Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Die Chiffren des Schäfers
Die Chiffren des Schäfers
Die Chiffren des Schäfers
eBook302 Seiten3 Stunden

Die Chiffren des Schäfers

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Hauptkommissar Klaus-Hagen Schäfer ist Kriminalist aus Leidenschaft und Kölner aus Passion. Abseits seiner aufreibenden Tätigkeit will er einfach nur Ruhe haben und sein Leben genießen, aber das Verbrechen in seinen mannigfachen Schattierungen folgt ihm überall hin nach.
SpracheDeutsch
HerausgeberTWENTYSIX
Erscheinungsdatum30. Mai 2018
ISBN9783740794866
Die Chiffren des Schäfers
Autor

Martin Genahl

Martin Genahl wurde im niederösterreichischen Stockerau geboren und studierte Komposition, Ge-schichte, Psychologie und Numismatik in Köln und Wien, wo er als freischaffender Schriftsteller und Komponist lebt. Sein literarisches Schaffen umfasst Romane, Kurzgeschichten, Theaterstücke, Hörspiele und Libretti.

Mehr von Martin Genahl lesen

Ähnlich wie Die Chiffren des Schäfers

Ähnliche E-Books

Mystery für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Die Chiffren des Schäfers

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Die Chiffren des Schäfers - Martin Genahl

    Martin Genahl wurde im niederösterreichischen Stockerau geboren und studierte Komposition, Geschichte, Musikwissenschaft und Numismatik in Köln und Wien, wo er als freischaffender Schriftsteller und Komponist lebt. Sein literarisches Schaffen umfasst Romane, Kurzgeschichten, Theaterstücke, Hörspiele und Libretti. „Die Chiffren des Schäfers ist sein dritter Kriminalroman (nach „Der Tag, an dem es Kapitalisten regnete und „Extremitäten", die beide im Berlin der Weimarer Republik spielen).

    Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind ungewollt und rein zufällig.

    Für Ela

    Inhaltsverzeichnis

    Prolog: In Bergheim

    Schäfers erster Fall - Anno 1985

    Chiffre I: In Köln

    Im Westen der Republik des Jahres 2008

    Kapitel 1

    Kapitel 2

    Kapitel 3

    Kapitel 4

    Kapitel 5

    Kapitel 6

    Kapitel 7

    Kapitel 8

    Kapitel 9

    Kapitel 10

    Kapitel 11

    Chiffre II: In Wyk auf Föhr

    Im Norden der Republik des Jahres 2009

    Chiffre III: In Gotha

    Im Osten der Republik des Jahres 2010

    Kapitel 1

    Kapitel 2

    Kapitel 3

    Kapitel 4

    Kapitel 5

    Kapitel 6

    Kapitel 7

    Kapitel 8

    Kapitel 9

    Kapitel 10

    Kapitel 11

    Kapitel 12

    Kapitel 13

    Kapitel 14

    kapitel 15

    Kapitel 16

    Kapitel 17

    Chiffre IV: In Wien

    Im Süden der Republik (und darüber hinaus) des Jahres 2011

    Epilog: Zurück in Köln

    Ein süßer Kulturgenuss – Anno 2015

    Prolog – In Bergheim

    Schäfers erster Fall - Anno 1985

    Aus den Lautsprechern des Radios tropfte das neue Lied von Phil Collins, doch die schmalzige Ballade hatte keine Chance gegen das hysterisch kreischende Kind in der Nachbarwohnung, das Klaus-Hagen Schäfer seit Monaten den Schlaf raubte. Just als er die Wohnung Richtung S-Bahn verlassen wollte, rundete der Anruf seines direkten Vorgesetzten, des Präsidenten, wie ihn alle Kollegen halb anerkennend und halb scherzhaft nannten, den verregneten Morgen nach unten ab.

