Jenseits der Lebensmitte
Von Dietmar Zöller
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Über dieses E-Book
Zöller setzt sich viel mit anderen AutistInnen auseinander, die nicht sprechen können. Das ist sein Lebensthema. Wo er kann unterstützt er gern, formuliert Texte, die ein Verstehen von Menschen ohne Lautsprache erleichtern, gibt Hinweise zur Notwendigkeit von individueller Förderung in Schule und Gesellschaft.
Ein umfangreiches Buch, das zahlreiche Gedanken zur zweiten Lebenshälfte zusammenfasst und einen Einblick in das Leben und Wirken von Dietmar Zöller erlaubt.
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Buchvorschau
Jenseits der Lebensmitte - Dietmar Zöller
Dietmar Zöller
Jenseits der Lebensmitte
Ein Autist erlebt und reflektiert das Älterwerden
Copyright © 2018 Verlag Rad und Soziales
www.autismus-buecher.de
Coverbild:
Unerreichbarkeit des Lichtes
Dietmar Zöller 2013
Covergestaltung: Michael Schmitz
ISBN 978-3-945668-41-2 (eBook)
ISBN 978-3-945668-42-9 (Buch)
E-Book Distribution: XinXii
www.xinxii.com
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Die deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Für Friedemann, der mein bester Freund wurde
Inhalt
Einleitung
1. Das eigene Dasein reflektieren
2. Wahrnehmungsstörungen: Reizüberflutung, zwanghafte motorische Aktionen und ein „emotionales Chaos" können beim alternden Autisten hereinbrechen wie in der Kindheit
3. Vom Erschrecken über eigenes „ver-rücktes" Verhalten zu Versuchen, die Probleme kognitiv zu bewältigen.
4. Wie frei sind Personen, wenn sie sich autistisch verhalten „müssen"?
5. Auch Menschen, die sich autistisch verhalten und in ihrer Handlungsfähigkeit eingeschränkt sind, sehnen sich nach Kommunikation
6. SchülerInnen mit autistischem Verhalten, die nicht sprechen können, sind nicht zwangsläufig „geistig behindert"
7. Warum es so schwierig ist, nichtsprechende Autisten an der Inklusion teilhaben zu lassen.
8. Am Weltautismustag (2. April) sollen viele Menschen erfahren, was Autismus ist
9. Als Autist mit Lebenserfahrung berate ich gern andere Autisten und ihre Bezugspersonen
10. Über Freundschaft, Beziehungen und Kommunikation
11. „Antipathie gegenüber Mitmenschen?" – Das ist nicht das Problem von Menschen im Autismus-Spektrum. Gedanken zu einem Vorurteil
12. Warum ich dafür plädiere, dass Kindern aus dem Autismus-Spektrum geholfen wird, Erinnerungen zu bewahren und zu reflektieren
13. Bilder, die ich malte, als ich die Lebensmitte überschritten hatte
14. Sprache und Sprechen – Faszination und harte Arbeit
15. Ich bin nicht erwerbstätig, und doch arbeite ich
16. Wie kann man autistische Menschen auf das Alter vorbereiten?
17. Erinnerungen und Ausblick
Weitere Bücher über Autismus
Alter Autist (1986)
Er sieht alles, kann aber nichts tun
Dieses Bild von 1986 mutet heute an wie eine Vorausschau auf die Zeit nach der Lebensmitte. Exakt so ist meine Lebensgeschichte verlaufen. Nach wie vor nehme ich mit den Augen alles auf, was um mich herum geschieht. Aber was ich aktiv tun kann, ist wenig geblieben.
