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Das indigene Kanada: First Nations, Inuit und Métis: Geschichte - Kulturen - Tourismus
Das indigene Kanada: First Nations, Inuit und Métis: Geschichte - Kulturen - Tourismus
Das indigene Kanada: First Nations, Inuit und Métis: Geschichte - Kulturen - Tourismus
eBook569 Seiten4 Stunden

Das indigene Kanada: First Nations, Inuit und Métis: Geschichte - Kulturen - Tourismus

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Über dieses E-Book

In Kanada leben etwa 1,67 Millionen indigene Menschen. Sie gehören zu einer der drei als indigen anerkannten Bevölkerungsgruppen – den First Nations, Inuit und Métis. Das Buch umreißt ihre Geschichte vor und nach Ankunft der europäischen Siedler, beschreibt ihre heutige Situation und gibt Einblicke in ihre vielfältigen Kulturen und Lebensweisen. Kundig und anschaulich schildert Geneviève Susemihl soziale Strukturen in den Reservationen und urbanen Gegenden und beschreibt traditionelles Wissen, Beziehungen zum Land und indigenen Tourismus. Sie erklärt schwierige Themen wie den Widerstand gegen die Assimilierungspolitik und Residential Schools sowie aktuelle Debatten um Landrechte, Verträge und Versöhnung. Projekte zur Wiederbelebung traditioneller Sprachen, vielfältige Feste und innovative Unternehmungen betrachtet sie ebenso wie Kunst, Literatur oder Film und zeigt dabei, wie die Menschen sich und ihre Umwelt selbst präsentieren. Geneviève Susemihl nimmt den Leser mit zu faszinierenden Orten und erzählt von persönlichen Erlebnissen und Begegnungen mit Mohawk, Blackfoot, Haida und anderen Indigenen in Kanada. Ein Erlebnisführer mit vielen Vorschlägen für Reiserouten rundet das Buch ab und macht es zu einem wertvollen Begleiter für den nächsten Kanada-Urlaub.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum15. Mai 2023
ISBN9783968554280
Das indigene Kanada: First Nations, Inuit und Métis: Geschichte - Kulturen - Tourismus
Autor

Geneviève Susemihl

Geneviève Susemihl, Kulturwissenschaftlerin, promoviert 2004 und habilitiert 2022 in Nordamerikanischer Kultur und Literatur, beschäftigt sich seit vielen Jahren mit indigenen Kulturen in Kanada und den USA. Sie arbeitete u.a. an der Queen’s University und am Royal Military College in Kingston und erforscht derzeit Welterbestätten und Grenzregionen in Nordamerika. 2016 erschien ihr Buch Bären, Lachse, Totempfähle: Die kanadische Inselgruppe Haida Gwaii am Rand der Welt.

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    Buchvorschau

    Das indigene Kanada - Geneviève Susemihl

    AM ANFANG STEHEN GESCHICHTEN

    Viele First Nations bezeichnen Nordamerika heute als „Turtle Island", basierend auf uralten, mündlich überlieferten Geschichten. Das Land wurde ihnen vom Schöpfer gegeben und Geschichten erklären, wie die Welt und alle Lebewesen und Dinge in ihr einst entstanden sind und wie sich die Menschen verhalten sollen, um ihre Lebenswelt zu bewahren.

    Sky Woman – eine Schöpfungsgeschichte der Haudenosaunee

    ¹

    Am Anfang, als die Erde noch tief unter dem Wasser lag und in der Welt eine große Dunkelheit herrschte, gab es nur die Welt im Himmel, Sky World. Dort existierten weder Krankheit noch Tod, Eifersucht oder Hass. Die Himmelsmenschen hatten besondere Talente und alle trugen zum Gemeinwohl bei. Eines Tages suchte der Chief eine Frau. Um die richtige zu finden, wurde ein Wettbewerb ausgerufen, den Traum des Chiefs zu erraten. Nach vielen Monaten erriet eine junge Frau den Traum. Die Dorfbewohner waren erfreut und richteten die Hochzeit aus. Eines Tages war Sky Woman schwanger und teilte ihrem Mann die Neuigkeit mit. Dieser wurde wütend, denn er konnte sich die Situation nicht erklären. Im Zentrum der Himmelswelt stand ein riesiger Baum mit tiefen Wurzeln, der Licht spendete, denn es gab noch keine Sonne. Voller Wut riss der Mann den Baum aus und ein großes Loch entstand. Neugierig spähte die Frau in das Loch und erkannte tief unten eine Welt bedeckt mit Wasser und Wolken. In diesem Moment schubste der Mann Sky Woman und sie fiel in das Loch im Himmel.

