Bären, Lachse, Totempfähle: Die kanadische Inselgruppe Haida Gwaii am Rand der Welt
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Über dieses E-Book
Susemihl nach Haida Gwaii. Die ehemaligen Queen Charlotte Inseln vor
der Westküste Kanadas gehören zu den letzten naturbelassenen Paradiesen
unserer Erde.
Auf dem abgeschiedenen, atemberaubend schönen Archipel Haida Gwaii
hat sich eine einmalige Natur und Kultur entwickelt. Hier wächst der nördlichste
Regenwald der Erde, leben die größten Schwarzbären weltweit,
haben die Haida-Indianer ihr Zuhause. Seit über 12.000 Jahren sind die
„Galapagos-Inseln des Nordens“ Heimat der Ureinwohner, deren Lebensweise
auf dem respektvollen Umgang mit den Reichtümern aus Wald und
Meer basiert.
Facettenreich und begeisternd erzählt Geneviève Susemihl von diesen
mutigen Menschen und ihrem unerschrockenen Kampf um ihr Land.
Sie besucht historische Dörfer, spricht mit Bewohnern, erforscht die
Vergangenheit, wandert durch die Wildnis und versucht dabei vor allem
eins: Herz und Seele der Inseln am Rand der Welt einzufangen.
Abgerundet wird der Reisebericht mit traditionellen Geschichten der
Haida, Fotos und Reiseinformationen im Überblick.
Geneviève Susemihl
Geneviève Susemihl, Kulturwissenschaftlerin, promoviert 2004 und habilitiert 2022 in Nordamerikanischer Kultur und Literatur, beschäftigt sich seit vielen Jahren mit indigenen Kulturen in Kanada und den USA. Sie arbeitete u.a. an der Queen’s University und am Royal Military College in Kingston und erforscht derzeit Welterbestätten und Grenzregionen in Nordamerika. 2016 erschien ihr Buch Bären, Lachse, Totempfähle: Die kanadische Inselgruppe Haida Gwaii am Rand der Welt.
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Buchvorschau
Bären, Lachse, Totempfähle - Geneviève Susemihl
wurden.
Xánjuu – Auf Reisen
Reise zum Rand der Welt
Dunkelgrüne, zerfurchte Flächen mit schwarzen und grauen Einschnitten erstrecken sich auf blauem Grund. Ich sitze vor meinem Laptop und sehe mir auf googlemaps die Geländekarte von Haida Gwaii an. Das digitale Kartensystem zeigt mir unzählige Inseln, zerklüftete Ufer, graugrüne Bergketten und vor allem viel Wasser. Die Entfernung zum Festland ist beträchtlich.
„Da willst du hin?", fragt Chiara, meine zehnjährige Tochter. Sie schaut mir interessiert über die Schulter, wie sie es häufig tut, wenn ich am Computer arbeite.
„Ja, da will ich hin."
„Und wie kommst du dahin?"
Das ist eine Frage, die ich mir selbst gerade stelle.
Haida Gwaii ist einer der abgeschiedensten, einsamsten Orte der Welt und eines der letzten naturbelassenen Paradiese der Erde. Die ehemaligen Queen Charlotte Inseln, die seit 2010 den Namen Haida Gwaii⁶ tragen, gehören zu Kanada und liegen im Pazifischen Ozean, etwa hundertdreißig Kilometer vor der kanadischen Westküste und 720 Kilometer Luftlinie nördlich von Vancouver.
Wenn ich Freunden von meinem Reiseziel erzähle, treffen mich fragende Blicke. Niemand hat je von Haida Gwaii gehört. Kanada können sie auf der Karte im Kopf einordnen, ebenso Alaska und spätestens seit den Olympischen Winterspielen 2010 auch Vancouver. Sogar Totempfähle kennen sie möglicherweise aus Hollywood-Western oder dem GEO-Magazin. Aber von den Haida haben sie noch nie gehört. Auch nicht von potlatch oder trickster. Und bevor jemand fragt: Nein, potlatch ist kein Gemüse.
