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Dürre Engel
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eBook302 Seiten4 Stunden

Dürre Engel

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Über dieses E-Book

Ungarn, eine Kleinstadt in den 1980er-Jahren, die Zeit des Gulaschsozialismus. Die 40-jährige Volksschullehrerin Lívia wartet nach einem Herzinfarkt im Krankenhaus auf ihren Prozess – sie hat ihren Ehemann Öcsi im Affekt erstochen. In der Rekonvaleszenz geht sie der Frage nach, wie es so weit kommen konnte, was zu der Tat geführt hat, an welchem Punkt ihr Leben völlig aus der Bahn geraten ist. Ihre Erinnerungen sind wie Glasscherben, der verzweifelte Versuch, Bruchstücke ihrer Vergangenheit zu sammeln und zu retten. Und so erzählt sie in Rückblenden, wie sie ihren Mann, den vielversprechenden Athleten, kennenlernte, wie sie ihn als Jugendliche ihrer Freundin Kati ausspannte und bereits als Studentin geheiratet hat, wie seine Eifersucht und ihre Kinderlosigkeit die Beziehung immer stärker belastet und schließlich in verbaler und körperlicher Gewalt endet, die beide, Mann und Frau, ertragen müssen. Noémi Kiss entwirft ein faszinierendes Bild vom ungarischen Alltag kurz vor Ende des Sozialismus bis in die erste Zeit nach der Wende. In ihrer gewohnt lyrischen, doch zugleich gnadenlos direkten Sprache lässt sie die Protagonistin Rückschau auf ihr Leben halten und in beeindruckender Offenheit ihre Tat schildern sowie die Umstände, die sie dazu gebracht haben. Dabei werden zahlreiche gesellschaftliche Fragen angesprochen, von Liebe über Leiden, Kinderlosigkeit, Ausbildung, Erziehung bis hin zu sexueller Freiheit und häuslicher Gewalt. Ein großartiger Roman einer aufstrebenden ungarischen Autorin.
SpracheDeutsch
HerausgeberEuropa Verlag
Erscheinungsdatum2. März 2018
ISBN9783958902060
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    Buchvorschau

    Dürre Engel - Noémi Kiss

    EIN WENIG BLUT KOMMT MANCHMAL VOR

    Ein Krankenhaus, ich liege seit Langem dort, mein Bett steht am Fenster, den Ellbogen schlage ich mir manchmal am Heizkörper an. Aus der Stadt kann man mit der S-Bahn hierherfahren. Es leuchtet von Weitem wie eine Lichterkette am Weihnachtsbaum, freundlich, warm. Aus der Lüftung dampft der Geruch angesengter Haut, Dünste von Schweiß. Gelb verglaste Balkone umgeben den sechsstöckigen Plattenbau. Er ist mitten in einer Einöde hochgezogen worden, von Arbeitern längst vergangener Zeiten. Nah an der Station, damit man nicht lang zu Fuß gehen muss. Für den, der ein Bein gebrochen hat, dem eine Niere fehlt, der am Kiefer operiert werden muss, oder für die Frau, die gerade kommt, um ihr Kind auf die Welt zu bringen, zieht sich der Weg dennoch ewig. In dem weitläufigen Park sprießen die Spiersträucher, ein paar grüne Zweige kämpfen sich durch die schwarze, nasse Erde. In der Nacht ist dies das Gebiet der Blindmäuse, die riesige Hügel hinterlassen, sich quer durch den Garten graben. Es ist ein gutes Gefühl, an diesen Ort zu kommen. Tief einzuatmen. Als ich wegen meines Herzens hierhergebracht wurde, schien mir das noch ganz unmöglich, ich freute mich, wenn ich es nach der Visite bis zur Betonbank schaffte. Nach einem Infarkt lassen sie einen nicht aus dem Krankensaal, dann konnte ich doch gehen, sie kümmerten sich nicht mehr um mich. Die Wochen vergingen, ich kam zu Kräften. Es traten der Reihe nach neue Krankheiten auf, vorerst bleibe ich. Bald, wenn ich wieder gesund bin, werde ich zwischen dem ungemachten Bett und den sich im Frühlingswind wiegenden Zweigen hin und her laufen. Ich mag diesen Weg, selbst dann, wenn mir das Laufen manchmal schwerfällt, hier fällt einem alles schwer, sogar das Atmen.