    Sky Woman fiel eine Ewigkeit. Dort unten gab es nichts als Wasser und Vögel und Tiere, die im Wasser lebten, wie Biber, Bisamratte, Ente und Seetaucher. Während sie fiel, erkannten die Tiere weit oben ein Licht. Das war Sky Woman, wie sie vom Himmel stürzte. Aus Angst vor dem Licht tauchten sie unter, doch sie waren auch neugierig. Sie machten sich Sorgen um Sky Women und fragten sich, was mit ihr passieren würde, wenn sie ins Wasser fallen würde. Ein Schwarm Gänse flog ihr entgegen, formierte sich, fing sie auf und trug sie auf ihren Flügeln. Doch lange konnten sie Sky Woman nicht tragen und so suchten sie nach einem trockenen Platz, wo sie sie absetzen konnten. Schließlich baten sie die Schildkröte, Sky Woman auf ihren Rücken zu nehmen. So lebte Sky Woman auf dem Rücken der Schildkröte. Doch sie erwartete ein Kind und die Tiere sahen, dass sie sich unwohl fühlte und berieten, was zu tun sei. Sie hatten gehört, dass es auf dem Meeresgrund einen braunen Schlamm geben sollte, der weich und angenehm war. Den wollten sie für die Frau holen.

    „Ich werde auf den Grund des Meeres tauchen und Erde bringen", erklärte sich der Biber bereit. Er war groß und stark, ein ausgezeichneter Schwimmer und hatte einen kräftigen Ruderschwanz. Er würde es schaffen. Er blieb lange fort. Als er völlig erschöpft auftauchte, hatte er den Meeresgrund nicht erreicht. Als nächstes meldete sich Otter. Er war kleiner und schneller als Biber. Otter tauchte und blieb lange unter Wasser, doppelt so lange wie Biber. Endlich tauchte er auf und die Tiere jubelten, doch auch er hatte keine Erde in seinen Händen. Dann versuchte es Ente, aber sie kam ohne Erde wieder hoch. Viele Tiere versuchten es, doch alle waren erfolglos.

    Schließlich meldete sich Bisamratte. Die Tiere lachten, denn Bisamratte war klein und hatte einen dünnen Schwanz. Sie sprang ins Wasser und tauchte. Lange blieb sie fort und die Tiere warteten und warteten, bis sie des Wartens müde wurden und ihrer Arbeit nachgingen. Nach unendlich langer Zeit tauchte ihr Körper auf. Doch er bewegte sich nicht. Leblos schwamm Bisamratte auf dem Wasser. Die Tiere trauerten um ihren Freund. Sie brachten Bisamratte auf den Schildkrötenpanzer und als sie sie niederlegten, sahen sie, dass sie in ihren kleinen Händen ein klein wenig braune Erde hatte. Nur ein winziges Körnchen.

    Sie platzierten den Schlamm auf dem Rücken der Schildkröte und Sky Woman nahm ihre Trommel, die sie mitgebracht hatte, und begann zu trommeln, zu singen und zu tanzen. Es war der erste Tanz, der auf Mutter Erde getanzt wurde und er ist bis heute heilig. Und während sie tanzte und mit ihren Füßen die Erde liebkoste, begann diese sich auszubreiten und zu wachsen. Sky Woman tanzte Monate und Jahre und hörte erst auf, als die Erde so groß war, dass alle zukünftigen Generationen der Menschen auf ihr Platz hatten. Sky Woman war nicht mit leeren Händen gekommen. Während ihres Sturzes in das Loch im Himmel hatte sie haltsuchend mit ihren Händen in die Äste des Baumes gegriffen und von jeder Pflanzenart Samen mitgebracht. Diese fielen auf die Erde und begannen zu wachsen und sie pflegte sie, bis die Erde grün wurde und Pflanzen als Medizin und Nahrung für alle Wesen auf ihr gediehen. Daher nennen die First Nations Nordamerika heute Turtle Island – Schildkröteninsel.