Die Inseln sind vom Festland durch die Hecate Strait getrennt, einem relativ flachen Gewässer, das durchschnittlich einhundert Kilometer zwischen den Küsten misst. Südlich der Inseln, etwa zweihundert Kilometer entfernt, befindet sich Vancouver Island. Dazwischen liegt der Queen Charlotte Sound, eine Meerenge des Pazifischen Ozeans und Teil der Inside Passage, einem Seeweg vor der Küste Alaskas und British Columbias, der mit gewaltigen Gletschern, einsamen Buchten und einem Labyrinth aus über tausend Inseln zu den schönsten Fjordküsten der Welt zählt. Die Passage bietet Lebensraum für eine faszinierende Tierwelt und wird seit Jahrzehnten von Fähren und Kreuzfahrtschiffen zwischen Vancouver und Seward in Alaska stark frequentiert. Keine einhundert Kilometer nördlich von Haida Gwaii stößt man auf das Prince of Wales Island, die größte Insel Alaskas. Davor liegt der Dixon Entrance, eine Meerenge, die seit 1903 Gegenstand eines Gebietsdisputes zwischen Kanada und den USA darstellt.
Die über einhundertfünfzig Inseln Haida Gwaiis mit einer Gesamtfläche von 10.180 km² (das entspricht etwa der Hälfte des Bundeslandes Mecklenburg-Vorpommern) besitzen eine einzigartige Flora und Fauna und bilden eines der vielfältigsten Biotope Kanadas. Hier wächst der nördlichste Regenwald der Erde, hier leben die größten Schwarzbären weltweit, es ist Refugium unzähliger Seevögel und geschützter Lebensraum vieler seltener Tier- und Pflanzenarten.
Die Island of the People, wie Haida Gwaii in der Sprache der Ureinwohner heißt, ist auch die Heimat der Haida-Indianer, die seit 12.500 Jahren die Inseln bewohnen. Seit Jahrtausenden trotzen sie den Stürmen und Launen des Ozeans. Land und Meer miteinander verwoben, haben sie eine einmalige Kultur geschaffen, die den Reichtümern der See und der Wälder entspringt. Lachs und Meeresfrüchte waren ihre Hauptnahrungsmittel und gigantische Rotzedern lieferten das Rohmaterial für ozeantaugliche Kanus, gewaltige Langhäuser und großartige Totempfähle.
Etwa 30.000 Haida lebten einst in einhundert Dörfern, sprachen verschiedene Dialekte und hatten als herausragende Seefahrer und kluge Händler rege Handelsverbindungen mit Stämmen auf dem Festland aufgebaut. Die ersten Kontakte mit den Europäern erfolgten um 1774, doch als russische und spanische Expeditionen die Reichtümer der nordpazifischen Küste und vor allem den feinen Seeotterpelz entdeckten, änderte sich das Leben der Haida drastisch.
Das Dorf SGang Gwaay Ilnagaay, auch Ninstints genannt⁷, auf der kleinen Insel SGang Gwaay (Anthony Island) im Süden des Archipels gelegen, erzählt vom traditionellen Leben der Haida, und die geschnitzten Totempfähle SGang Gwaays gelten weltweit als herausragende Kulturzeugnisse. Obwohl viele Gebäude den Elementen und der Zeit zum Opfer gefallen sind, zeugen die Überreste von zehn großen Langhäusern und 32 geschnitzten totem poles von der Macht und Stärke eines außergewöhnlichen Volkes, von einer einstmals pulsierenden Gesellschaft und blühenden Kunst und bieten einen visuellen Schlüssel zu mündlichen Überlieferungen und Traditionen früherer Jahrhunderte. 1981 erklärte die UNESCO SGang Gwaay zum Weltkulturerbe.
Die Zivilisation der Haida ist jedoch nicht verblichen, vergangen oder versunken im Meer, wie die farbenprächtigen Chilkat Decken, monumentalen Totempfähle oder traditionellen Kanus der Haida früherer Jahrhunderte. Im Gegenteil: die Haida haben sich in Kanada eine besondere Position erkämpft und führen heute ein weltoffenes Leben, an dem sie gern Besucher teilhaben lassen. Stolz erzählen sie von vergangenen Zeiten und präsentieren antike Schätze und moderne Kunst gleichermaßen, darunter auch die weltweit größte Sammlung von totem poles außerhalb eines Museums.
