getrennt verlassen und sich nun zum Abendessen im Restaurant ihres renommierten 5-Sterne-Hotels direkt neben dem Hauptbahnhof verabredet.

    „Mann, was für ein Tag! So hat man mich noch nie durch die Mangel gedreht, da bin ich mir sicher!", stöhnte Lothar und ließ sich schwer auf einen Stuhl am Tisch fallen, an den sich Nick erst vor wenigen Minuten gesetzt hatte.

    „Und das war erst der erste Tag. Die richtig üblen Tests und Interviews kommen erst noch, hat mir einer der Bewerbungsbetreuer im Vertrauen gesagt, nachdem ich den letzten Test heute geschafft hatte. Den ganzen Vormittag ärztliche Untersuchungen und den Nachmittag über diese Persönlichkeits-, Wahrnehmungs- und Psychotests. Mir brummt der Schädel vom stundenlangen Starren auf diese Monitore.

    Nicht mal ein einziger Test war auf Papier, alles mit diesen Touchscreens." Auch Nick wirkte deutlich gezeichnet von den Strapazen dieser Prozeduren.

    „Offenbar haben wir heute beide das gleiche erlebt, nur zeitlich versetzt. Sie haben wohl bereits mit dem Aussieben begonnen, nachdem was ich so mitbekommen habe. Das wirst du mir nicht glauben, was mir der Hautarzt ganz am Schluss erzählt hat..." begann Lothar eifrig.

    Nick stöhnte auf: „Oh Mann, Der Typ! Bei mir hat er einen echt üblen Sinn für Humor an den Tag gelegt."

    „Hast du ihn auch wegen der Tätowierungen gefragt? Offenbar hat das fast jeder.

    Interessant, nicht wahr? Und wie ihm herausrutschte, haben sie heute vier der Kandidaten allein deshalb heimgeschickt, weil sie tatsächlich nicht angegebene Tattoos an versteckten Stellen hatten, die er natürlich bei der Untersuchung gefunden hat."

    Er beugte sich vor und raunte Nick grinsend zu, damit die Tischnachbarn es nicht mitbekamen: „Er hat sogar behauptet, dass eine der weiblichen Bewerberinnen ihm ein eindeutiges Angebot gemacht hat, damit er sie trotz Tattoo durch die Untersuchung schmuggelt."

    Trocken entgegnete Nick: „Wenn sie ohnehin schon splitterfasernackt vor ihm stand, hat sich das doch angeboten. Und, hat er sich darauf eingelassen?"

    „Ich glaube nicht. Es ist übrigens die knackige Blondine, die da hinten heulend an der Bar sitzt." Unauffällig nickte Lothar über die Schulter, wo tatsächlich eine der ebenfalls hier einquartierten Kandidatinnen völlig aufgelöst mit dem Profil zu ihnen an der langen Bar aus Stahl und Glas Platz genommen hatte und ihren offensichtlichen Kummer in einem Cocktail ertränkte. Von seinem Platz aus konnte Nick deutlich erkennen, weshalb Lothar ihr das Adjektiv 'knackig' verpasst hatte. Alles inklusive ihrer hellen Lockenmähne musste in diesem Ambiente hier wie Licht auf Motten wirken. Dass sie ihre sittsame, professionelle Bewerbungskluft gegen ein schwarzes Minikleid eingetauscht hatte, unterstrich diesen Eindruck zusätzlich.

    „Hui, ob sie getröstet werden muss?", fragte sich Nick leise.

    „Von dir? Eher nicht!" mische sich Lothar sofort ein.

    Beleidigt erwiderte er darauf: „Von dir aber genauso wenig. Überleg doch mal, wenn dir der Traumjob wegen so einem Mist durch die Lappen gegangen ist und du diesen Job so verzweifelt wolltest, dass du dafür sogar deinen Körper einem fiesen alten Sack angeboten hast..."

    Als er den Satz im Raum stehen ließ, seufzte Lothar. „Ja, hab schon kapiert, dann will sie ganz bestimmt nicht von einem, der noch Aussichten auf den Job hat, auch noch getröstet werden."

    „Du bist ja ein echter Schnellmerker", lobte Nick und grinste breit.

    Als der Kellner kam, bestellten sie sich beide ein teures T-Bone-Steak mit reichlich Beilagen und einen guten Tropfen dazu, um das Überstehen des ersten Tages zu feiern, ohne jedoch dabei über die Stränge zu schlagen. Da die gesamten Hotelkosten von TransDime übernommen wurden, schien ihnen das durchaus angemessen, wie sie beim sich Zuprosten feststellten.

