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Der neue Prozess: Gefangen in einem kafkaesken Labyrinth
Der neue Prozess: Gefangen in einem kafkaesken Labyrinth
Der neue Prozess: Gefangen in einem kafkaesken Labyrinth
eBook255 Seiten3 Stunden

Der neue Prozess: Gefangen in einem kafkaesken Labyrinth

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Über dieses E-Book

Tina K., eine gut aussehende, erfolgreiche, aber eher gefühlskalte Immobilienmaklerin, wird am Morgen ihres 30. Geburtstages offenbar grundlos verhaftet. Unter der Aufsicht von drei Bewachern darf sie sich zwar frei bewegen, sie erfährt jedoch weder, was man ihr konkret zur Last legt, noch weiß sie, welches Urteil sie befürchten muss.
Sowohl ihre Tante als auch einige Männer versuchen, der attraktiven jungen Frau zu helfen. Trotzdem gerät sie immer tiefer in ein scheinbar undurchschaubares juristisches Labyrinth und schwankt verzweifelt zwischen blindem Aktionismus und Resignation.
Am Ende setzt Tina K. all ihre Hoffnungen auf einen Geistlichen, der es – ohne jeden Hintergedanken – gut mit ihr zu meinen scheint. Doch zu spät begreift sie, um welche Art des Prozesses es sich handelt.
SpracheDeutsch
HerausgeberKLECKS-VERLAG
Erscheinungsdatum31. März 2018
ISBN9783956833571
Der neue Prozess: Gefangen in einem kafkaesken Labyrinth
Autor

Dr. Tilly Kübler-Jung

Tilly Kübler-Jung wurde 1968 in Mannheim geboren. Nach einer juristischen Berufsausbildung beim Amtsgericht Mannheim studierte sie Germanistik und Soziologie an der Universität Heidelberg und promovierte über ein Frühwerk von Franz Kafka. Heute lebt sie mit ihrem Mann und drei Hunden in einem historischen Fachwerkhaus im Kraichgau und arbeitet als Dozentin für Deutsch als Fremdsprache.

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    Buchvorschau

    Der neue Prozess - Dr. Tilly Kübler-Jung

    Kapitel

    Dr. Tilly Kübler-Jung

    Der neue Prozess

    Gefangen in einem kafkaesken Labyrinth

    Roman

    ERSTES KAPITEL

    Jemand musste Tina K. verleumdet haben. Anders war nicht zu erklären, warum eines Morgens Männer vor ihrer Tür standen, die sie verhaften wollten. Sie wusste beim besten Willen nicht, was sie Böses getan hätte.

    Es war kurz vor acht Uhr. Tina trank ihre zweite Tasse Kaffee. Wie immer war sie schon kurz nach sieben aufgestanden, hatte geduscht, ihre Kleidung fürs Büro sorgfältig zusammengelegt. Sie brauchte die Ruhe, das langsame Wachwerden. Das Sinnieren, das noch schlaftrunkene Nachdenken darüber, was der neue Tag wohl für sie bringen würde. Was aber dieser besondere Tag für sie bereithielt, hätte Tina selbst in ihren kühnsten Träumen nicht für möglich gehalten.

    Erst später, viel später, war ihr bewusst geworden, dass dieser Tag in mehrfacher Hinsicht ein besonderer für sie war. Sie war dreißig Jahre alt geworden. Konsequent, und zumeist erfolgreich, hatte sie die letzten Wochen diese Tatsache verdrängt. Dreißig Jahre! Eine Zahl, mit der sie nicht umzugehen wusste.

    Dreißig Jahre. Bedeutete das für eine Frau nicht den langsamen Verlust ihrer Attraktivität?

    Und attraktiv wollte sie sein. Um jeden Preis. Das war ihr Kapital.

    Schon sehr früh hatte sie das begriffen.

    Der erste Mann, der sich unsterblich in sie verliebt hatte, war damals über dreißig gewesen. An sein genaues Alter konnte sich Tina nicht mehr entsinnen. Sie wusste nur noch, dass sie selbst erst zarte dreizehn gewesen war. Dreizehn Jahre, kein Kind mehr, aber auch noch nicht erwachsen genug, um zu begreifen. Zumindest nicht, um gleich zu begreifen. Erst allmählich war ihr bewusst geworden, dass dieser für sie schon ältere, sich seltsam verhaltende Mann so von ihr fasziniert gewesen war, dass sie von ihm alles, fast alles, hätte verlangen können. Tina aber hatte das damals zwar nicht ausgenutzt, es war ihr allerdings schon seltsam erschienen, dass er ihr jeden Wunsch, den sie auch nur ansatzweise formulierte, sofort erfüllen wollte.