    „Oberkommissar Schäfer, Sie können sich den Weg nach Köln heute sparen, ihr Heimatdörfchen hat um unsere Unterstützung angesucht. Ein Mord.", überrumpelte ihn die ehrfurchtgebietende Bassstimme des Präsidenten, der nach allgemein vorherrschender Meinung seine aktuelle Position als Dezernatsleiter ohnehin nur als lästige Zwischenstation auf dem Weg zur totalen Macht betrachtete.

    „Ein Mord? In Bergheim? Hier? Heute?", zeigte sich Schäfer hochgradig überrascht.

    „Glauben Sie es ruhig, es kommt noch besser., lachte sein Vorgesetzter. „Der Tatort befindet sich in Ihrer alten Schule, dem Erftgymnasium.

    „Es gab einen Mord in der Anstalt?", entfuhr es Schäfer ungläubig, als könnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass gerade an einer seiner früheren Wirkungsstätten irgendetwas Bedeutendes geschehen konnte.

    „Ich wusste, Sie würden den Fall lieben. Beeilen Sie sich, der Direktor erwartet Sie bereits.", beendete der Präsident kurzerhand das Gespräch.

    Schäfer sattelte also im wahrsten Sinne des Wortes um und holte sein leicht angestaubtes Fahrrad aus dem mit Spinnweben überzogenen Kellerabteil. Bis zum Gymnasium sollte er nicht länger als acht oder zehn Minuten brauchen. Schäfer nutzte die nostalgische Fahrt zu seiner ehemaligen Schule, um seine ersten Gedanken zu dem Verbrechen zu ordnen, kam aber nicht weit, weil ihm allzu schnell die Informationen ausgingen. Der Präsident hatte nicht einmal erwähnt, wer das Opfer sei, lediglich, dass der Direktor ihn erwartete. Der schied aller Wahrscheinlichkeit nach somit aus, was ihm durchaus bedauernswert erschien. Unter normalen Umständen legte Schäfer übrigens sehr viel Wert auf die Feststellung, dass er durchaus gebürtiger Kölner sei, den lediglich die widrigen Umstände in jungen Jahren nach Bergheim verschlagen hatten, wo er nunmehr in Folge von Trägheit und Alltagstrott bis heute festsaß. Von wegen Heimatdörfchen, aber dieses Mal war die Überraschung größer gewesen als sein Drang, nicht als Bergheimer gelten zu wollen, deshalb fiel die ansonsten obligatorische Klarstellung ausnahmsweise aus. Als er bei der Anstalt, wie er sie nach wie vor nannte, ankam, überfiel ihn wieder die altvertraute Beklemmung, die ihn während der neun Jahre im Bildungsbunker treu begleitet hatte, und die es sogar heute noch schaffte, das soeben gehörte One More Night als Ohrwurm aus seinem Gehirn zu vergraulen. Noch bevor er die Schule betreten konnte, stellte ihn einer der ortsansässigen Ordnungshüter, der es gar nicht erwarten konnte, die Verantwortung für diesen unerquicklichen Vorfall schnellstmöglich abzuschieben. Schäfer erinnerte sich an das Gesicht. Der ländliche Kollege hatte zwar zwei Jahre mehr auf dem Buckel als er selbst, aber in schulischer Hinsicht hatte Schäfer ihn damals rasch eingeholt, so waren sie kurze Zeit Klassenkameraden gewesen, ehe der emsig bemühte Langzeitschüler vorzeitig abging und nach einer Ablehnung bei der Post schließlich im mittleren Polizeidienst landete. Wenn auf dem flachen Land etwas reibungslos funktionierte, dann der Tratsch – und natürlich die Vetternwirtschaft. Schäfer würgte den leicht vorhersehbaren Versuch, sich nach einem knappen Bericht der Eckdaten des Falles unmittelbar wieder aus dem Staub zu machen, mit der schlichten Begründung, er bräuchte in dieser außergewöhnlichen Situation dringend einen Assistenten, bereits im Ansatz ab und nahm die widerwillige Zustimmung seines früheren Mitschülers zufrieden zur Kenntnis. Am Tatort, einem Klassenzimmer im ersten Stock, erwartete den Ermittler bereits der Leiter der Anstalt, Oberstudiendirektor Zacharias Wolf, seines Zeichens begeisterter Lateiner und brillanter Trinker, beides im gleichen Ausmaß.