    Ich habe einen Mord und eine Ehe hinter mir, aber die Verhandlung wurde vertagt. Die Uhr der Behörde war stehen geblieben, dabei hatte ich in den ersten Wochen noch aufgeregt auf einen Brief gewartet. Dann lag ich wie erstickt in meinem Kissen versunken. Ich kam nicht einmal in Untersuchungshaft, vor allem, weil ich krank geworden war. In einer Zelle hätte ich wirklich ein schönes Bild abgegeben, ein Bündel, an den Nägeln kauend. Es wurde mir ein Anwalt bestellt, aber der kommt auch nur selten, ruft eher an. So kann ich mich in dem Krankensaal verstecken, hier habe ich einen Platz, mein Laken ist immer warm. Sitze da und erinnere mich. Baue mir ein Nest mitten auf dem Eisenbett, bohre mit der Faust eine Kuhle und flattere auf. Wenn es mir im Kreuz sticht, dann stopfe ich mir das Kissen in den Rücken. Gestern ist mein Fieber nicht gestiegen. Glassplitter, ich setze sie zusammen, sie zerkratzen, sie kitzeln mich. Sie sind wie meine Gedanken, ich schlafe gern mit ihnen ein.

    Als die Sträucher gewachsen waren, hüllte sich der Spierstrauch in weiße Blütenpracht, ich ging gern zwischen den engstehenden Büschen hindurch, die Zweige schnitten mir in die Haut, die Stellen wurden rot. Ich kratzte sie auf mit den Fingernägeln, es juckte. Aus dem Fenster des Krankensaales betrachte ich die Weite oder gehe dazu heimlich auf das Dach. Hinter dem Krankenhaus liegt Niemandsland, hier endet die Stadt, hier endet das Leben. Ich sehe die leere Äderung der Landschaft, wie die zerstückelte Wiese aufbricht, die gelbe Erde in der Dämmerung unter den roten Wolken verschwindet. Durch das Fenster dringt der Geruch von feuchter Erde, wenn der Wind von den Feldern her weht. Ich sehe mir das Nichts gern von hier oben an.

    Jemand durchbricht plötzlich das Bild, rennt über den Hügel, keucht. Stolpert in einer Kuhle und fällt hin. Ein paar streunende Hunde jagen einer läufigen Hündin nach, bellen, heulen. Zigeuner beim Schrottsammeln, Kinder laufen mit Stöcken den Horizont entlang, oder es kommen Pilzsammler mit Plastiktüten. Auch Schneckensammler habe ich einmal gesehen. Es kam vor, dass ich wegen der Migräne tagelang kaum bei mir war, dann hüllte sich die Erde in Nebel. Im Garten des Krankenhauses stehen schön sorgfältig in eine Reihe gepflanzt Thujen, Tannen und Akazien, am Ende des Gehwegs die Fenster des Schwesternwohnheims mit grünen Kunststoffvorhängen.

    Endlich lerne ich die lange Glückseligkeit der Krankenhäuser kennen. Die Ruhe der Behandlungszimmer, die mich als Kind so verstört und zum Weinen gebracht hat, gibt mir jetzt plötzlich starken Halt. Der Morgenmantel aus dem Krankenhaus verdeckt die Narben. Seit dem Tod meines Mannes suchen mich immer öfter Wesen auf. Sie schlüpfen in meinen Kopf und toben. Einmal haben sie sogar gerufen: Was hast du mit deinem Mann gemacht, du alte Schlampe? Oder: Na, was ist, hast du die Hosen voll, du dumme Gans? Nimm das Messer! Stich zu! Töte ihn!

    Nachts, wenn ich nicht einschlafen kann, lehne ich oft am Fensterbrett. Schaue zu, wie in dem Schwesternwohnheim neben uns die jungen Frauen im ersten Morgengrauen duschen. Schatten wiegen sich hinter dem Milchglas, Schenkel und Brüste zeichnen sich ab, Hände zwischen den Beinen, Finger an den hängenden Busen und in den Mündern, der Dampf zieht durch den Spalt neben dem Fenster, manchmal spritzt sogar Wasser hinaus, die ganze Wand ist nass. Sie waschen sich gegenseitig den Rücken, lachen laut und rufen, ich mag es, wie sie auf dem Waschbecken sitzend in aller Ruhe rauchen. Danach machen sie sich auf den Weg, Bettpfannen auszuspülen und Infusionen anzulegen.