    Ein paar Küsse. Mehr war nicht geschehen. Ihre Tante, bei der sie damals gelebt hatte, war entsetzt gewesen, als sie erfahren hatte, dass dieser Mann sie hofierte und hatte ihr jeden weiteren Kontakt zu ihm strengstens untersagt.

    Ein wenig enttäuscht war Tina damals schon gewesen. Doch mehr nicht. Er hatte ihr schließlich nichts bedeutet. Gerne wäre sie damals mit ihm noch ein paar Schritte weiter gegangen, wobei sie damals viel zu naiv gewesen war, um auch nur eine ungefähre Vorstellung dessen zu haben, was er wirklich von ihr wollte, in welche Richtung das Ganze sich noch hätte entwickeln können.

    Das Einzige, was in ihrem Gedächtnis deutlich verhaftet geblieben war, war seine dubiose Hilflosigkeit und Schwäche. Wie hatte ein dreizehnjähriges Mädchen, das noch keiner wirklich ernst nahm, eine solche Macht über einen wesentlich älteren Mann erlangen können?

    Das war Tina damals nicht erklärlich gewesen.

    Jetzt, an ihrem dreißigsten Geburtstag, dachte sie wehmütig daran zurück.

    Während sie die große Kaffeetasse in der Hand hielt und das heiße Getränk gedankenverloren in kleinen Schlucken trank, schaute Tina aus dem Fenster. Sie sah, wie sie ihrerseits von der alten Frau, die in dem Mietshaus gegenüber wohnte, mit einer unbegreiflichen Neugier beobachtet wurde.

    Was fand diese Frau um alles in der Welt nur so interessant an ihr? Immer wieder lehnte sie sich aus einem geöffneten Fenster ihrer Wohnung und schaute fast unverschämt provozierend zu ihr hinüber. Tina fand dieses Verhalten mehr als befremdlich.

    Als es plötzlich an ihrer Wohnungstür läutete, zuckte Tina regelrecht zusammen, fasste sich aber schnell wieder und lief sie in großen Schritten von der Küche zur Wohnungstür, öffnete diese und sah davor einen großen Mann stehen, den sie noch niemals zuvor gesehen hatte. Er war kräftig gebaut, aber schlank, trug einen schwarzen Anzug, ein weißes Hemd und eine schmale, schwarze, sehr teuer wirkende Krawatte. Da der Mann zunächst schwieg, schaute Tina ein wenig verlegen nach unten, sah seine teuren, schwarzen Lederschuhe und wunderte sich ein wenig. Um einen Vertreter konnte es sich nicht handeln, dafür wirkte sein Äußeres viel zu streng und elegant.

    Da er weiter schwieg, fragte Tina: »Wer sind Sie?«

    Der Mann aber ignorierte diese Frage, zwängte sich stattdessen durch die geöffnete Tür an ihr vorbei ins Innere der Wohnung, und ehe Tina auch nur etwas fragen oder sagen konnte, stand er schon breitbeinig mitten in ihrem Wohnzimmer. Fassungslos schaute sie sich den Fremden an. »Es wäre mir sehr recht, wenn Sie mir Ihren Namen nennen würden und mir erklären könnten, was Sie von mir wollen.« Obwohl sie sich um eine größtmögliche Höflichkeit in Ihrer Wortwahl bemüht hatte, klang ihre Stimme feindlich und schneidend, fast schon provokativ.

    Der Mann jedoch ging über ihre Worte stillschweigend hinweg, tat so, als müsse man ihr Gefasel hinnehmen, das für ihn offensichtlich keinerlei Bedeutung hatte. Mit bösem Blick fixierte ihn Tina. Doch auch das beeindruckte ihn nicht, er wandte sich sogar schnell und brüsk von ihr ab und verließ das Zimmer, ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen.

    Dann hörte Tina vom Hausflur her Stimmen. Sie kamen näher, waren schließlich im Eingangsbereich ihrer Wohnung. »Sie will wissen, wer ich bin und was ich von ihr will«, konnte Tina verstehen. Ein kurzes Gelächter folgte. Tina war sich nicht sicher, ob es von zwei oder gar drei Männern stammte.

    Eilig lief sie den fremden Männern entgegen. ›Glauben die, die können sich einfach erdreisten, in meine Wohnung zu kommen, ohne mir dies zu erklären?‹, sagte sich Tina und ging entschlossenen Schrittes auf die fremden Menschen zu.