    „Ich erinnere mich ganz genau an Sie, Schäfer, ganz genau, ich wusste, aus Ihnen wird einmal was. Und ich hatte recht. In so jungen Jahren schon Kriminaloberkommissar. Nur wenige Jahre nach dem Abitur. Das ist zu einem guten Teil natürlich auch unser Verdienst als Wissensvermittler.", überfiel Wolf seinen ehemaligen Schüler mit einem gehörigen Schwall aus Eigenlob.

    „Vielen Dank für die späten Blumen, Herr Direktor, aber mein Abschluss liegt doch schon einige Jahre in der Vergangenheit, und weder meine Zensuren, noch sonstige äußere Einflüsse haben mich in diese Position gebracht. Die Lorbeeren dafür muss ich leider für mich alleine beanspruchen.", entwand sich Schäfer der unangenehmen Jovialität und ließ einen konsternierten Pädagogen zurück.

    Der eben noch so hoch Gelobte begutachtete gewissenhaft den Tatort. Wir hatten Anfang August, Ferienende, aber noch kein Vollbetrieb, deshalb war die Schule praktisch leer. Zum Zeitpunkt des Mordes muss das Opfer nahezu alleine mit dem Täter gewesen sein. Bei der Leiche handelte es sich um den ältestgedienten Lehrer des Gymnasiums, Studiendirektor Laurenz Müller, passionierter Mathematiker und von seinen leidgeplagten Schülern in Anlehnung an Friedrich Torbergs Roman Der Schüler Gerber nur Gott Kupfer genannt. Zweifelsfrei einer der unangenehmsten Zeitgenossen unter der Sonne, folglich alleinstehend und kinderlos, dafür mit einer klaffenden Stichwunde im Rücken ausgestattet. Schäfer kannte Müller noch aus seiner eigenen Schulzeit, musste ihn aber glücklicherweise nur ein einziges Jahr als Pauker ertragen. Studiendirektor Müller gehörte zu jenen sentimentalen Zeitgenossen, die ihre Schützlinge auch vierzig Jahre nach Kriegsende am liebsten noch mit den Händen an der Hosennaht vor dem Zeichensaal antreten und gelegentlich auch über den Schulhof exerzieren hätten lassen, wenn es die Möglichkeit dazu gegeben hätte, was von den anderen Lehrkräften und der Schulbehörde allerdings geflissentlich übersehen und überhört wurde. In diesem Stil pflegte er auch sein Regiment - Verzeihung: seinen Unterricht - zu führen. An potentiell Tatverdächtigen und nachvollziehbaren Mordmotiven sollte es also nicht mangeln. Schäfer untersuchte den Leichnam und entdeckte auffällige Kreidespuren an den Fingern und am Gesäß des Opfers. Letzteres war ungewöhnlich - das bezog sich nicht auf Müllers Hinterteil, sondern seine kreideverschmierten Griffel -, dem sollte nachgegangen werden. Neben der üblichen, fix an der Wand befestigten Tafel, befand sich noch eine zweite, etwas kleinere und auf einer Staffelei montierte Schiefertafel im Raum. Vermutlich war das alte Ding eigens aus der hintersten Ecke eines Lagerraums gewuchtet worden, um darauf die Aufgaben für die Neuankömmlinge zu kritzeln. Ungewöhnlich erschien allerdings, dass sie mit dem Gesicht zum Fenster stand, das machte keinen Sinn, außerdem war sie ganz offensichtlich umgefallen und danach wieder aufgestellt worden.