Haida Gwaii ist der abgelegenste Inselarchipel Nordamerikas und tatsächlich eine Inselgruppe am Rand der Welt. Auf einer imaginären Tauchfahrt von der Westküste Moresby Islands in Richtung Ozean würde man fünf Kilometer stetig und langsam auf der Lippe des Nordamerikanischen Kontinentalschelfs absinken, bevor man abrupt zweieinhalb Kilometer tief zum Ozeanboden fällt. Dieses sehr tiefe Unterwasserkliff ist der Queen Charlotte Graben, einer der größten Brüche in der Erdkruste. Hier stößt die Nordamerikanische Kontinentalplatte auf die Pazifische Platte und die Bewegungen hinterlassen ihre Spuren.
Nicht von ungefähr ist dies die erdbebenreichste Gegend Kanadas und einer der seismisch aktivsten Orte der Welt. Mit einer Geschwindigkeit von fünfzig bis sechzig Millimeter pro Jahr bewegt sich die Pazifische Platte nördlich des Queen Charlotte Sounds gen Norden. Diese tektonischen Plattenbewegungen erzeugen einen enormen Druck, der Berge hebt, Gebirgsschichten faltet und Erdbeben verursacht. Nirgendwo sonst im zweitgrößten Land der Welt kommen so häufig Erdbeben vor wie hier. Über fünfzehn Mal bebte Haida Gwaii mit einer Magnitude von über 5,0. Im Jahr 1949 erschütterte das zweitstärkste jemals in Kanada verzeichnete Beben die Erde mit einer 8,1 auf der Richterskala, und Ende Oktober 2012 spürten die Menschen ein Erdbeben mit einer Stärke von 7,7.
Die kilometertiefe Absenkung des Ozeanbodens am Kontinentalschelf liefert auch einen Auftrieb von Strömungen, die eine weltweit einmalige, reiche Meeresflora und -fauna erwecken. Ebenso mannigfaltig sind die Landschaften über Wasser, zu erleben in drei außergewöhnlichen Naturparks – dem Gwaii Haanas National Park, dem Naikoon Provincial Park und dem Pure Lake Provincial Park. Alpine Berge wechseln sich ab mit subalpinen Plateaus, dunklen Wäldern, undurchdringlichem Sumpfland und endlosen Sandstränden. Besucher und Einheimische schwören auf die besten Fischgründe und einsamsten Kanustrecken entlang der Westküste.
Nicht nur geographisch ist Haida Gwaii eine Insel am Rand der Welt. Hunderte Kilometer entfernt von lärmenden Verkehrsstaus, nervös flirrenden Neonreklamen und überfüllten McDonald’s gibt es hier weder Autobahnen noch Großstadttrubel. In den beschaulichen Orten der Insel wurden einige Stopp-Schilder gezählt und sogar eine Ampel gesichtet, ansonsten jedoch kann jeder hier sein eigenes Tempo wählen und seine persönliche Beziehung zur Natur entdecken. Diese aufregende, einzigartige Welt voller Wunder wollte ich erleben. Zuvor allerdings würde ich einige Tage in Vancouver verbringen, um in Bibliotheken, Archiven, Museen und Interviews so viel wie möglich über die Inseln und ihre Bewohner in Erfahrung zu bringen.
Kastanien und Küsse zum Abschied
Vor acht Wochen saß ich erstmals vor der Karte Haida Gwaiis und überlegte, wie ich zu diesem Rand der Welt kommen sollte. Ich suchte Fährverbindungen und Autoverleiher, buchte Flüge und Züge, schrieb E-Mails, führte Telefonate, verabredete mich zu Interviewterminen, erarbeitete Fragebögen und Interviews für mein Forschungsprojekt und traf Vorbereitungen für meine Abwesenheit zu Hause.