    Tatsächlich befanden sich nun drei Männer in ihrem Wohnungsflur. Alle drei in schwarzen Anzügen, überdurchschnittlich groß, schlank, mit breiten Schultern.

    Der erste Mann, der bereits in Tina K.´s Wohnzimmer gewesen war, wandte sich an sie. »Wollen Sie nicht lieber wieder ins Wohnzimmer gehen und sich setzen?«

    »Ich werde nirgendwo hingehen, solange Sie mir nicht endlich gesagt haben, wer Sie sind und was Sie von mir wollen«, donnerte Tina K. zurück.

    »Ich habe es nur gut mit Ihnen gemeint«, antwortete der Fremde, während er ganz leicht seinen kahlen Kopf schüttelte und mit den anderen beiden an ihr vorbei in die Küche lief.

    Tina K. ging ihnen notgedrungen hinterher, blieb jedoch im Türrahmen stehen. »Vielleicht hätten Sie jetzt die Freundlichkeit, mir mitzuteilen, was Sie von mir wollen und was das Ganze hier soll!«, sagte Tina K. und schaute dabei mit einem kurzen Seitenblick aus dem großen, fast bodentiefen Küchenfenster. Sie sah, dass sich die alte Frau von gegenüber mit ihrer schier penetranten Neugier noch weiter aus dem offenen Fenster gelehnt hatte.

    Nun läutete auch noch Tinas Handy. Missmutig nahm sie das Gespräch entgegen, antwortete jedoch nur knapp, sagte »Ja«, »Nein« und »Natürlich, sofort«.

    Nachdem sie das Gespräch beendet hatte, sah sie die drei Männer herausfordernd an. »Ich möchte Sie jetzt bitten, meine Wohnung zu verlassen. Ich muss mich für einen wichtigen Außentermin fertig machen.«

    »Nein«, sagte der eine Mann, der nahe beim Fenster stand und die Sicht auf die alte Frau nun fast gänzlich verdeckte. »So einfach geht das nicht. Sie sind schließlich verhaftet«, entgegnete er streng.

    »Aber warum denn das?«, wollte Tina wissen. Noch immer glaubte sie an einen Scherz oder eine Verwechslung.

    »Wir sind nicht befugt, Ihnen den Grund Ihrer Verhaftung mitzuteilen. Ein Verfahren gegen Sie ist eingeleitet, der Prozess läuft. Mehr kann und darf ich Ihnen nicht sagen. Ich überschreite schon jetzt meine Kompetenzen, indem ich so durchaus freundlich mit Ihnen umgehe. Nicht wahr, Franco?« Mit dem letzten Satz hatte er sich an den Mann gewandt, der als Erster in Tinas Wohnung gekommen war. Dieser nickte bestätigend und sagte dann freundlich, aber bestimmt: »Gehen Sie in Ihr Schlafzimmer, legen Sie die Kleidung bereit, die Sie tragen wollen, und warten Sie dort, bis wir kommen.«

    Erst in diesem Augenblick wurde Tina bewusst, dass sie noch immer das dünne, etwas durchsichtige und sehr kurze schwarze Nachthemd aus reiner Seide trug, das mehr von ihrem schlanken Körper freigab als verhüllte.

    Ein wenig peinlich war es ihr. Aber auch nur ein wenig. Sie hatte zu dieser frühen Morgenstunde schließlich nicht mit Besuch rechnen können und ihr schlanker, durchtrainierter Körper konnte sich schließlich noch immer sehen lassen!

    Erhobenen Hauptes lief sie an ihnen vorbei, betrat das Schlafzimmer, legte sich eine weiße Bluse und ein hellgraues Designer-Kostüm zurecht, das sie gerne bei Hausbesichtigungen höherer Preiskategorien trug.

    Heute hatte sie eigentlich – offensichtlich sehr zahlungskräftigen – Interessenten eine gut sanierte Jugendstil-Villa am Stadtrand zeigen wollen. Ein Liebhaberobjekt der gehobenen Preiskategorie mit vielen schönen Details und – sollte der Verkauf glücken – einer ansehnlichen Provision für sie.

    Kaum hatte Tina ihre Kleidung sorgfältig auf ihrem breiten Doppelbett bereit gelegt, als auch schon die drei Herren den Raum betraten – ohne anzuklopfen wohlbemerkt. Alle drei schüttelten den Kopf.