    „Der Tatort wurde verändert.", grollte Schäfer missmutig und drehte die Tafel zu sich.

    Sie war leer, lediglich in der rechten oberen Ecke waren mit zittriger Hand zwei Kreise, ein größerer und ein kleinerer, aufgemalt worden. Sie waren leicht verwischt, aber noch deutlich erkennbar

    „Was könnten diese beiden Kreise bedeuten?", murmelte er geistesabwesend.

    „Genau genommen sind es zwei Ellipsen.", dozierte Oberstudiendirektor Wolf.

    „Und genau deshalb sind Lehrer auch so beliebt!", schoss es Schäfer durch den Kopf.

    Nachdem auch sonst niemand einen konstruktiven Beitrag leisten konnte, knöpfte er sich wohlbegründet den Schulwart in dessen winzigem Kämmerchen vor, wobei sich rasch herausstellte, dass tatsächlich selbiger die Leiche entdeckt hatte und in pflichtbewusster Unbedarftheit kein Chaos hinterlassen wollte. Der gute Mann hatte den Tatort also notdürftig in Stand gesetzt und dabei wichtige Spuren vernichtet, noch bevor er den Schulleiter informierte, schied aber schon aus purer Debilität und mangels Motiv als Tatverdächtiger aus. Ebenso schnell musste Schäfer einen weiteren, vielversprechenden Verdächtigen, jenen Schüler, den Müller nicht in die nächsthöhere Klasse aufsteigen lassen wollte, und dessen Nachprüfung zur Versetzung eigentlich anstand, von der Liste streichen, nachdem sein Assistent wider Willen ihn aus dem Bett klingeln musste, in das er augenscheinlich erst kurz zuvor im Vollrausch gestolpert war. In diesem Zustand wäre es ihm vermutlich nicht einmal möglich gewesen, die Schule überhaupt zu finden, was wohl auch für die neunte Klasse gelten dürfte.

    Also zurück an den Start: Die Tat musste zwischen sieben und acht Uhr morgens stattgefunden haben. Müller war bekannt dafür, seit jeher täglich als einer der ersten im Gymnasium aufzutauchen, aber wer war außer dem späteren Opfer noch derart früh in der Schule anwesend? Freiwillig! Wer kam überhaupt hinein? Schließlich blieb die Tür aus gutem Grund über Nacht nie unversperrt. Somit reduzierte sich dieser illustre Kreis auf den Schulwart, die Sekretärin, das Lehrpersonal und einen potentiellen Einbrecher, wobei freilich nirgends eine Spur für gewaltsames Eindringen festzustellen war, das hatte Schäfer seinen Assistenten auf Zeit akribisch genau untersuchen lassen. Sah nicht gut aus! Schäfer klammerte sich an den letzten Strohhalm und blätterte in der Hoffnung auf eine zündende Idee in Müllers Unterlagen, die noch auf dem Lehrertisch lagen, wo er nach kurzer Suche tatsächlich einen erhellenden Hinweis fand, allerdings an einer Stelle, an der er ihn niemals vermutet hätte. Unter dem Vorwand, dringend seine Dienststelle anrufen zu müssen, verschaffte er sich Zutritt zu Wolfs Büro, wo er neben einigen leeren Weinflaschen tatsächlich den erhofften Beweis sicherstellen konnte, nämlich einen zerrissenen Brief im Papierkorb des Schulleiters, dessen Schnipsel er elegant in seiner Tasche verschwinden ließ. Der Rest war Routine. Eine knappe Stunde später klickten bei Oberstudiendirektor Wolf die Handschellen und er wurde unter den ungläubigen Blicken von Kollegen, Sekretärin und Schulwart abgeführt.

    „Tatsächlich der Alte?, zeigte sich auch der temporär zwangsrekrutierte Kollege bei der anschließenden Verabschiedung fassungslos. „Warum eigentlich?