    Als sie gerade dabei waren, ihre Rindfleischknochen von deren Fleisch zu befreien, betrat noch ein Gast das Restaurant. Nick musterte sie und brauchte einen Moment, um sie wieder zu erkennen. Kauend meinte er: „Dreh dich nicht um, da kommt noch eine aus dem Bewerberprogramm."

    Selbstredend missachtete Lothar sofort seine Anweisung und verdrehte den Hals mitten während des Kauens, um eine Frau in etwa ihrem Alter, etwa eins sechzig groß und mit langem brünetten Haar in einem roten weiten Sommerkleid zu erblicken. Nick konnte deutlich sehen, wie sich Lothars Pupillen weiteten, als sei er auf einem LSD-Trip. Zum Glück hatte er sich derart unmanierlich den Mund mit toter Kuh vollgestopft, dass er im Moment zu keinerlei Kommentar fähig war. Was Nick noch ein paar Sekunden mehr gab, um sie in Ruhe zu mustern.

    Unter dem Saum ihres Kleides lugten Sandaletten hervor, während sie mit federnden Schritten die Bar ansteuerte. Sie machte den Eindruck einer sehr sportlichen, fast schon athletischen Frau in Hochform. Auch ihr relativ breites Becken konnte das nicht kaschieren, denn beim Gehen zeichneten sich stramme Waden und kräftige Oberschenkel unter dem Kleid ab. Davon abgesehen und von den fast hüftlangen Haaren, welche sie mit einem ebenfalls roten Band aus der hohen Stirn hielt, wirkte ihre Figur nicht allzu feminin.

    Vor allem nicht im direkten Vergleich mit der Blondine an der Bar, auf die sie nun zusteuerte und ein Gespräch mit ihr begann. Inzwischen hatte Lothar leider seinen üppigen Bissen heruntergeschluckt und murmelte: „Mann, was für eine Klassefrau."

    „Findest du?" gab Nick zurück.

    „Tja, du hast sie nicht in Unterwäsche gesehen, so wie ich. Sie hat nicht all zu viel, aber alles knackig und an den richtigen Stellen. Und ihr Fahrgestell..."

    „Erstens: du bist ein Schwein. Und zweitens, wo willst du sie in Unterwäsche gesehen haben?"

    „In der Krankenstation, vor der allgemeinen Untersuchung. Franziska Herrschel heißt sie. Sie war direkt neben mir, nur durch so einen Vorhang getrennt, der nicht vollständig zugezogen war. Leider hat sie das bemerkt, kurz nachdem sie sich die Bluse ausgezogen hat", erklärte Lothar sich.

    „Und dann?"

    „Hat sie mich ein Schwein genannt und den Vorhang vorgezogen."

    „Siehst du, da hast du eine zweite Meinung. Du bist ein Schwein." Genüsslich grinsend nippte Nick an seinem Wein.

    Jovial überging Lothar seine Bemerkung. „Jedenfalls hättest du sie sehen sollen. Die hat's faustdick hinter den Ohren, sag ich dir. Nachdem, was ich so von den Tests mitbekommen habe, ist sie topfit. Beim Belastungs-EKG hat sie Spitzenwerte abgeliefert, hat der Arzt zu ihr gesagt."

    „Hast du sie etwa gestalkt?"

    Lothar winkte ab: „Als ob ich das gemusst hätte, so nah wie die einzelnen Stationen der Tests in der Krankenstation beieinander liegen." Unverschämt grinste Lothar ihn an und steckte sich das nächste, viel zu groß geschnittene Stück Fleisch in den Mund.

    Sie wurden abgelenkt, als es an der Bar laut wurde. Es schienen einige unschöne Worte zwischen der Blondine und Franziska zu fallen, dann stieß die Blondine ihren Barhocker laut polternd um und floh förmlich aus dem Raum, mit vor das Gesicht gehaltenem Arm, als wäre sie in Tränen ausgebrochen. Zurück blieb eine sichtlich ungerührte Franziska. Sie besah sich die Szene kurz, bemerkte den sie anstarrenden Barkeeper und stellte achselzuckend den Hocker wieder auf.

    „Was war das denn?", fragte Nick sich.