Es war nicht das erste Mal, dass ich längere Zeit auf Forschungsreise gehen würde, doch mit drei kleinen Kindern musste der Tagesablauf zu Hause gut organisiert werden. Auf dieser Reise würde ich erst nach Haida Gwaii und danach weiter nach Alberta fliegen, um die zweite indigene Weltkulturerbestätte Kanadas, Head-Smashed-In Buffalo Jump südlich von Calgary, zu besuchen und über einen Monat unterwegs sein. Im Grunde keine lange Zeit, aber seit über einem Jahr arbeitete ich an der Queen’s University in Kingston und flog regelmäßig ein bis zwei Wochen im Monat nach Kanada und meine häufige Abwesenheit war anstrengend für alle Familienmitglieder.
Tahoe war mit seinen dreieinhalb Jahren zu klein, um den Zeitumfang der Reise zu verstehen, und als meine Eltern zu Besuch kamen, um mich zu verabschieden, erklärte er ihnen, wo ich hinfahre. „Mama fährt so weit weg – von hier bis hier", wobei er von der Küche bis ins Wohnzimmer lief, um die Riesenhaftigkeit der Distanz deutlich zu machen. Ravn war acht und ahnte, was auf ihn zukam. Abends kuschelten wir lange miteinander und fühlten beide, dass eine für ihn unendlich lange Trennung bevorstehen würde. Chiara versuchte, pragmatisch mit der Situation umzugehen und versprach, sich um die Männer im Haushalt zu kümmern, doch wie ihre Brüder war auch sie traurig, dass ich wegfuhr und sie zurückbleiben musste.
Der Alltag der Kinder sollte während meiner Abwesenheit möglichst in normalen Bahnen weiterlaufen. Morgens würde meine Mutter, die im Nachbarort wohnte, die drei wecken und für Schule und Kindergarten fertig machen, denn Mathias musste schon früh los. Am Nachmittag würden meine Mutter oder Schwiegermutter Tahoe vom Kindergarten abholen und Ravn nach dem Hort betreuen, bis Mathias heim kam.
Schöner als das Reisen allein ist es, wenn man Arbeit und Familie verbinden kann. Im letzten Sommer waren wir als Familie nach Kanada geflogen, wo ich ein Forschungsprojekt verfolgte und gleichzeitig den Kindern das Land zeigen konnte. Wir hatten Freunde besucht, waren umhergefahren und unsere gemeinsamen Abenteuer hatten uns zusammengeschweißt.
Nun wollte ich allein auf Reisen gehen, was irgendwie nicht fair war, fanden jedenfalls die Kinder, und etwas musste doch auch für sie dabei herausspringen.
„Mama, bringst du uns was mit?", fragt Ravn mit einem Lächeln.
„Was hättest du denn gern?"
„Egal. Etwas Tolles."
„Die leckeren Pfefferminzbonbons wären super, ruft Chiara, „die wir auf unserer Reise immer im Auto hatten.
Der Abschied fällt schwer. Ich hatte gehofft, es wäre mittlerweile eine Art Abschiedsroutine entstanden, aber dem war nicht so. Ich habe einen dicken Kloss im Hals und mein Herz fühlt sich schwer an. Wir stehen im engen Flur. Tahoe umarmt mich und klammert sich an mein Bein. „Ich will auch mit", schluchzt er.
„Du hast recht. Ich umarme und drücke ihn ganz fest. „Ich finde, wir müssen mal wieder alle gemeinsam wegfliegen.
Ravn und Chiara stehen neben mir und unterdrücken ihre Tränen, so gut sie können. Sie wollen mir den Abschied nicht noch schwerer machen, und ich verspreche, schnell wieder zu kommen.
„Ihr werdet sehen, die Zeit vergeht wie im Fluge", versuche ich sie zu trösten, nehme den großen Wandkalender im Flur und male hinter jeden schulfreien Tag einen Smiley – also auf jeden Samstag, Sonntag, Feier- und Ferientag.
„Wisst ihr, was wir machen, wenn ich wieder da bin? Was kann man alles im Herbst machen? Worauf habt ihr Lust?, frage ich. „Wir könnten Drachen steigen lassen, Kastanienmännchen basteln, durch das Laub rascheln, Blätter pressen und Pilze sammeln.
Ich male Pilze, Blätter, Kastanienmännchen, Drachen und lustige Strichmännchen auf die Tage, an denen ich wieder da bin.
Ravn weint. Er wollte tapfer sein, aber nun quellen die Tränen aus ihm heraus.