    „Eifersucht., nahm Schäfer die Einladung zur ausführlichen Erklärung seiner genialen Schlussfolgerungen dankend an, sein Zug nach Köln fuhr schließlich erst in knapp zwanzig Minuten. „Die beiden alten Säcke haben selbst im Spätherbst ihres ansonsten ereignislosen Lehrerlebens noch um die Gunst einer jungen Kollegin gebuhlt. Sie ist Musiklehrerin und neu an der Schule, das hat die langgedienten Silberrücken offenkundig scharf und wieder jung gemacht. Den Brief, in dem die mehrfach Angebetete Wolf mitgeteilt hat, dass er bei ihr abgeblitzt ist, habe ich aus dem Papierkorb gefischt. Es dauerte fast vierzig Minuten, ihn wieder zusammenzufügen. Das älteste Motiv der Welt. Wieder einmal. Dabei konnte Müller auch nicht bei ihr landen, aber er hat es am Telefon erfahren. Dieses Detail hat mir die Dame bereitwillig bestätigt, doch davon wusste Wolf nichts.

    Angesichts der über dem Kopf seines Gegenübers schwebenden Fragezeichen legte Schäfer eine kurze Verschnaufpause ein.

    „Den entscheidenden Tipp habe ich von Müller selbst erhalten., klärte er schließlich auch noch die letzte offene Frage. „Wolf hat von hinten zugestochen. Müller klammerte sich an die Tafel und riss sie mit sich um. Dann hat er sich wohl umgedreht und seinen Mörder erkannt, wusste aber, dass er keinen direkten Hinweis hinterlassen konnte, weil Wolf diesen sofort vernichtet hätte, also malte er hinter seinem Rücken das an die Tafel, was ich im ersten Moment irrtümlich für zwei Kreise hielt. In Wahrheit ist es eine Potenz, Null hoch Null, was per festgesetzter Definition Eins ergibt, wie mir Müllers Unterlagen verrieten. Und wer ist die Nummer Eins an der Schule?

    Schäfers Ausführungen entlockten den Umstehenden ein anerkennendes Raunen inklusive respektvollem Kopfnicken. So hatte er sich das vorgestellt.

    „Gut, dass der Direx kein Mathematiker ist.", lachte der wackere Dorfpolizist, während Oberinspektor Schäfer selbstzufrieden pfeifend Richtung Bahnhof schlenderte.

    Sein Fahrrad steht vermutlich heute noch vor der Schule und rostet fröhlich vor sich hin.

    Kurz und bündig, aber genau so hat mein alter Freund seinen Jungfernfall, wie er ihn gerne nennt, in Erinnerung behalten, dessen bin ich mir absolut sicher, schließlich musste ich die Geschichte unzählige Male über mich ergehen lassen, ehe ich mich endlich bereit erklärte, sie für die Nachwelt aufzuschreiben.

    Chiffre I – In Köln

    Im Westen der Republik des Jahres 2008

    Kapitel 1

    Es gab absolut nichts zu tun. Neben völlig belanglosen Fernsehsendungen und ein paar veralteten Videospielen, deren monotone Geräuschkulisse nicht nur die Spielenden nervte, blieb lediglich das Warten auf den heiß ersehnten Feierabend. Es war nicht die erste Nachtschicht in einem kleinen Kölner Polizeirevier, die nach diesem Muster ablief. Auch als gegen zwei Uhr morgens das Telefon klingelte, rechnete keiner der gelangweilten Kollegen mit einem ernstzunehmenden Einsatz. Die Wahrscheinlichkeit, dass es sich dabei nur um eine Beschwerde wegen nächtlicher Ruhestörung handelte, die routinemäßig in den Papierkorb wandern würde, war ungleich höher. Doch ein einziger Blick auf den Gesichtsausdruck des Beamten, der das Telefonat entgegennahm, zeigte, dass hier etwas bedeutend Ernsteres in der Luft lag. Kaum hatte er den Hörer aufgelegt, schnappte er sich seine Jacke und bedeutete einem Kollegen, ihm zu folgen.