    Tagsüber rennen die OP-Pfleger wie die Ameisen völlig kopflos auf und ab. Ihre Clogs klappern. Sie laufen zu einem Notfall oder nehmen in Handschuhen mit nach Gummi riechenden Händen am Tor einen Umschlag entgegen. Sie leben vom Dankesgeld, von tödlichen Krankheiten, Krebszellen. Ein anderes Mal rollen Sanitäter die Kranken vor sich her. Sie pendeln zwischen dem Haupteingang und dem Gebäude mit den Schornsteinen, den ganzen Tag ein Kommen und Gehen. Wenn eine Schwester nach dem Arzt ruft, schreit sie aus voller Kehle, das Schreien ist von allen Betten aus zu hören. Sogar den Namen des Patienten und sein Leiden brüllt sie laut heraus. Wir schlafen mit einem Blinddarm ein und wachen mit einem Frühchen auf.

    Aber am meisten hat mich das Heizhaus des Krankenhauses überwältigt. Ein dreißig Meter hoher Rauchfang. Zuerst hielt ich es für ein Krematorium. In Gedanken verbrannte ich schon darin, doch am Ende floss immer nur mein Speichel auf das Kissen. Das ist für mich der Tod, ein kribbelndes Gefühl, ein Kitzel, ein Spiel. Dort drinnen wird jeden Morgen eingeheizt. In anderen Momenten fürchte ich mich vor dem Schornstein, so sehr, dass ich zittere, ich schließe die Augen, wenn ich an ihm vorbeigehe, drehe mich weg oder gehe so im Park spazieren, dass ich ihn nicht sehe. Einmal wurde mir schlecht von seinem Gestank, er spie dichten, gelben Rauch, ich erbrach mich in den Abfalleimer am Eingang.

    Als würde ich auf eine ägyptische Pyramide starren, so setze ich mich hin und betrachte den Rauchfang. Plötzlich erwachsen ihm Arme, er beugt sich vor, nimmt mich auf den Schoß und zieht mich in sich hinein. Verschluckt mich, es gibt mich nicht mehr. Wie es wohl sein mag, in einem Ofen zu verbrennen? Wenn die Haut lodert, angesengt wird, die Flammen sie abziehen? Glut zu sein oder etwas anderes, jemand anderes, nur nicht ich. Schicht um Schicht reißt die glühend heiße Hauthülle auf, dann schrumpft sie und verschmilzt schließlich zu geruchloser Asche.

    Letzte Woche konnte ich schon in den Park hinuntergehen. Ich vermied die Gehwege, schlenderte stundenlang umher, das war mein einziges Vergnügen. Das Lüften der Freiheit. Ich zündete mir sogar eine Zigarette an, mein Arzt hatte keinen Bereitschaftsdienst. Auf dem Gehweg reihen sich Aschegruben, über mehrere Meter liegen gerauchte und angenagte Kippen unter die Büsche geworfen. Ärzte und Schwestern schmeißen ihre Zigarettenkippen hierhin. Angeblich kommen die Männer auch im Winter im Pyjama in den Park. Den Frauen sieht man es nach, wenn sie auf der Toilette rauchen und die Kippe auf dem Spülkasten ausdrücken.

    Das Zimmer ist heiß, als stünde es in Flammen, die Sonne strahlt sengend durch die Scheibe. Ein Gemisch aus Schweiß und ätzendem Ammoniumgestank: Lauge, Chlorreiniger, Menstruation. Im Frühling wird es noch schwüler, noch unerträglicher. Die Patienten sollen sich nicht erkälten, das ist die wichtigste Regel. Lieber ersticken. Das Fenster bitte schließen. Dreimal am Tag lüften wir. Die Zeitpunkte sind genau vorgegeben und auch die Dauer. Nach dem ersten Lüften am frühen Morgen baden wir in Öl und Fett, denn vom Morgengrauen bis zum späten Nachmittag werden am Eingang Langosch gebacken. Der Geruch von verbranntem Öl steigt auf, als hätte er sich gerade unser Zimmer ausgesucht. Der Rauch wabert regelrecht vor unserer Fensterscheibe. Morgens um sechs legen sie los. Drei Frauen, die Haare hochgesteckt, in weißen Kitteln und hochgeschnürten Arbeitsschuhen. Sie rauchen dabei, damit das den Ölgeruch ein wenig überlagert. Die Patienten und die Arbeiter der umliegenden Betriebe stehen mit gesenkten Köpfen vor der Langoschbude Schlange, die erst am Abend abnimmt, wenn der Imbiss um sechs Uhr schließt.