    Es gibt unzählige Versionen dieser Geschichte. Die Gottheit Sky Woman wurde aus dem Himmel ausgestoßen, weil sie ein Tabu gebrochen und/oder ihr eifersüchtiger Ehemann sie verraten hatte. In einer anderen Version der Geschichte wies der Great Spirit, Herrscher über die Himmelswelt, seine Tochter an, in die dunkle Welt zu gehen und warf sie eigenhändig in das Himmelsloch. Sky Woman ist auch die Mutter der Zwillinge Sky-Holder und Flint, die auch Good Spirit und Bad Spirit bezeichnet werden. In anderen Versionen ist sie die Mutter einer Tochter, Tekawerahkwa oder „Hauch des Windes", die die Zwillinge gebärt. Die Zwillinge repräsentieren Gut und Böse bzw. die Gegensätze des Lebens. Sky-Holder repräsentiert Schöpfung, Leben, Tag und Sommer, während Flint für Zerstörung, Tod, Nacht und Winter steht. In einigen Versionen bevorzugt Sky Woman ihren Enkel Flint, da er sie täuscht und ihr einredet, Sky-Holder habe Tekawerahkwa getötet. In anderen Versionen missbilligt Sky Woman Sky-Holders menschliche Schöpfung mit all ihren Eigenarten. In wieder anderen Versionen unterstützt sie beide Söhne, denn Leben und Tod existieren gleichermaßen in der Welt. Sky Woman wird auch mit dem Mond assoziiert: Sie verwandelt sich entweder selbst in den Mond, hat diesen geschaffen oder Sky-Holder verwandelt nach ihrem Tod ihren Körper in Sonne, Mond und Sterne. In der Mythologie der Haudenosaunee gibt es viele Namen für Sky Woman, denn dies ist eher ein Titel als ihr Name. Sie ist eine Himmelsfrau, da sie eine der Himmelsmenschen, Karionake, ist. Ihr Name lautet Ataensic (Huron), Iagentci („sehr alte Frau in der Sprache der Seneca), Iotsitsisonh oder Atsi’tsiaka:ion („fruchtbare Blume in der Sprache der Mohawk), Awenhai (Cayuga/Seneca) oder Aentsik.

    Raven stiehlt das Licht der Welt

    ²

    Es gab eine Zeit, da war die Welt mit Dunkelheit bedeckt, einer undurchdringlichen, rabenschwarzen Dunkelheit, die das Jagen, Fischen und Beerensammeln schwierig machte. Damals, als es noch nichts auf der Welt gab – keine Bäume, keine Vögel und nicht einmal Fische und Wale und Robben – lebte ein alter Mann in einem Haus am Flussufer. Er lebte dort zusammen mit seiner Tochter. Ob sie so schön war wie die Spitzen der Hemlocktanne im Frühlingshimmel bei Sonnenaufgang oder so hässlich wie eine Nacktschnecke, war schwer zu sagen. Es spielte auch keine Rolle, denn es war ja dunkel. Es spielt auch keine Rolle für diese Geschichte, denn sie spielt vornehmlich im Dunkeln. Denn damals war die gesamte Welt dunkel – pechrabenschwarz, schwärzer als stürmische Winternächte, schwärzer als irgendetwas, das es gab. Das lag an dem alten Mann in dem Haus am Fluss.

    Er besaß eine Truhe. Darin war eine Truhe, in der eine weitere Truhe steckte, die viele weitere Truhen enthielt, jede ein bisschen kleiner als die vorherige. Die letzte, klitzekleine Truhe schließlich enthielt das gesamte Licht des Universums, das der alte Mann selbstsüchtig für sich behielt. Raven – den es damals schon gab, denn er war schon immer da, und es wird ihn immer geben – war nicht zufrieden mit der Lage der Dinge, denn sie führte dazu, dass vieles vermurkst und vermasselt wurde und er ständig irgendwo gegenstieß. Die Dunkelheit behinderte ihn enorm in seinem Streben nach Nahrung, bei der Befriedigung anderer Lüste und bei seinen ständigen Bemühungen, sich in alle Dinge einzumischen und sie zu verändern.