    „Da sind sich wohl zwei in die Haare geraten. Lothar unterbrach seinen genuschelten Kommentar und drehte sich schnell wieder um. „Oh shit, sie hat uns gesehen.

    „Was heißt uns? Hm, ich glaube, sie kommt hierher", informierte Nick seinen Freund ein wenig schadenfroh, als dieser leicht blass wurde bei dieser Aussicht.

    Noch bevor er die Chance hatte, etwas zu sagen, fiel bereits ein Schatten über Lothar, worauf er sich umdrehte und etwas verdutzt sagte: „Oh, hallo."

    „Wenn das nicht das Schwein aus der Krankenstation ist. Lothar Kranach. Ich sehe, ihr lasst es euch schmecken." Nick fiel sofort auf, dass sie im Kontrast zu ihrem recht aparten Äußeren keine sehr wohlklingende Stimme hatte, eher leicht näselnd.

    Ihre Augen indes waren so tiefblau, wie man es sich nur vorstellen konnte.

    „Ja, danke. Willst du auch hier etwas essen?" Nick war bemüht, die peinliche Situation zu entschärfen und schob einen Stuhl einladend zurück. Lothar fielen fast die Augen aus dem Kopf und er schüttelte nur so unmerklich es ging den Kopf.

    „Nein, danke. Ich möchte mich nicht mit anderen Kandidaten verbrüdern, bei denen das Weiterkommen nicht feststeht. Wenn einer von euch eine der anderen freien Stellen erhält, können wir gerne mal zusammen in der Kantine Mittag essen. Bis dahin verzichte ich lieber."

    Als sie dieses nüchtern abgegebene Statement beendet hatte und sich ohne weitere Umschweife zum Gehen umwandte, fiel Nick noch ein weiterer Kontrast auf. Von vorne betrachtet wies sie breite Kieferknochen, einen schmallippigen Mund und relativ dichte Augenbrauen auf. Ihr Profil hingegen mit einer perfekt proportionierten Nase, dem leicht kräftigen Kinn und dieser Wangen- sowie Mundpartie war das einer griechischen Göttin und gehörte trotz des hohen Haaransatzes eigentlich auf einem Gemälde, einer Büste oder einer Münze verewigt.

    Nachdem Nick diese ersten Eindrücke auf sich hatte wirken lassen, fragte Lothar leise: „Ist sie weg? Ich glaube, ich habe einen leichten Herzinfarkt erlitten."

    „Ich dachte, mit deiner Pumpe ist alles in Ordnung? Wurde doch erst getestet."

    Wieder musste Nick grinsen angesichts der Wirkung, welche diese Frau offenbar auf seinen Freund ausübte.

    „Ja, sehr witzig! Oh Mann, wie eiskalt sie uns hat abblitzen lassen! Ohne mit der Wimper zu zucken. Ihre Augen sind wie Gletscher. Mir ist heiß und kalt zugleich geworden, Mann." Lothar drehte sich verstohlen um und erhaschte noch einen kurzen Blick, wie sie ohne sich nochmals umzusehen, aus dem Restaurant verschwand.

    „Bist du sicher, dass sie ein Herz hat? Ich meine, hast du es schlagen hören während ihres EKGs?"

    „Du findest dich immer so irre komisch, weißt du das? Aber immerhin weiß sie noch meinen Namen. Wow!" Er blickte leicht verträumt über seine Schulter hinweg.

    „Ja, du hast echt einen bleibenden Eindruck hinterlassen bei ihr. Und wie praktisch sie denkt. Sie will uns nicht in ihr großes Herz schließen, damit der Verlust für sie nicht so groß ist, sollten wir es nicht schaffen.

    Kannst du dir diese Frau bitte aus dem Kopf schlagen, damit wir hier abhauen können? Dein Faible für dich abweisende Frauen in allen Ehren, aber wir haben morgen einen langen Tag vor uns." Nick schob seinen Stuhl vielsagend ein Stück zurück.

    „Können wir nicht wenigstens noch einen kleinen Absacker an der Bar nehmen?

    Nach dieser Begegnung brauch ich noch was Härteres, glaube ich." Mit flehentlichem Blick nickte Lothar in Richtung Tresen.

    „Ich finde, wir sollten nichts mehr trinken, wenn es morgen so weiter geht wie heute. Da müssen wir in Spitzenform sein.", gab Nick erneut zu bedenken.