    »So geht das nicht!«, sagte nun der dritte Mann, der bisher geschwiegen hatte, und sah sie dabei ein wenig mitleidig an. »Sie müssen sich schon eine etwas schlichtere Kleidung aussuchen. Alle teuren oder körperbetonten Kleidungsstücke sowie alle Schuhe mit hohen Absätzen müssen wir leider konfiszieren und in ein Depot verbringen. Sollte die Sache günstig für Sie ausgehen, werden Sie die Stücke natürlich zurückerhalten.«

    Aufmunternd lächelte er ihr zu, doch Tina K. war entsetzt. »Sie können mir doch nicht einfach meine Kleidung wegnehmen!«, schimpfte sie.

    Doch der Erste versuchte ein wenig beschwichtigend zu erklären: »Das bringt dieses besondere Verfahren nun einmal so mit sich. Freuen Sie sich, dass Sie an uns geraten sind. Wir erlauben Ihnen mehr Freiheiten, als Ihnen eigentlich zustehen. Wir werden auch sicher hin und wieder mal ein Auge bei Ihnen zudrücken, wenn Sie gut kooperieren. Im Großen und Ganzen können Sie sich wirklich glücklich schätzen, dass gerade wir drei zu Ihren Wächtern bestimmt wurden. Wenn alles Weitere auch so gut für Sie läuft, können Sie durchaus zuversichtlich in die Zukunft schauen.«

    Tina K., noch immer tief entsetzt, antwortete nicht darauf.

    Gut, sollten diese Herren eben die Verfügungsgewalt über den Großteil ihrer Kleidung erhalten. Notfalls würde sie sich auch zu einem späteren Zeitpunkt ihre Lieblingsstücke noch einmal kaufen können. Sie war schließlich eine durchaus erfolgreiche Maklerin, die nicht gezwungen war, jeden Cent mehrmals umzudrehen, bevor sie ihn ausgab. Und das tat sie auch schon lange nicht mehr. Besonders bei Kleidung, Schuhen und Handtaschen ging sie meist sehr verschwenderisch mit ihrem Geld um. Nun ja, sie konnte es sich schließlich leisten und man lebte ja nur einmal.

    Viel dringender war für Tina K. nun aber, endlich ein wenig Klarheit über ihre Lage zu bekommen. Doch es fiel ihr überaus schwer, in Gegenwart dieser Herren, einen klaren Gedanken zu fassen.

    Noch immer trug sie das kurze, durchsichtige Nachthemd und spürte förmlich die Blicke der drei Herren auf ihrer Haut. Gerade erst hatte der erste, kahlköpfige Mann scheinbar tröstend seine große, breite Hand auf ihre Schulter gelegt, doch dabei versehentlich mit seinem Ellbogen ihre linke Brust berührt. Sein leichtes Grinsen dokumentierte, dass ihm dies weder peinlich noch unangenehm gewesen war. Darüber hinaus tuschelten die drei Männer ständig miteinander oder warfen sich zumindest stumme, dafür aber vielsagende Blicke zu.

    Was waren das nur für Männer? Welchem Amt oder welchem Gericht gehörten sie an? Tina K. lebte doch in einem Rechtsstaat. Wie konnte man sie dann einfach so, ohne ausreichenden Grund, ohne klar definierte Anklage, eines Morgens in ihrer eigenen Wohnung verhaften?

    Tina hatte sich längst abgewöhnt, das Leben unnötig schwer zu nehmen. Den Tatsachen musste man zwar ins Auge schauen, das schon, aber Unangenehmes konnte man auch aussitzen oder zu umgehen versuchen. Den schlimmsten Fall nahm sie niemals an. Mit dem Schlimmsten setzte sie sich erst dann auseinander, wenn es auch wirklich eintrat. Bis dahin war Abwarten ihre Devise.

    Vielleicht war ja auch alles nur ein böser, hinterhältiger Scherz? Doch von wem? Von einem ihrer zahlreichen Exfreunde, den sie etwas unsensibel abserviert hatte und der sich nun auf diese Art und Weise bei ihr rächen wollte? Oder war es nur ein harmloser Spaß zu ihrem Geburtstag? Waren die drei Herren am Ende gar Stripper, die sich nun gleich vor ihr ausziehen würden? Alle drei waren groß, stark und offenbar auch muskulös. Die körperlichen Voraussetzungen hätten sie für diesen Job. Ihre strengen, undurchdringlichen Blicke ließen jedoch nichts, das in diese Richtung gehen würde, vermuten. Trotzdem versuchte Tina, den Wächtern ins Gesicht zu lachen. Niemand sollte später behaupten können, dass sie keinen Spaß verstünde. Doch die Männer lachten nicht mit, verzogen keine Miene.