    Eines Tages führte ihn sein Weg zum Haus des alten Mannes, wo er eine feine Stimme singen hörte. Er folgte der Stimme und als er sein Ohr gegen die Holzwand drückte, hörte er die Worte: „Ich habe eine Truhe, und darin ist wieder eine Truhe, und darin sind viele weitere Truhen, und in der kleinsten ist das Licht der Welt, und es gehört mir ganz allein. Ich gebe es niemals weg, nicht einmal meiner Tochter, denn wer weiß, sie kann so hässlich sein wie eine Nacktschnecke, und weder sie noch ich wollen das wirklich wissen. Es dauerte nur einen Augenblick für Raven, um zu beschließen, das Licht zu stehlen. Etwas länger dauerte es, einen Plan zu schmieden, um sein Vorhaben umzusetzen. Zuerst musste er eine Tür in das Haus finden, aber so oft er auch um das Haus herumlief oder die Planken abtastete, es war glatt und ohne Eingang. Manchmal hörte er, wie der Mann oder die Tochter das Haus verließen, aber ganz gleich, wo er war, sie verließen es immer auf der gegenüberliegenden Seite, und als Raven zu der anderen Seite des Hauses herumgelaufen war, schienen die Wände glatt wie zuvor. Schließlich setzte sich Raven an den Fluss und überlegte, wie er in das Haus gelangen könnte. Und wie er so grübelte, dachte er immer öfter an die Tochter. „Sie ist wahrscheinlich so hässlich wie eine Nacktschnecke, sagte er zu sich, aber andererseits könnte sie auch so schön sein wie die Spitzen der Hemlocktanne im Frühlingshimmel bei Sonnenaufgang (nicht dass es damals schon einen Sonnenaufgang gegeben hätte). Da hatte er die Lösung.

    Raven mit dem Licht im Schnabel, Totem Pole, Museum of Anthropology, Vancouver

    Er wartete, bis die junge Frau, deren Schritte er mittlerweile von denen ihres Vaters unterscheiden konnte, zum Fluss kam, um Wasser zu holen. Dann verwandelte er sich in eine Tannennadel, fiel ins Wasser und trieb den Fluss hinunter, gerade rechtzeitig, um von dem Korb, den die Tochter in das Wasser tauchte, aufgefangen zu werden. Sogar als Tannennadel besaß Raven noch Kräfte, die das Mädchen durstig machten und sie einen Schluck Wasser vom Korb trinken ließen, wobei sie die Tannennadel verschluckte. Raven glitt in ihr warmes Inneres und fand einen weichen Platz, an dem er sich wieder verwandelte – dieses Mal in ein sehr kleines, menschliches Wesen. Er schlief eine lange Zeit, und während er schlief, wuchs er. Das Mädchen hatte keine Ahnung, was mit ihr geschah. Und natürlich erzählte sie es nicht ihrem Vater, der nichts Ungewöhnliches wahrnahm, denn es war ja stockdunkel. Bis er plötzlich die Anwesenheit von etwas Neuem im Haus gewahr wurde, als Raven triumphierend in Gestalt eines Jungen erschien. Er war – wenn irgendjemand ihn hätte sehen können – ein merkwürdig aussehender Junge, mit einer langen, schnabelähnlichen Nase und einigen Federn hier und dort. Er hatte die funkelnden Augen des Raben, die seinem Gesicht ein hell leuchtendes, neugieriges Erscheinen gaben. Und er war laut. Er schrie wie ein verwöhntes Kind und ein verärgerter Rabe. Doch er konnte auch so sanft sprechen wie der Wind in den Tannenzweigen, mit dem Echo eines Glockenklanges. Es war zu Zeiten wie diesen, dass sein Großvater dieses neue Mitglied des Haushaltes lieben lernte. Er spielte mit ihm, erfand neue Spiele, fertigte Spielsachen an und verbrachte viele Stunden mit dem Rabenkind.

    Der Rabe ist ein Trickster in den Geschichten vieler First Nations.

    Als Raven sich der Liebe und des Vertrauens des alten Mannes sicher war, begann er, das Haus zu erforschen, um herauszufinden, wo der Alte das Licht versteckt hatte. Nach einigem Erkunden war er überzeugt, dass es in der großen Truhe in der Ecke des Hauses war. Eines Tages hob er vorsichtig den Deckel hoch. Er konnte nichts sehen, fühlte aber den Deckel einer anderen Truhe. Sein Großvater hörte, dass seine wertvolle Schatztruhe geöffnet worden war, schimpfte und drohte strengste Strafe an, wenn das Rabenkind je wieder die Truhe berühren sollte. Es folgte eine Welle geräuschvollen Protests, die nach einer Weile in zärtliches Bitten überging, mit der größten Truhe spielen zu dürfen. Die Truhe, sagte das Rabenkind, sei das einzige, das es wirklich glücklich machen würde. Wie wohl alle Großväter seit jeher gab auch der alte Mann schließlich nach und reichte seinem Enkel die größte Truhe. Damit war der Junge für einige Zeit zufrieden.