„Warte", ruft er und verschwindet. Kurz darauf kommt er zurück und drückt mir ohne ein Wort etwas Hartes in die Hand. Eine Kastanie, die er am Vortag auf dem Schulweg gesammelt hatte. Ich hatte mich gefragt, warum er mal wieder ewig brauchte, um nach Hause zu kommen, war ungeduldig gewesen und hatte mit ihm geschimpft, weil er getrödelt hatte. Dabei sieht er die Natur mit aufmerksamen Augen, beobachtet Schnecken und Eidechsen, sammelt Kastanien und Eicheln und entdeckt Pilze und Blumen, was ich so sehr an ihm liebe. Auf der glatten, glänzenden Haut der Kastanie hat er mit weißem Stift ein lachendes Gesicht gemalt. Es ist wunderschön und fröhlich – genau wie Ravn, wenn er lacht. Jetzt muss ich weinen. Ich nehme ihn in die Arme und drücke ihn lange und fest. Sagen können wir beide nichts.
Chiara umarmt mich kurz. Dann verschwindet sie, setzt sich ans Klavier und beginnt zu spielen. Sie möchte tapfer sein und ihren Kummer nicht zeigen, vor allem, weil sie sieht, dass Ravn mir ganz nah sein möchte und mich festhält, während Tahoe sich noch immer an mein Bein klammert und weint. Sie ist stets so verständnisvoll und einsichtig, und ich hoffe, dass ich immer weiß, was sie fühlt und wie es ihr geht, selbst wenn sie nicht darüber spricht. Sie wollte mir auch zeigen, dass sie trotz ihrer Trauer fleißig weiter üben würde. Ich folge ihr und küsse sie. „Gute Reise, Mama", flüstert sie, dann lässt sie mich los und spielt Bach.
Tahoe weint immer heftiger und Mathias kann ihn nicht trösten. Ich küsse Mathias. Wir umarmen uns kurz und fest. Dann greife ich meinen schweren Koffer und mache mich auf den Weg zum Bahnhof, der nur acht Fußminuten von unserem Haus entfernt liegt. Auf dem Weg treffe ich einen Freund.
„Wo fährst du denn hin?", ruft Lars mir zu.
„Nach Kanada", antworte ich gedankenversunken.
„Mit dem Zug?", fragt er schmunzelnd.
„Meine Reise beginnt an meiner Haustür."
Von meiner kleinen Stadt mit ihren 11.500 Einwohnern reise ich zum Rand der Welt. Bis zu meinem Ziel Queen Charlotte sind es 7.688 Kilometer Luftlinie. Ich nehme den Zug nach Rostock, fahre von dort nach Berlin-Gesundbrunnen, steige in die S-Bahn nach Pankow, übernachte dort bei meiner Cousine, fahren am Morgen mit der S-Bahn nach Tegel, setze mich in das Flugzeug nach Düsseldorf, fliege von dort nach Vancouver und einige Tage später nach Masset auf Haida Gwaii, um von dort schließlich mit dem Auto nach Queen Charlotte zu fahren. Wenn ich Glück habe, komme ich sogar mit dem Boot bis nach SGang Gwaay. Das ist mein geplanter Reiseweg.
Schrecksekunden am Flughafen
Seitdem ich regelmäßig zwischen Berlin und Montreal hin und her pendle, habe ich aufgehört, meine Flüge zu zählen. So wurden auch meine Besuche bei meiner Cousine und die morgendlichen Fahrten nach Tegel beinahe zur Routine, hin und wieder jedoch durch überraschende Begebenheiten unterbrochen.