    Also ließ sie diese Theorie fallen. Wer hätte denn auch Stripper für sie engagieren sollen? Wirkliche Freundinnen hatte Tina K. nicht. Ihre Chefin, Frau Wittmann, schätzte sie zwar als erfolgreiche Mitarbeiterin, aber ein solcher Geburtstagsscherz war ihr beim besten Willen nicht zuzutrauen. Sandra, die Auszubildende des Makler-Hauses, war zwar locker und für jeden Spaß zu haben, hätte aber viel zu viel Respekt vor ihr, um sich einen solchen Spaß zu erlauben, und darüber hinaus hätte sie auch schlichtweg nicht das nötige Kleingeld für drei professionelle Stripper.

    War sie am Ende also doch gezwungen, das Ganze wirklich ernst zu nehmen?

    Ob Komödie oder bitterer Ernst, das Beste wäre auf jeden Fall, bei der Sache mitzuspielen, sagte sie sich. »Erlauben Sie?«, fragte sie daher den einen der Männer höflich, der sich im Türrahmen breit gemacht hatte und ihr so den Weg aus dem Schlafzimmer versperrte. Als er sie daraufhin fragend anschaute, setzte sie erklärend hinzu: »Ich würde gerne im Wohnzimmer meine Papiere zusammensuchen.«

    »Wenn Sie wollen. Aber ich kann Ihnen gleich sagen: Es ist für Ihren Prozess völlig unnötig und zwecklos. Wir wissen schließlich, wer Sie sind … Vielleicht besser als Sie selbst«, betonte er ein wenig streng.

    Dennoch ging Tina an ihm vorbei, eilte fast ins Wohnzimmer. Dachten sie am Ende, sie wolle fliehen?

    Ein kurzer Blick zurück. Nein, die drei Herren blieben, wo sie waren. Sie hatten wohl keine Angst, einen Fluchtversuch vereiteln zu müssen.

    In ihrem alten, antiken Sekretär, der in der rechten Ecke ihres geräumigen Wohnzimmers stand und sich dort sehr dekorativ ausnahm, fand sie ihre Ausweisdokumente. Alles Geschäftliche und Behördliche war streng geordnet, sorgfältig verwahrt und so stets griffbereit. Trotzdem stand Tina noch einige Minuten gedankenverloren vor ihrem Sekretär, starrte auf ihre Papiere, als wenn sie diese noch niemals zuvor gesehen hätte.

    Auf dem Weg zurück ins Schlafzimmer schaute Tina aus der noch immer offen stehenden Wohnungstür hinaus und sah Frau Huber im Treppenhaus stehen. Wortlos und ein wenig unsicher nickte ihr ihre Vermieterin zu, ging dann aber übereilig weiter, lief nach unten in ihre eigene Wohnung. Seltsam, dachte Tina. Sonst war Frau Huber, zu der sie ein wirklich gutes, fast freundschaftliches Verhältnis hatte, doch immer so gesprächig. Die ältere Dame war Witwe, lebte allein, war sonst immer froh, ein wenig plaudern zu können.

    Mit einem kräftigen Stoß schlug Tina die Wohnungstür zu. Allmählich machte sie die ganze Geschichte doch ein wenig zornig. Was war nur in die Leute gefahren? Sie würde nochmals auf einer Erklärung bestehen.

    Entschlossen betrat sie ihr Schlafzimmer und schaute sich sogleich verwundert um. Keiner der drei Herren war mehr darin zu sehen. Einen Moment lang war sie perplex, dann hörte sie ihre Stimmen, die nun aus der Küche kamen. Aufgelöst rannte sie zu ihnen und staunte nicht schlecht, als sie die drei Männer an ihrem Küchentisch sitzen sah. Alle aßen, schmatzten, der eine rülpste leise. Jeder hatte eine große Kaffeetasse vor sich stehen und einen vollbeladenen Teller daneben. Auf dem Tisch stand alles, was sie an Vorräten da hatte: Schinken, Käse, Toast, Marmelade, Butter, sogar ihr heiß geliebtes italienisches Gebäck, und alles wurde gierig von den Herren verschlungen. Der Erste, den sie Franco genannt hatten, stippte gerade seinen rechten Zeigefinger in ein Marmeladenglas, als Tina donnerte: »Was ist denn hier los? Und warum hat sich Frau Huber, meine Vermieterin, noch nicht einmal getraut, mich anzusprechen?«

    »Sie darf nicht mit Ihnen reden. Sie sind doch verhaftet worden«, entgegnete ein anderer mit halbvollem Mund, der fingerdick die Butter auf eine Toastscheibe gestrichen und sie anschließend genüsslich verzehrt hatte.