    „Wir haben eine Leiche in einem Abbruchhaus.", instruierte er diesen knapp, der auch sofort alles stehen und liegen ließ und mit ihm zum Wagen rannte.

    Mit quietschenden Reifen ging es los.

    „Was ist denn mit dir? Du machst ja ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter. Das ist doch nicht der erste Tote zu dem wir gerufen werden. Vermutlich ein Penner, der sich totgesoffen hat."

    Nachdem sie schon ein paar Kilometer in einem Höllentempo, das seinesgleichen suchte, durch die Stadt gefahren waren, ohne ein weiteres Wort gewechselt zu haben, erschien die Frage durchaus berechtigt.

    „Wenn ich dem hysterischen Geschrei am Telefon glauben kann, wird das kein Routineeinsatz. Die Frau war dermaßen durch den Wind, dass ich nur die Hälfte von dem, was sie gesagt - vielmehr gestottert - hat, überhaupt verstehen konnte. So einen Schock holst du dir nicht beim Anblick einer toten Ratte. Du solltest davon ausgehen, dass die Sache hässlich wird."

    Schweigend, jeder in seine eigenen Gedanken versunken, jagten sie weiter durch die menschenleeren Straßen. Die Ungewissheit blieb. Manche wurden eben auch beim Anblick eines toten Nagetiers hysterisch.

    Am Fundort der Leiche angekommen, schlug den Beamten dann auch direkt ein widerwärtig süßlicher Geruch entgegen. Ein überaus typisches Aroma. Es roch nach verwesendem Fleisch. In einer dreckigen Ecke des baufälligen Gebäudes kauerte die komplett verstörte Anruferin, eine junge Frau, vollkommen verwahrlost, in zerrissenen Klamotten. Die bemitleidenswerte Kreatur hatte vermutlich nur ein trockenes Plätzchen für die Nacht gesucht. Unentwegt deutete sie mit der Hand in Richtung des Nebenraumes. Ihr Gesicht war so weiß wie die Wand, an der sie sich abstützen musste.

    „Kümmere dich mal um die Kleine, ich schaue mir das an.", ergriff der Dienstältere die Initiative.

    Mit einem Taschentuch vor der Nase, um den ekligen Gestank ertragen zu können, betrat der Polizist den Raum, während der zweite Beamte sich der hemmungslos weinenden und zitternden Frau annahm, die jedoch nicht zu beruhigen war. Der Schrecken saß offenkundig tief, und ihr Zustand gab Anlass zu ernsthafter Besorgnis.

    „Wir brauchen hier schnellstens einen Krankenwagen."

    Der Funkspruch war längst überfällig gewesen.

    „Ist schon unterwegs, müsste gleich am Einsatzort eintreffen!", quäkte es daraufhin aus dem Funkgerät.

    Sekunden verstrichen wie Stunden, während die vermeintliche Augenzeugin ungebremst auf einen kapitalen Nervenzusammenbruch zusteuerte. Die Anspannung war ebenso unerträglich wie die Dunkelheit, die sich wie ein Leichentuch über die Szenerie legte. Endlich kam der Kollege aus dem Nebenraum zurück. Seine Schritte waren schwer und unsicher, das Gesicht kreidebleich. Kurz blickte er seinen Partner an, dann rannte er zur gegenüberliegenden Ecke, um sich zu übergeben. Langsam rutschte er rücklings an der modernden Wand herunter, seine Stimme bebte.

    „Das ist eindeutig eine Nummer zu groß für uns."