    Aber wie wohl alle Enkel seit jeher verlangte Raven bald nach der nächsten Truhe. Es dauerte viele Tage und Schmeicheleien, durchzogen mit gut geplanten Wutanfällen, doch mit der Zeit entfernte der Alte eine Truhe nach der anderen und schenkte sie dem Jungen. Als nur noch wenige übrig waren, begann ein merkwürdiges Strahlen die Dunkelheit des Hauses zu erfüllen und enthüllte vage Formen und Schatten. Schließlich bat das Rabenkind, das Licht nur für einen kurzen Moment halten zu dürfen. Die Bitte wurde sofort abgeschlagen. Aber natürlich gab sein Großvater mit der Zeit nach. Der alte Mann hob das Licht in Form eines hell leuchtenden Balls aus der letzten Truhe und warf es seinem Enkel zu. Dabei warf er einen flüchtigen Blick auf das Kind, dem er so viel Liebe und Zuwendung geschenkt hatte. Doch als das Licht zu ihm flog, verwandelte sich das Kind von seiner menschlichen Gestalt in einen riesigen, glänzenden Schatten mit ausgebreiteten Flügeln und geöffnetem Schnabel. Raven fing das Licht mit seinem Schnabel, schwang seine großen Flügel und schoss durch das Rauchloch des Hauses in die Dunkelheit der Welt. Diese veränderte sich augenblicklich. Berge und Täler zeichneten sich ab, der Fluss glitzerte mit gebrochenen Reflektionen und überall begann Leben zu erwachen.

    In der Ferne erhob sich eine andere Gestalt mit großen Schwingen in die Lüfte. Das Licht hatte auch die Augen des Adlers geblendet und ihm sein Ziel gezeigt. Der Rabe flog weiter, erfreute sich an seinem herrlichen Besitz, bewunderte den Effekt, den das Licht auf die Welt unter ihm hatte und schwelgte in der Fähigkeit, sehen zu können, wohin er flog, anstatt blind zu fliegen und auf das Beste zu hoffen. Er genoss seinen Erfolg so sehr, dass er den Adler nicht bemerkte, bevor dieser fast bei ihm war. In Panik wich er ihm aus, um dessen ausgestreckten Klauen zu entgehen. Dabei verlor er die Hälfte des Lichts, das er im Schnabel trug. Das Licht fiel auf den steinigen Boden in der Tiefe und zerbrach in tausend Stücke – in ein großes und unzählige kleine. Sie prallten zurück in den Himmel und blieben dort hängen, wo sie als Mond und Sterne die Nacht erhellen. Der Adler folgte Raven über den Rand der Welt hinaus. Erschöpft von der Verfolgung ließ Raven das letzte Stück Licht fallen, das außerhalb der Welt langsam zu den Wolken glitt und über den Bergen im Osten aufstieg.

    Seine ersten Strahlen erreichten auch das Haus am Fluss, wo der alte Mann saß und bitterlich über den Verlust seines kostbaren Lichts und den Betrug seines Enkels klagte. Doch als ihn das Licht erreichte, blickte er auf und sah das erste Mal seine Tochter, die still am Ufer gesessen hatte, überwältigt vom Verlauf der Ereignisse. Und als der alte Mann sah, dass sie so schön war wie die Spitzen der Hemlocktanne im Frühlingshimmel bei Sonnenaufgang, fühlte er sich schon ein kleines bisschen besser.

    Raven wird von vielen indigenen Künstlern auf Totempfählen und in anderen Werken dargestellt.