    »Wie kann ich denn verhaftet worden sein? Ich habe doch nichts getan! Und dann auf diese Weise: ohne Anklageschrift und Erklärung. Wir leben doch in einem Rechtsstaat mit Gesetzen!«, schrie Tina K. die Männer an.

    »Fängt das schon wieder an!«, brummte der Dritte. »Wir haben Ihnen doch ausdrücklich erklärt, dass wir diese Fragen nicht beantworten werden.«

    Zornig knallte Tina ihre Ausweispapiere inmitten der Lebensmittel auf den Tisch. »Hier, ich kann mich als Bürgerin dieses Staates ausweisen und genieße dementsprechend auch Rechte. Nun zeigen Sie mir endlich Ihre Ausweise und den Haftbefehl. Ich bestehe darauf!«

    »Mein Gott!«, mischte sich der Erste wieder ein. »Dass Sie es aber auch auf Teufel komm raus darauf anlegen müssen, es sich mit uns zu verscherzen. Können Sie sich nicht endlich in Ihre Lage fügen? Müssen Sie ausgerechnet die Personen, die es gut mit Ihnen meinen, bis auf die Knochen reizen?«

    »Geben Sie doch endlich einmal Ruhe!«, schloss sich Franco an, der noch immer damit beschäftigt war, die teure englische Walderdbeermarmelade mit dem Zeigefinger zu essen. Sekunden des Schweigens folgten. Nachdem er seinen Finger abgeleckt hatte, wandte er sich mit einer nachdenklichen Miene erneut an Tina K.: »Betrachten Sie das Ganze doch einmal sachlich: Was bringt es denn, mit uns, also mit einfachen Wächtern, eine Grundsatzdiskussion zu beginnen? Wir sind einfache Angestellte auf der niedrigsten Ebene der Behörde. Wir werden lediglich dafür bezahlt, Sie tagsüber zu bewachen. Die näheren Umstände ihres Prozesses sind uns nicht bekannt. Wir wissen nur, dass in Ihrem Fall die Behörde tätig werden musste. Ein Haftbefehl wurde erlassen und ein Verfahren eingeleitet. Alles geht seinen geregelten Gang. Unsere Behörde folgte nur den gesetzlichen Vorgaben.«

    »Welchen gesetzlichen Vorgaben? Mir ist kein Gesetz bekannt, nach dem jemand ohne jede Schuld und ohne Angabe von Gründen verhaftet werden dürfte!«, sagte Tina K.

    »Umso schlimmer«, mischte sich der Zweite ein.

    Tina K. schwieg, überlegte, wie sich diese absurde Angelegenheit doch noch zu ihren Gunsten wenden ließe, war aber letztendlich ratlos.

    Schließlich hörte sie, wie der Zweite zu Franco sagte: »Verstehst du das? Sie gibt offen zu, dass sie das Gesetz nicht kennt und behauptet trotzdem, dass sie schuldlos sei.«

    »Hm«, entgegnete Franco, »ihr kann man offenbar wirklich nichts begreiflich machen.«

    Es folgte ein weiteres Geplänkel über ihre Uneinsichtigkeit, dem Tina nicht mehr bereit war zu folgen. Was interessierte sie schon das Geschwätz einfacher Handlanger einer dubiosen Behörde? Sich nicht an Schmittchen wenden, sondern an Schmitt, war ihre Devise. Vielleicht war bei einem Richter mehr zu erreichen. Wenn es einen Prozess gab, musste es notgedrungen ja auch irgendwann zu einer Anhörung oder Verhandlung kommen. Von diesen drei Betonköpfen war jedenfalls nichts zu erfahren, ein Gespräch mit dummen Leuten hat ohnehin keinen Sinn, sagte sie sich. Sie musste unbedingt mit einem ebenbürtigen Menschen sprechen. Nun ja, früher oder später würde ihr sicherlich ein Richter die konkreten Anklagepunkte verlesen und sie konnte dann dementsprechend darauf reagieren.

    Tina K. ging in der kleinen Küche mehrmals auf und ab, warf schließlich einen kurzen Blick aus dem Fenster

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