    Es gibt auch seltsame Ereignisse, unerklärliche Dinge, die mir jedoch das größte Vergnügen bereiten. Manchmal kommt eine Missionarin zu uns und erzählt von Engeln. Es gibt welche, die sofort hinausgehen, sich sehr über sie aufregen. Ich glaube ihr, mir kann sie davon erzählen. Ich höre ihr gern zu. Ich lese auch Horoskope, sie hat jeder von uns ein Buch gegeben. Sie sagt, die Krankenhausengel seien überhaupt nicht weiß, sondern rabenschwarz, düstere teuflische Wesen. Ich habe sie gespürt und gesehen, ihre dicken Gesichter kann man ertasten. Mit Stempeln in der Hand laufen sie über die roten Fliesen im Flur. Sie fliegen auf die Laken, schleppen die Körper davon, lassen sie plötzlich fallen. Dann drücken sie ihnen schnell den geheimen Stempel des Todes auf die Beine. Sie lassen sich auf weißen Deckenbergen nieder und lachen laut oder sitzen vor dem morgendlichen Saubermachen auf den Fluren herum und singen fröhlich. Sie haben Flügel und Musikinstrumente. Die Missionarin hat recht. Aber woher weiß sie das? Sie ist eine Betrügerin.

    Gestern wurde bei mir ein Ultraschall gemacht, und auf der Gynäkologie haben sie sich ausgedacht, ich hätte einen Knoten in der Gebärmutter. Heute kann ich zur Laboruntersuchung gehen. Sie nehmen mir Blut ab, machen dann einen Abstrich. Eine Spiegelung. Bakterien schwimmen zwischen meinen Beinen, also Zäpfchen, zehn Tage lang. Ich glaube nicht daran, aber am Abend schiebe ich mir eins rein. Ich glaube an die Engel, mich werden sie gesund machen.

    Auf dem Rückweg aus dem anderen Flügel trinke ich einen Kaffee. Ich öffne das Fenster. Meine Bettnachbarin murrt, wozu ich so viel lüfte. Überhaupt sei es verboten, man würde mich ins schwarze Zimmer verlegen, so heißt das kälteste Zimmer. Wenn du zu viel herumhampelst, stecken die dich da rein. Da gibt es keine Mikrowelle, und die Putzfrau tritt nicht über die Schwelle des Krankensaals. Niemand will dahin gebracht werden, weil dort die dreckigen Frauen liegen, vor denen sich alle fürchten. Ich nicht, mich interessieren sie nicht. Ich habe einen Schutzengel, der mich hin- und herschiebt, wenn er es so will, dann lege ich mich zu den braunen Frauen. Der Krieg beginnt. Ich warte, vielleicht ruft mich der Anwalt an, oder der Arzt kommt mit meinem Befund. Während des langen Wartens schlafe ich ein, niemand fragt nach mir, natürlich nicht. Und dann kommt alles auf einmal, so wie immer, knüppeldick.

    Am Morgen stehe ich wieder früh auf. Zum Fiebermessen setze ich mich hin. Dann stecke ich die Nase an die frische Luft. Gestern waren alle Betten auf der Kardiologie belegt, man hat noch zwei zu uns hereingeschoben. Gleich bringen sie in einer Aluminiumschüssel den Tee, die Brötchen und die saure Sahne. Manchmal schlafen die anderen während des Frühstücks noch, schnappen mit ihren Mündern nach Luft wie die Fische, machen sie auf und zu. Eine hat nicht einmal mehr eine viertel Lunge und schnarcht schon aus dem Magen. Ein paar schöne Blumen werden diesem Hasenstall schon ein bisschen Duft verleihen und die weiblichen Hormone aus der Luft vertreiben.

    Auf dem Fensterbrett haben sie einen guten Platz, Schwester, stellen Sie sie ruhig dahin. Stiefmütterchen, Adonisröschen, Primeln habe ich erwartet, denn im Frühling beginnen sie auf dem Rasen zu sprießen, und der Boden wird blau, violett und gelb, so wie die Muster auf einem Perserteppich. Ich gehe hinaus, unterwegs stecke ich der Schwester einen Schein zu, weil sie mir eigentlich ganz schöne Blumen gebracht hat. Sie dreht sich weg und deckt mich, wenn der Arzt nach mir suchen sollte. Ich schnappe mir ein weißes DIN-A4-Blatt. Draußen auf der Bank esse ich mein Brötchen, löffle die saure Sahne. Schreibe ein paar Zeilen.