Einmal fuhr ich mit U-Bahn und Bus zum Flughafen. Es war kalt und regnerisch und die Menschen standen müde, mürrisch und eng gedrängt in der Bahn. Plötzlich und unerwartet begrüßte uns der U-Bahn-Fahrer: „Guten Morgen, liebe Reisenden. Ich hoffe, sie haben gut geschlafen. Das Wetter wird heute sonnig und freundlich, auch wenn es im Augenblick noch nicht so aussieht. Die Chance auf Regen liegt bei weniger als einem Prozent. Es macht also nichts, wenn sie keinen Schirm dabei haben. Ein Grund mehr, mit einem fröhlichen Lächeln den Tag zu beginnen. Sie dürfen ruhig den Fahrgast neben sich freundlich anblicken und ihm einen guten Morgen wünschen." Ein Ruck ging durch die Menge. Einige grinsten, andere schauten verwundert und überrascht, als wären sie gerade aus dem Schlaf geschreckt. Dann lächelten sie vorsichtig. Schließlich lachten und sprachen viele sogar miteinander. Manchmal bedarf es nur weniger Worte, um ein Lächeln auf morgendlich verschlafene und griesgrämige Gesichter zu zaubern.
Heute kann ich die S-Bahn nicht nehmen. Die Mitarbeiter der Berliner Verkehrsbetriebe streiken. Der Taxifahrer ist noch müde und seine Geduld mit langsamen Fahrern begrenzt, was er murrend zum Ausdruck bringt. Tegel begrüßt mich mit morgendlicher Kühle. Obwohl es noch mehr als zwei Stunden bis zum Abflug sind, ist die Schlange am Schalter schon lang. Meine Koffer werden bis Vancouver durchgecheckt, danach habe ich noch Zeit und schlendere über den Flughafen.
Bevor ich durch die Sicherheitskontrolle gehe, entsorge ich meine Wasserflasche im nächsten Mülleimer. Winzige Lippenstifte und Cremedöschen, die in extra Plastikbeutelchen gesteckt werden müssen, habe ich gar nicht erst dabei. Ich fülle vier Körbe mit Rucksack, Jacke, Gürtel, Handtasche und Laptop, gehe durch die Scanner und bin froh, dass nichts piept und meine Hose nicht rutscht. Im Halbschlaf sammle ich meine Habseligkeiten wieder ein, nehme mir eine Zeitung und setze mich in eine Ecke in der Wartehalle. Irgendwann beginnt der Einstieg. Ich falte die Zeitung, schnappe meinen Rucksack und will mich in die Schlange zum Einsteigen einreihen.
Doch mein Rucksack ist ungewöhnlich leicht.
Zu leicht.
Irgendetwas fehlt doch?
Wie vom Blitz getroffen kommt mir die Erkenntnis.
Mein Laptop fehlt. Weg! Gestohlen!
Nein, halt. Meinen Rucksack hatte ich nie aus den Augen gelassen.
Meine Gedanken arbeiten in Zeitlupe. Bei der Sicherheitskontrolle hatte ich ihn in eine Kiste gelegt. Danach habe ich ihn nicht mehr gesehen. Ich muss vergessen haben, ihn wieder einzupacken. Er muss also noch dort sein. Ich schieße in die entgegengesetzte Richtung, vorbei an den in einer Traube gedrängt stehenden Passagieren, die sich gleich einer zähflüssigen Amöbe gen Ausgang schieben.
„Was ist das denn für ein Laptop?" Der Sicherheitsangestellte schaut mich ernst an. Wie heißt die Marke noch gleich? Es ist einfach zu früh, um einen klaren Gedanken zu fassen.
„Ein schwarzer, antwortete ich. „Ein Toshiba
, füge ich nach kurzem Grübeln hinzu.
„Wir haben schon darum gewürfelt, wer den heute Abend mit nach Hause nehmen darf." Der Mitarbeiter lächelt. Auch er scheint froh, dass ich noch rechtzeitig den Verlust bemerkt habe und er das Gerät nicht im Fundbüro abliefern muss. Die Reise fängt ja gut an. Hoffentlich geht das nicht so weiter, denke ich. Aber es ist ja noch einmal gut gegangen, würde mein Vater sagen, und ich beschließe, an mein Glück zu glauben und besser auf meine Sachen aufzupassen.