    Der Rabe ist ein Schlüsselelement der Mythologie vieler First Nations entlang der Nordwestküste, die seit Jahrtausenden mit ihm Seite an Seite leben und seine Lebensweise und sein Verhalten genauestens studiert haben. Raven gilt als trickster, als trickreicher Gauner und dreister Schwindler, aber auch als Katalysator für Veränderung. Motiviert von Neugier, Maßlosigkeit und Hemmungslosigkeit symbolisiert er Kreativität und Humor. Da er sich schnell langweilt und ständig nach neuen Herausforderungen sucht, gerät er häufig in Situationen, die ein ungewöhnliches, kreatives Verhalten erfordern. Dabei handelt Raven oft überstürzt und unüberlegt, benimmt sich anstößig und gewissenlos der Gesellschaft gegenüber und muss dafür zuweilen einen hohen Preis bezahlen. Sein Handeln aber verändert die Welt und die Folgen sind für die Menschen von Nutzen. Die Geschichten seiner Abenteuer – die trickster tales – geben zudem Handlungsanweisungen für das Zusammenleben in der Gemeinschaft. Für die Menschen hat die Welt viele Gesichter. Sie ist weder gut noch böse, aber oft unberechenbar und Raven ist Teil dieser Welt und vieler creation stories – Geschichten, die von der Entstehung der Welt berichten. Der gefiederte Halbgott war zwar nicht bei der Entstehung der Welt an sich beteiligt, half aber bei der Erschaffung ihres gegenwärtigen Zustands – mit all ihren Vorzügen und Defiziten.

    Sedna, Göttin der Meere – eine Geschichte der Inuit

    ³

    Vor langer Zeit lebte am Ufer des Meeres ein alter Inuk mit seinen Tochter Sedna. Seine Frau war vor vielen Jahren gestorben und die zwei führten ein ruhiges Leben. Sedna wuchs zu einer wunderschönen Frau heran und junge Männer von nah und fern hielten um ihre Hand an. Niemand jedoch konnte ihr stolzes Herz erweichen. Einen Bewerber nach dem anderen wies sie ab; niemand schien ihr gut genug. Eines Tages im Frühling, als das Eis zu schmelzen begann, erschien ein vermummter Jäger und bat ihren Vater um ihre Hand. Er bot ihm reichlich Fisch und Jagdbeute, versprach, für seine Frau zu sorgen und sie mit den wärmsten Pelzen und den schmackhaftesten Köstlichkeiten zu verwöhnen. Der Vater stimmte zu und reichte Sedna einen Schlaftrunk, um sie zu betäuben, und der fremde Jäger nahm seine Braut in seinem Kajak mit. Als Sedna aufwachte, musste sie erkennen, dass ihr Ehemann ein Sturmvogel war und ihr neues Heim kahle, öde Klippen. Ihre Wohnung war nicht mit weichen, warmen Pelzen ausgestattet, sondern mit kalten, löchrigen Fischhäuten, die Wind und Schnee durchließen. Statt weicher Rentierhäute bestand ihr Bett aus harten Walrosshäuten und als Nahrung erhielt sie nur elenden Fisch, den die Sturmvögel brachten. Sie erkannte, dass sie ihre Möglichkeiten weggeworfen hatte, als sie in ihrem dummen Stolz die jungen Inuit abgewiesen hatte. Senda weinte bitterlich, schrie in den Wind und rief ihren Vater um Hilfe an: „Oh Vater, wenn du wüsstest, wie elend es mir ergeht, so würdest du mich holen und wir würden in deinem Boot über das Wasser wegfahren. Die Vögel schauen voller Verachtung auf mich als Fremde, kalte Winde wehen um mein Bett. Bitte komm und hole mich."

    Nach einem Jahr, als warme Winde über das Wasser wehten, wollte der Vater seine Tochter besuchen. Sedna begrüßte ihn und bat ihn, sie mit nach Hause zu nehmen. Als ihr Vater von dem Betrug hörte, beschloss er, sich zu rächen. Er tötete den Sturmvogel, nahm Sedna in sein Boot und gemeinsam flohen sie aus dem Land, das Sedna so viel Unglück gebracht hatte. Als die anderen Sturmvögel heimkamen und ihren Kameraden tot vorfanden, flogen sie los, um die Flüchtigen zu suchen. Sie waren traurig über den Tod ihres Kameraden und sie trauern bis heute mit ihren schrillen Schreien. Als sie das Boot der Fliehenden sahen, peitschten sie mit ihren Flügeln die eiskalten Wellen auf, die das Boot gefährlich hin und her schleuderten. In seiner Todesangst entschloss sich der Vater, Sedna zu opfern und warf sie über Bord. Sedna klammerte sich mit beiden Händen an das Boot. Doch ihr Vater nahm sein Messer und schnitt ihr die ersten Glieder ihrer Finger ab. Als sie ins Wasser fielen, wurden sie zu Walen, die Fingernägel zu Knochen. Sedna klammerte sich noch fester an das Boot und der Vater schnitt die zweiten Fingerglieder ab, die sich in Seelöwen verwandelten. Als er die Fingerstümpfe abschnitt, wurde diese zu

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