    Ich gehe zurück ins Zimmer. Leider schließt die Medikamente verteilende Hand gerade das Fenster. Die Schwester macht ihre Runde und knallt die Fenster, wo sie offen stehen, wütend zu.

    Weiße Kälte bringt der Wind. Ich bohre meinen Kopf ins Kissen oder schlüpfe ganz unter die Decke, stelle mir dort heiße Hände vor, krümme mich, presse meine Schenkel zusammen. Ein wenig Blut kommt manchmal vor. Da, auf dem Laken. Die Spur der Nacht, ich werde es sauber reiben, wenn ich wieder aufstehen darf. Seit ich hier bin, bekomme ich meine Blutungen völlig unregelmäßig.

    Seit Wochen habe ich niemanden berührt, seit Wochen bin ich unberührt. Meine Haut ist trocken, schuppt wegen der Heizungsluft, es wird noch immer geheizt.

    Als hätte der Arzt bei der Visite Angst vor mir, fasst er mich nicht an, gibt seine Kommentare mit den Händen tief in den Taschen vom Bettende aus. Ich weiß, jetzt nimmt er mich im Kopf auseinander. Packt die Dinge hierhin und dahin, die Frau müsste ausgeschabt werden. Er wacht über den Tod, denn in seiner Tasche trägt er den Todesengel. Das kann auch böse ausgehen, gute Frau, das Myom wächst, umsonst wollen Sie Kinder, das kann ich nicht berücksichtigen, ich muss Sie ausschaben, sonst breitet sich das aus, gibt es Komplikationen. Sie sind nicht mehr die Jüngste. Das kann auch eine Metastase sein, wir werden das untersuchen, na, holen Sie mal tief Luft. Ich gebe den Löffel ab, ich verstehe, Herr Doktor. Da ist ja nichts Schlimmes dabei, warum auch? So sehr habe ich meine Gebärmutter ja nicht geliebt, warum sollte ich sie Ihnen nicht geben.

    Ich muss mich damit abfinden, dass man bislang mein Herz gequält hat, jetzt ist meine Gebärmutter dran. Aber vorerst, so scheint es, lassen sie mich hier bei den Herzkranken, da drüben, auf der Gynäkologie, reichen die Betten nie. In letzter Zeit gibt es viele mit Gebärmutterhalskrebs. Die Station ist voll, die Patientinnen liegen auf Ersatzbetten, man kann kaum einen Schritt tun. Während der Besuchszeiten bedeckt ein Meer von Plastiktüten die Krankensäle, die Verwandten setzen sich mit fünf Stühlen ins Zimmer oder bleiben im Mantel auf dem Flur stehen. Sie sehen aus, als würden sie eine Dorfversammlung abhalten, sie lachen laut, schreien, streiten und löffeln die Suppe kalt aus dem Topf, schmatzen.

    Einmal in der Nacht, als wieder dieser Arzt Dienst hatte, packte er mich zart am Knöchel. Ich zitterte vor Nervosität, beruhigen Sie sich, alles wird gut, säuselte er, dabei dachte er sicher ganz etwas anderes. Vielleicht: Hoffentlich kratzt die bald ab. Hysterische blöde Kuh, wie es halt üblich ist. Und: Alte Schachtel, rennt doch nur noch dem Bus hinterher. Kinderkriegen willst du, Alte? Na, die haben sie auch geschwängert! Backe, backe, Runzelkuchen … Am liebsten würde ich ihm eine runterhauen.

    Endlich habe ich die Gebärmutterspiegelung hinter mir, jetzt habe ich gute Laune. Die Laborergebnisse bekomme ich erst morgen. Unten im Kiosk habe ich außer der Zahnbürste, dem Klopapier, den Pogatschen und der Fanta ein liniertes Heft gekauft. Ich muss das eine oder andere bei der Verhandlung noch sagen, der Anwalt hat mich gestern angerufen. Ich solle aufschreiben, was mir einfällt, wir hätten noch ein paar Tage. Ich habe keine Ahnung, was ich sagen werde. Es ist ein gutes Gefühl, ein eigenes Spiralheft zu haben, ich habe mir das dickste ausgesucht.