Das Flugzeug startet und wir fliegen in den Sonnenaufgang. Berlin liegt im feuchten Nebel unter mir. Ich starre in die Wolken, in deren watteweicher Leichtigkeit sich meine Gedanken verlieren. Der Flug von Berlin nach Düsseldorf ist unspektakulär, der Kaffee geschmacklos, das Wetter mies. In Düsseldorf habe ich nicht viel Aufenthalt, aber genug, um durch eine Buchhandlung zu stöbern. Ich könnte noch ein gutes Buch für die Reise gebrauchen. Erst auf den zweiten Blick finde ich ein gelbes Buch, Alan Bradleys A Red Hering Without Mustard, und freue mich. Die ersten zwei Bände der Flavia de Luce-Romane habe ich schon verschlungen. Die altkluge, elfjährige Flavia, eine begnadete Giftmischerin und naseweise Detektivin, sprüht vor Energie und Charme. Die exzentrischen Figuren sind unterhaltsam, die Morde überraschend, die Sprache elegant, der Schauplatz des Geschehens bezaubernd nostalgisch und very British. Genau das Richtige für die kommenden zehn Stunden Flug.
Im Flieger mache ich es mir auf dem engen Platz so gemütlich wie möglich, kuschle mich in eine Decke und bestelle mir einen Kaffee. In meiner Tasche fühle ich Ravns Kastanie, schaue in ihr fröhliches Gesicht und muss lachen und weinen.
Der Spirit Haida Gwaiis
Um 9.45 Uhr war ich in Düsseldorf losgeflogen, um 10.40 Uhr lokaler Zeit lande ich in Vancouver, mit neun Stunden Zeitverschiebung und minimaler Verspätung. Es ist fast wie ein Zeitsprung.
Noch ein wenig träge vom langen Sitzen schiebe ich mich mit der Masse durch die Einreisekontrolle und zur Gepäckausgabe auf einem der schönsten Flughäfen Nordamerikas. Sonnenlicht durchflutet die Hallen, ein Wasserfall sprudelt an der Wand. Vancouver International Airport, der zweitgrößte Flughafen Kanadas, gilt als „The Best Airport in North America" und als einer der zehn besten Flughäfen weltweit. Die Elemente Wasser, Land und Himmel vereinen sich auch in der Architektur der Gebäude, und beeindruckende Skulpturen namhafter indianischer Künstler der Nordwestküste präsentieren sich dem aufmerksamen Betrachter, darunter Willkommensfiguren von Joe David (Nuu-cha-nulth), Holzschnitzarbeiten von Susan A. Point (Musqueam), Richard Hunt (Kwa-Giulth), Dempsey Bob (Tlingit/Tahltan) und Robert Davidson (Haida).
Die monumentale Bronzeskulptur „The Spirit of Haida Gwaii, The Jade Canoe" des Haida-Künstlers Bill Reid, dessen schwarzes Gegenstück vor der kanadischen Botschaft in Washington D.C. steht, präsentiert die indigenen Völker British Columbias. Das sechs Meter lange und fünftausend Kilogramm schwere, grüne Kanu verkörpert das Erbe der Haida-Indianer. Die dicht aneinander gedrängten Passagiere sind Figuren der Haida-Mythologie: Raven, der das Steuerruder hält, Mouse Woman, Grizzly Bear, Bear Mother, ihre beiden Kinder Good Bear und Bad Bear, Biber, Dogfish Woman (Dornhai), Adler, Frosch, Wolf, ein menschlicher Ruderer und ein Haida-Schamane oder Kilstlaai. Nicht immer geht es harmonisch unter ihnen zu, nicht alle sind einander wohlgesonnen. Doch sie sind aufeinander angewiesen und voneinander abhängig, genau wie die Vorfahren der Haida auf ihre natürliche Umwelt angewiesen waren, um zu überleben.
In der Menge der Wartenden in der Ankunftshalle entdecke ich Jim. Es ist schön und beruhigend, ein bekanntes Gesicht in der Fremde zu sehen. Mit Jim ist es wie mit allen meinen Freunden in Nordamerika: Wir hören eine Weile nichts voneinander, dann schreibe ich eine E-Mail und kündige meinen Besuch an und die Freunde bieten mir ihre Hilfe an, als wäre ich nie weggewesen und geben mir das angenehme Gefühl des Dazugehörens in einem Land, in dem ich mich schon lange nicht mehr als Fremde fühle. Auch die Selbstverständlichkeit, mit der mich völlig fremde Menschen in ihrem Heim aufnehmen, manchmal für Tage und Wochen, ist immer wieder beeindruckend, und ihre Gastfreundschaft, Offenheit und Hilfsbereitschaft außergewöhnlich. Gern möchte ich mich revanchieren, aber nur wenige Nordamerikaner kommen nach Deutschland, das auf der Urlaubsliste der Kanadier weit hinter Australien, Neuseeland, Frankreich und Italien steht - da können Oktoberfest, Schwarzwald, Berlinale oder Ostsee noch so locken.