    Kapitel 2

    Hauptkommissar Klaus-Hagen Schäfer rutschte auf Händen und Knien durch seine Küche und versuchte, das Paprikapulver, das er gerade in hohem Bogen gleichmäßig auf dem Boden verteilt hatte, wieder einzusammeln. Schließlich wollte sein legendäres Gulasch auch entsprechend gewürzt sein. Er hatte das Paket mit dem edelsüßen Pulver nicht aus blanker Unachtsamkeit fallen lassen, vielmehr hatte genau im wirklich ungünstigsten Moment sein Diensthandy geläutet und ihm dadurch einen derartigen Schrecken versetzt, dass es unweigerlich zu besagtem Missgeschick kommen musste. Die Titelmelodie zum Film Der weiße Hai, die er den Anrufen aus dem Kommissariat zugewiesen hatte, hörte er nicht mehr oft in letzter Zeit, um so ernster musste es genommen werden, wenn es doch wieder einmal passierte.

    „Was gibt es?", meldete er sich missmutig.

    Das schwere Schnaufen am anderen Ende der Leitung verriet unmittelbar den Teilnehmer am anderen Ende der Leitung, namentlich seinen direkten Vorgesetzten, Kommissariatsleiter Adrian Haidt, mit dem ihn eine sorgsam gepflegte Männerfeindschaft verband. Selbige begann tatsächlich an jenem Tag, an dem sie das erste Mal aufeinandertrafen. Das war nämlich der Tag, an dem dieser kleine, überprivilegierte Karrierist ihm, der eigentlich für den Posten des Leiters des Kommissariats vorgesehen und auch ungleich besser qualifiziert war, von einem Rudel korrupter Stadtpolitiker vor die Nase gesetzt wurde. Somit war die längst überfällige Beförderung Geschichte - und der Klüngel hatte wieder einmal die Vernunft besiegt. Ausgehend von diesem schicksalshaften Zeitpunkt, verschlechterte sich das Verhältnis zwischen den beiden Männern buchstäblich von Minute zu Minute. Es war Hass auf den ersten Blick. Das war jetzt knapp vier Jahre her und markierte gleichzeitig den Anfang des langsamen Niedergangs von Schäfers Karriere. Seither waren für ihn nur mehr die perversen Serientäter, Kinder- und Ritualmorde, und natürlich die praktisch unlösbaren Fälle reserviert. Selbstverständlich geschah all das vorsätzlich und in der Hoffnung, dass er früher oder später seelisch an dieser Bürde zerbrechen und hinschmeißen würde. Aber den Gefallen wollte er diesem rückgratlosen Schleimer nicht erweisen.

    „Es gibt Arbeit, Schäfer, ich erwarte Sie in spätestens einer Stunde in meinem Büro.", drang es in herrischem Ton an sein Ohr.

    An den Verlust jeglicher Manieren im Umgang mit den Mitmenschen würde sich Schäfer zwar nie gewöhnen, hatte es aber mittlerweile aufgegeben, sich diesem flächendeckenden Phänomen großartig entgegenzustellen, auch wenn er selbst sich niemals an dieser Modeerscheinung beteiligen würde. So war das Leben nun einmal, zumindest seines, doch trotz aller Unwegbarkeiten übte er seinen Beruf gerne aus und leistete deshalb auch den schroffen Anweisungen seines Vorgesetzten Folge. Rasch tauschte er die legere Jogginghose wieder gegen Straßenkleidung ein und machte sich auf den Weg zum Kommissariat. Ein letzter sehnsüchtiger Blick fiel beim Verlassen der Wohnung noch auf den dampfenden Kochtopf. Aber egal. Gulasch schmeckte aufgewärmt sowieso besser.

    Schäfer lenkte seinen zwanzig Jahre alten Mazda durch das abendliche Köln. Unter normalen Umständen würde er diese Fahrt genießen, aber mit der Perspektive, gleich auf Haidt zu treffen, wollte sich kein angenehmes Gefühl bei ihm einstellen. Wie immer zu schnell und unter Aufwendung sämtlicher Flüche, die er im Repertoire hatte, schlängelte er sich durch den traditionell chaotischen Verkehr. Es hatte seine Vorteile, einen

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1