    „Ach komm schon, ich bin immer topfit, widersprach Lothar, „außerdem haben wir die medizinischen Tests doch schon hinter uns. Wenn wir morgen früh noch eine Blutprobe abgeben müssten, hätte ich ein Einsehen, aber so...

    „Und wer sagt dir, dass sie morgen früh nicht noch eine Probe von uns wollen? Als Betaprobe, falls man das so nennt. Um zu sehen, wer den Stress von heute nicht gemeistert hat und sich hat volllaufen lassen. Oder um zu sehen, wer ein generelles Alkoholproblem hat." Neckisch musterte er Lothar mit gespielt unschuldigem Blick.

    „Betaprobe? Das hast du doch gerade erst erfunden! Aber hast ja recht. Du bist echt mein gutes Gewissen, Mann." Großzügig abwinkend stand sein Freund auf und verließ mit ihm den Barbereich.

    Sie fuhren mit dem Lift in ihre Etage, wo sie nur zwei Türen auseinander logierten.

    Nick meinte: „Dann mach nicht mehr zu lange und schlaf dich gut aus, okay? Morgen wird sicher ein harter Tag und dazu noch einer, der den Rest deines Berufslebens entscheiden könnte."

    Lothar erwiderte nochmals mit matter Stimme: „Hast ja Recht. Dann morgen früh um acht in alter Frische am Frühstücksbuffet unten, okay?"

    „Ja, bis dann. Gute Nacht." Nick schob seinerseits die Türschlosskarte in den Entriegelungsschlitz und öffnete seine Zimmertür. Kaum hatte er die Schuhe ausgezogen und die Fernbedienung für den Fernseher in der Hand, fiel sein Blick auf das Beistellschränkchen neben dem TV.

    Etwas dämmerte ihm. Lothar hatte auffällig schnell nachgegeben, was überhaupt nicht zu ihm passte bei Trivialitäten. Normalerweise nörgelte er herum wie ein Kleinkind, wenn er in dieser Hinsicht seinen Willen einmal nicht bekam. Nick hatte schon oft genug nachgegeben bei solchen Nichtigkeiten, weil ihm für gewöhnlich die Zankerei darum nicht die Mühe wert war.

    Nick nahm seine Zimmertürkarte, ging in Socken wie er gerade war, zwei Türen weiter und klopfte laut vernehmlich an. „Ich bin's. Mach auf!"

    Nach ein paar Sekunden öffnete sich tatsächlich die Tür, worauf Nick sich wortlos an ihm vorbeischob. Lothar setzte zu einem Protest an. „He, was soll das? Was..."

    Nick warf einen Blick auf den Beistelltisch im Zimmer, auf dem eine offene Dose Bitter Lemon aus der Minibar stand, ein Glas mit besagtem Softdrink darin und eine kleine Flasche Wodka, welche ebenfalls leer war.

    „Aha, Wodka Lemon, der Klassiker unter den Absackern, was?" Vorwurfsvoll musterte er seinen alten Freund. Danach musste dieser mit schuldbewusster Miene zusehen, wie sein Longdrink ins Bad getragen wurde.

    „He, komm schon, das ist doch kein Beinbruch. Du weißt doch, dass ich gut geschmiert genauso gut laufe wie... he!" Fassungslos sah er zu, wie sein Betthupferl im WC verschwand und Nick, sobald er das nun leere Glas abgestellt hatte, eine Tüte aus dem Spender für Hygienebeutel herauszog. Damit marschierte er schnurstracks zum Kühlschrank, der sich hinter der kleinen Holztür des Beistelltisches verbarg.

    Als er ihn öffnete und damit begann, alles an alkoholischen Getränken einzusacken, was er darin vorfand, begann Lothar zu jammern: „Ach, komm schon! Was kann ein kleiner Drink um diese frühe Zeit schon ausmachen?"

    „Den Unterschied zwischen Anstellung und Nichtanstellung, bei diesen strengen Kriterien, die bei TransDime angewendet werden. Und jetzt hör auf, dich wie ein Baby anzustellen. Da ich deine Disziplin kenne, oder besser den Mangel daran..."

    Nick war bereits auf dem Flur, als Lothar ihn einholte. Er packte ihn am Arm und hielt ihn fest, worauf die Miniatur-Alkoholfläschchen laut aneinander klirrten.