    Wenn mir morgens etwas einfällt, schreibe ich es auf. Oder ich krakle auf dem Klo sitzend etwas vor mich hin, bis jemand an die Tür pocht. Unten im Park, da schreibe ich am liebsten. Aber man lässt mich nicht immer hinunter. Die Wörter schleichen sich fast von selbst in mein Heft. Sie springen hinein. Es fällt mir im Traum nicht ein, noch einmal zu erzählen, was ich schon gestanden habe; ich habe dem Anwalt auch gesagt, er solle mich da außen vor lassen. Ich würde keinen Ton von mir geben. Mich interessiert die Verhandlung nicht und auch nicht, wie das Urteil ausfällt. Ich erinnere mich an nichts. Er hat mich ziemlich verärgert darauf aufmerksam gemacht, dass ich angeklagt sei. Ich solle endlich die Tatsachen zur Kenntnis nehmen, es könnte ein hartes Urteil geben. Sie würden mich sehr wohl befragen. Und wenn ich nicht antwortete, könnte ich Schwierigkeiten bekommen. Er erwähnte das Gefängnis, meinte, das würde mir Furcht einflößen. Ja, klar, für immer, lächelte ich, na und?

    Ich mag Gitter, sie werfen schöne Schatten. Ich erinnere mich, wie wir in der Schule ein halbes Jahr lang einen Apfel zeichneten, mit Bleistift. Ich mochte das sehr, am liebsten hätte ich noch weiter gezeichnet, acht Jahre lang, wenn es hätte sein müssen, damit das Bild perfekt würde. Aber ich musste aufhören. Für immer, so etwas hatte es bei mir noch nie gegeben. Wie viel Blödsinn dieser Anwalt doch redete. Ständig kam etwas dazwischen. Versehentlich, unvermutet. Oder es ging einfach vorbei, wurde beendet. Wurde umgeschrieben, abgeändert, ausgelöscht. Dabei hatte nur noch ein bisschen gefehlt, damit alles gut würde und unser Leben vollkommen wäre. Aber daraus wurde nichts, weil es auseinanderbrach. Wie gut wäre das, für immer, mein Gott! Wenn es einmal so bliebe und andauerte und ich mich nicht auf den schlimmsten Fall vorbereiten müsste. Damit werde ich mein Heft beginnen, mit dem, was fehlt. Mit deinem Fehlen. Denn du fehlst mir sehr wohl. Komm zurück, ich bin verdammt allein! Du hast mich verlassen, Öcsi, du Zigeuner!

    UNSERE EHE

    Die ersten Worte, süße Klumpen auf meiner Zunge. Ich strecke sie heraus, lecke mir die Lippen, verschlinge dich gleich. Schwebe meterhoch über der Erde, mit offenem Mund, von meinen Geschmacksknospen geleitet. Du bist in meinem Mund, ich habe dich geschnappt. Dann, mit einem Mal verändert sich die Haut auf meiner Zunge, die alten Wörter kehren nicht zurück, herbe, gelangweilte Bisse verwunden sie, auch meine Zähne vergilben. Mein Zahnfleisch wird weiß. Dein Kuss schmeckt nicht, vor allem wenn du mich gar nicht küsst. Dein Fehlen ist wie eine Bakterie in meinem Mund. Pickel, eitrige Ausschläge übersäen meine Zunge. Was Feuer war, wird Asche. Was ich aufgesogen, verschlungen habe, spucke ich aus. Der Geschmack ist sauer, mir wird übel, selbst meine Ohren schmerzen. Das ist eine Krankheit, die Ehe ist ein schlimmes Leiden, und mich hat es ordentlich erwischt.

    Die Tür zu unserem Haus steht offen, die Fenster warten sperrangelweit auf den Frühling. Du rennst nur, läufst deine Bahnen. Dein Herz pocht, du schnappst nach Luft. Du ziehst deine Kreise wie ein überschneller Uhrzeiger. Der Reihe nach gewinnst du die Wettkämpfe, blickst mir auf den ersten Farbfotos mit der Ruhe eines Athleten vom Treppchen entgegen. Du bist dein Mund, deine Mundwinkel neigen sich in dem schnellen Tempo. Deine Wangen schwabbeln, als wäre dir schwindlig, du beißt kräftig in die Luft. Keuchst. Läufst, rennst. Ich hocke im Gras oder sitze in der letzten Reihe auf einer Bank. So erscheinen mir immer die ersten Jahre, wenn ich an dich zurückdenke. Zitternd beobachte ich deine Bewegungen, ich war so verrückt nach dir, dass ich regelrecht Angst hatte. Ich mimte die Lässige, die Lockere, dabei war ich ein Hasenfuß, bibberte am ganzen Körper.