Vancouver Skyline
Jim ist ein guter Freund von Mathias, der ihn vor einigen Jahren bei der Coastal Jazz & Blues Society kennenlernte, für die Mathias damals arbeitete. Jim half als volunteer bei der Organisation des alljährlichen Vancouver International Jazz Festivals und nahm Mathias zwei Wochen bei sich auf. Sie blieben in Kontakt, und als ich 2008 mit Tahoe, der damals zehn Monate alt war, auf Forschungsreise in Westkanada war, durfte ich ebenfalls bei ihm wohnen.
„Es ist gut, dich wieder zu sehen", begrüßt mich Jim mit seiner tiefen Bassstimme, umarmt mich herzlich und ich versinke in seinen kräftigen Armen. Seine Herzlichkeit ist ebenso groß wie er selbst. Jim ist Ende Sechzig, kräftig gebaut und niemals ohne seinen Golden Retriever Jazz unterwegs. Dieses Mal begrüßen mich zwei Hunde im Auto.
„Joss ist mein Pflegehund, sein Frauchen ist im Ausland. Jim krault den jungen Rüden liebevoll hinterm Ohr. Das Auto ist voller Hundehaare und angeknabberter Tennisbälle. „Er ist erst ein Jahr alt und ein prima Spielkamerad für Jazz. Der langweilt sich dann nicht so sehr, wenn ich unterwegs bin, denn zum Unterricht an der Uni kann ich ihn nicht mitnehmen.
Der schwarz-weiße Retriever Joss gehört Anne, einer Freundin von Jim, die für ein Jahr als Krankenschwester nach Sierra Leone gegangen ist, um auf der Africa Mercy, einem Schiff der humanitären Organisation Mercy Ships, die ihre schwimmenden Hospitäler in die ganze Welt schickt, zu arbeiten.
Als wir aus der Flughafenhalle kommen, schlägt uns eine Welle warmer, feuchter Luft entgegen. Typisches Vancouver-Wetter. Die Stadt am Pazifik ist eine der wärmsten Städte Kanadas. Aufgrund der Kuroshio-Strömung, auch „Schwarze Strömung oder „Japanstrom
genannt, einer Oberflächen-Meeresströmung im Pazifik, hat sie ein ungewöhnlich mildes Klima, mit wenigen Tagen unter null Grad. Mit durchschnittlich 166 Regentagen im Jahr ist sie aber auch eine der feuchtesten Städte des Landes. Zwischen November und März regnet es beinahe jeden zweiten Tag, gern auch mal zwanzig Tage hintereinander, wenn der Pineapple Express, eine subtropische Windströmung, warme, feuchte Luft von Hawaii bringt. Die Tage, an denen Schnee fällt, lassen sich dagegen an einer Hand abzählen.
Wir fahren vom Flughafen in die Stadt. Vancouver ist Traumziel vieler Touristen und beliebter Wohnort, denn es hat alles, was man sich von einer Großstadt wünscht – und noch mehr.
Segelboote am Ufer des False Creek, Vancouver
Neben Einkaufszentren, gepflegten Wohngegenden, zwei Universitäten, Museen, modernen Sportanlagen und grünen Parks tummeln sich die Menschen an weißen Stränden, auf dem Meer oder in den Coast Mountains, die sich unweit entlang der Küste erstrecken. Mehrmals wurde die „Perle am Pazifik" zu einer der schönsten Städte der Welt gekürt. Sie ist die Großstadt mit der höchsten Lebensqualität, schrieb das britische Wirtschaftsmagazin The Economist, und die Freizeitmöglichkeiten sind vielfältig. In Vancouver kann man morgens Skifahren, nachmittags Segeln, zwischendurch eine Runde Golf spielen und