    „Ich bitte dich, Nick, ich bin ein erwachsener Mann! Du kannst mir doch nicht verbieten, mir noch ein Tröpfchen zur Entspannung zu gönnen, bevor ich mich ins Bett lege und..."

    Direkt hinter ihnen war die Tür zu dem Zimmer, das zwischen ihnen lag, aufgegangen. Zu Lothars maßlosem Entsetzen schaute ausgerechnet Franziska missmutig um die Türkante herum.

    „Was veranstaltet ihr denn für einen Lärm hier? Seid gefälligst leise, ihr seid nicht allein hier im Hotel. Schlimm genug, dass ich zwischen euch beiden Chaoten einquartiert bin, jetzt stört ihr auch noch die Nachtruhe!"

    Lothar war auf der Stelle völlig sprachlos und ließ verdattert die Tüte los, worauf die Fläschchen erneut gut hörbar gegeneinander stießen. Sofort richtete sich Franziskas Blick auf die Tüte und bohrte sich dann in Lothars Augen. „Hast du etwa ein Alkoholproblem?"

    „IIIIICH?! Völlig entgeistert trat er zwei Schritte von Nick zurück. „Nein, keinesfalls! Es ist nicht so, wie es aussieht. Und...

    „Na, wie es aussieht, weiß ich jedenfalls. Und wie es ist, will ich gar nicht wissen!"

    Sie trat einen Schritt hinaus, worauf ein hellblauer Seidenpyjama sichtbar wurde.

    Sofort war Lothar wieder hellwach und verhielt sich wie ein hypnotisiertes Kaninchen. Sie indes wandte sich an Nick und erwiderte beinahe hochnäsig: „Habe ich ein Glück, dass ihr beiden Profis morgen um diese Zeit nichts mehr mit TransDime zu tun haben werdet."

    „He, woher willst du das wissen? Bilde dir da mal nur nicht zu viel ein." Nick wurde ein wenig sauer angesichts ihrer unverschämten Unterstellung.

    „Ich schließe das nur aufgrund dessen, was ich heute von euch beiden gesehen habe. Sie wandte sich noch einmal um zu Lothar: „Und wenn du mich mit Blicken wieder angezogen hast, würde ich jetzt endlich gerne ins Bett gehen. Mit einem lauten Knall schlug sie die Tür zu.

    Nick grinste breit und flüsterte: „Oh Mann, du bist so was von gestorben für sie!"

    Lothar strich sich verzweifelt durch seine blonde Haarbürste: „Ich und ein Alkoholproblem? Ha! Dass ich nicht lache! Ich würde vielleicht noch eines bekommen, wenn ich die als Arbeitskollegin vorgesetzt bekommen würde!"

    „Die Zimmertüren sind übrigens dünn wie Pappe, erschallte Franziskas Stimme aus ihrem Raum. „Was glaubst du wohl, warum ich überhaupt raus gekommen bin?

    Während Lothars Gesichtszüge nun völlig entgleisten, hielt sich Nick die Hand vor den Mund und versuchte verzweifelt, nicht schallend loszulachen: „Haha, sie hat das gehört, Mann. Jetzt bist du nicht nur für sie gestorben, sondern auch begraben."

    „Weißt du was? Du kannst mich mal gernhaben." Zornig fixierte Lothar seinen Freund.

    „Hab ich doch. Gute Nacht!" Nick zog sich nach diesem flapsigen Disput in sein Zimmer zurück und stellte nun doch noch den Fernseher ein, um noch irgendwelche Nachrichten sehen zu können.

    Was ihm nicht in den Kopf gehen wollte, war die Tatsache, wie diese junge Dame sich auf diesen Job bewerben konnte, bei dem man einen guten Umgang mit unbekannten Menschen haben musste. Entweder war sie komplett schizophren und legte während den Tests ein völlig anderes Benehmen zu Tage, was er sich aber beim besten Willen bei ihr nicht vorstellen konnte. Diese Tests offenbarten das wahre Wesen von wirklich jedem, da konnte sie sich noch so gut verstellen.

    Oder hatten sie bei TransDime etwas in ihr entdeckt, ein Potential oder Talent, das ihm bei diesen wenigen kurzen Begegnungen mit ihr bisher verborgen geblieben war? Ansonsten wäre sie doch schon längst aussortiert worden mit dieser Attitüde.

    Er warf sich aufs Bett und ließ sich noch ein wenig vom Fernsehprogramm berieseln, bevor er sich bettfertig machte.