    Tausendmal kommt dasselbe hoch, immer und immer wieder, und es lähmt mich vollkommen. Auch jetzt habe ich das Gefühl, es sitzt hier in meinem Schoß.

    Du warst der große Sportler, der Riese. In der Umkleide war Giraffe dein Spitzname. Du nahmst im Vorhinein Maß von den Frauen, es fehlte nur noch das Lineal in deiner Hand. Du berechnetest die Schritte, als würdest du auf einem Schachbrett planen. Erst danach hattest du den Mut, sie anzusprechen. Ich muss lachen, mache mir gleich in die Hose! Du, der du nicht einmal eine Fliege fangen konntest, weil du keine Ahnung hattest, wohin sie flog. Jetzt weiß ich schon, wie ungeschickt du in so winzigen Sachen warst. Dann spuckte sie auf dein Kissen. Du hast zugelassen, dass die kleinen Fliegen schlüpften, ausschwärmten. Dir auf den Kopf flogen, dir ins Ohr summten, dir war es egal, du rührtest dich nicht. Autogenes Training, du konzentriertest dich auf den nächsten Wettkampf. Hast nichts gegen sie unternommen. Vorher und nachher standest du wie gelähmt da oder klammertest dich an das Geländer neben der Bahn. Die Fliegen fraßen dich auf, bissen dir ins Gesicht. Es nahm dir die Luft, aber du würdest trotzdem gewinnen! Du lebtest für die Giganten, wolltest so groß werden wie die Bewohner des Olymps. Du wolltest den Wettkampf gewinnen. Wer sich dir in den Weg stellte, den hast du überrollt, niedergetrampelt.

    Deine Augen waren geschlossen, die Ohren hieltest du dir zu, sogar deine Seele hast du abgeschaltet. Endlich der Knall aus der Startpistole.

    Wie gut wäre es gewesen, wärst du für mich gelaufen, hättest du für mich gewonnen, das wünschte ich mir. Ich blickte dir entgegen wie der Ewigkeit. Wenn du gewusst hättest, in was für einen Zustand du mich gebracht hast. Als ich mich in dich verliebte, war ich vollkommen fertig, ich brachte keinen Bissen herunter. Ich hängte dich an meine Zukunft, ohne dich würde ich nicht leben können, solcherlei sagte ich meinem Kissen, ich will dich unbedingt, schrieb ich in meine Bettdecke.

    Wenn ich dich nicht bekomme, sterbe ich. Ich räumte die Becher in der Küche weg, und für einen Augenblick blieb die Welt stehen. Ich ließ einen fallen. Der Tod schwamm in ihm. Der Becher mit den roten Punkten war zerbrochen. Ich musste derart heulen, dass ich kaum aufhören konnte. So hatte die Liebe mich überwältigt, ich konnte es selbst nicht glauben.

    Das Jugendmagazin war voller Tipps, wie man einen Jungen anmachen musste. Jede in der Klasse hatte schon einen Freund, außer der schönen Kati und mir. Dabei beschloss ich jeden Tag, zu dir zu gehen und es dir zu sagen.

    Sammeln, beobachten, zuschnappen, erobern. Auswählen. Ausspähen. Abends im Kopf einen Film abspielen. Und nur daran denken, das ist kein Wahnsinn, sondern die Wirklichkeit. Ja, es gibt so ein Gefühl, das jeden Gegenstand wie Röntgenstrahlen durchleuchtet. Dich lieben, auch dann, wenn du stolperst und nicht ans Ziel gelangst, dir aufhelfen, dich aufrütteln. Mich an dein Gesicht beugen und deinen bläulichen, zitternden Mund berühren, streicheln. Ich will dich auch dann, wenn dein Körper gefroren und kalt sein wird.

    Wegen dir hatte ich mir Ledersandalen gekauft, einen karierten Rock, eine Strickjacke, Nylonstrumpfhosen, sogar einen schwarzen BH. Für

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