    Colin Kardon grübelte noch über seinen Unterlagen, als sein Assistent Ingo Willfehr das Büro betrat. „Wollen Sie nicht langsam Feierabend machen, Chef?"

    „Gleich, Ingo. Ich habe mir vorhin die Videoaufzeichnungen diverser Interviews und Tests angesehen; die Dinge jedenfalls, die man mir zur Ansicht vorgeschlagen hat. Wir haben eine Handvoll sehr vielversprechender Subjekte dabei. Ich bin recht zuversichtlich, dass wir alle Stellen besetzen können werden, sogar noch mit ein paar Bewerbern an Überhang. Das Selektionsverfahren bewährt sich wieder einmal." Er rieb sich den Nasenrücken und schloss die Augen in einer Geste der Erschöpfung.

    „Haben Sie schon ein paar Leute in der engsten Auswahl?"

    „Ja, doch es fehlen noch zu viele Tests, um sicher sein zu können. Im Prinzip könnten wir bereits jetzt alle nehmen, die noch übrig sind, mit nur geringem Restrisiko.

    Aber wir wollen eben wie immer die Besten und Geeignetsten haben. Keiner von ihnen weiß, was tatsächlich in ihnen steckt. Es wird unsere Aufgabe sein, das aus ihnen heraus zu holen."

    Willfehr nickte ernst: „Ein schwieriges Unterfangen."

    „Meistens. Wenigstens haben alle, die noch im Rennen sind, eine ausreichende Empfänglichkeit für die subliminare Suggestionskonditionierung an den Tag gelegt, die wir brauchen. Es wäre schließlich unmöglich, alles an Informationen auf herkömmliche Weise zu vermitteln, ohne dass die Hälfte von ihnen sofort das Weite suchen würde. Die restlichen Tests morgen werden spezifischer sein und uns zeigen, wer von ihnen für uns in Betracht kommt."

    Willfehr nickte wissend und fügte hinzu: „Wir ersparen uns vieles an Zeit und Mühen durch diese Art der unterschwelligen Beeinflussung. Und nach den ersten Jahren brauchen sie die Behandlungen ohnehin nicht mehr, wenn alles in ihrem Unterbewusstsein sitzt."

    Nun fuhr Kardon seinen PC herab und erhob sich von seinem Sitzplatz. „Die Veranlagung haben alle, sie ist nur mehr oder weniger unter gesellschaftlichen Konventionen und den Wurzeln ihrer Herkunft begraben. Bis auf einen spezielleren Fall, da werden wir nicht so tief graben müssen, um das freizulegen, was wir benötigen. Ich hoffe nur, die betreffende Person besteht die Tests morgen ebenso bravourös wie dies heute der Fall war."

    „Hm, aber was ist mit diesen Ergebnissen von ihr?" Willfehr hatte einen Blick auf den betreffenden Testbogen geworfen, den sein Vorgesetzter ihm hingehalten hatte.

    Beim Hinausgehen wies Kardon ihn an: „Ignorieren Sie das; wir müssen sie ja nicht als Kindertagesmutter beschäftigen. Das bekommen wir schon hin. Gute Nacht, Ingo, bis morgen."

    Sein Assistent verschloss hinter ihm die Bürotür und gab den elfstelligen Sicherheitscode für die Nachtsicherung ein. Man hörte ein leises Zischen, als sich sechzehn Riegel von allen vier Seiten hydraulisch getrieben vom Rahmen in die gepanzerte Tür schoben und einen Einbruch in das Büro damit beinahe unmöglich machten.

    Davon abgesehen wurden sowohl die Tür als auch das Büro selbst ständig video- und sensorenüberwacht. Sollte jemand auf die Idee kommen, sich Zutritt verschaffen zu wollen, so hätte er nur neunzig Sekunden Zeit, bis ein Dutzend Sicherheitsleute vor Ort sein würden. Diese würden dann allerdings eine Weile warten müssen, bis sich das nicht atembare Gasgemisch, mit dem sich der Raum bei einem unbefugten Eindringen genauso wie bei einem Brand automatisch füllen würde, wieder verflüchtigen würde.

    Dieser Raum hatte seine Geheimnisse.

    Und diese wurden sorgfältig gehütet.

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    Frankfurt am Main, TransDime Zentrale - Bewerbung Tag 2

    Am nächsten Morgen fanden sie sich nach einem ausgiebigen Frühstück im Hotel

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