Einleitung
Autismus-Spektrum-Störung. So heißt die Diagnose, wenn es um Autismus geht. Trotzdem spricht man nach wie vor von Asperger-Autismus und Kanner-Autismus (oder frühkindlichem Autismus). Weit verbreitet ist immer noch die Einschätzung, dass Asperger-Autisten über eine normale Intelligenz verfügen, während die sog. Kanner-Autisten, von denen ein hoher Prozentsatz keine Lautsprache entwickelt, der geistigen Behinderung zuzurechnen sind. Die sog. „Aspies treten selbstbewusst auf und fordern ihre Rechte lautstark ein. Sie möchten weder als behindert, noch als krank etikettiert werden. Sie sind „anders
und wollen mit ihrer Andersartigkeit anerkannt werden. Ich gehöre nicht zu dieser Gruppe, auch wenn die Tatsache, dass ich Bücher publiziert habe, das nahe legen könnte. Ich gehöre zur Gruppe der Autisten, die man als „schwer behindert" bezeichnen muss.
Ich identifiziere mich mit den autistischen Menschen, von deren regem Innenleben die Bezugspersonen oft keine Ahnung haben. Wie viele es sind, die über das „unterstützte Schreiben dazu kamen zu zeigen, was in ihnen steckt, weiß man nicht so genau; denn das „gestützte
oder „unterstützte" Schreiben wurde von vielen Fachleuten so heftig kritisiert, dass viele, die es trotzdem anwenden, sich nicht mehr öffentlich dazu bekennen.
Ich schreibe für die, die für geistig behindert gehalten werden, ohne es zu sein. Ich möchte dafür kämpfen, dass man sich die Mühe macht, genau hinzuschauen, ob eine solche Person nicht doch eine innere Sprache entwickelt hat. Leo Kanner hat in seinem berühmten Aufsatz von 1943 den Autismus deutlich von der geistigen Behinderung abgegrenzt.
Freundschaftliche Kontakte zu Familien, die sehr darunter leiden oder gelitten haben, dass mit ihrem autistischen Kind keine Kommunikation zustande kam oder erst im fortgeschrittenen Alter möglich wurde, haben mich motiviert, noch einmal Texte zusammen zu stellen, die helfen sollen, Personen mit autistischem Verhalten besser zu verstehen. Es geht darum, autistisches Verhalten aus der Innensicht zu beschreiben und zu erklären.
Es soll deutlich werden, dass ich aus der Perspektive eines Mannes schreibe, der älter geworden ist, der die Mitte des Lebens überschritten hat. Thematische Überschneidungen und Wiederholungen mit meinen früheren Veröffentlichungen sind unvermeidbar. Die Themenschwerpunkte haben sich aber mit zunehmendem Alter verlagert. Ich denke viel darüber nach, dass mein Leben – wie jedes andere Leben auch – endlich ist. Welche Erfahrungen möchte ich weitergeben? Jeder Mensch hat, bewusst oder unbewusst, die Sehnsucht, mit einem Du zu kommunizieren und zu interagieren. Kommunikation möglich zu machen – egal mit welcher Methode – sollte vorrangiges Ziel sein.
Während ich lange Zeit davon ausging, dass die Förderung autistischer Kinder ein strukturiertes Lernen möglich machen sollte, sehe ich heute die Kommunikationsanbahnung als wichtigsten Schritt der Entwicklungsförderung an. Wer aber kann das leisten? Wie müssen Therapeuten und Lehrer ausgebildet werden, damit sie Personen mit autistischem Verhalten verstehen und begleiten können? Theoretisches Wissen und die Fähigkeit, wissenschaftlich arbeiten zu können, reichen nicht aus, um autistisches Verhalten verstehen und tolerieren zu können. Nötig ist etwas, das ich „Herzensbildung" nennen möchte, und die hat man, oder man hat sie nicht. Bestes Beispiel ist Palma, die mich stundenweise begleitet. Sie hat jahrelang bei uns geputzt. Nun ist sie ausschließlich für mich da. Sie versteht mein autistisches Verhalten und ist sehr bemüht, meine undeutliche und leise Sprache verstehen zu lernen.
1. Das eigene Dasein reflektieren
Ich wurde 1969 in Sumatra (Indonesien) als dritter Sohn meiner Eltern geboren. Seit 1979 wohne ich in Leinfelden-Echterdingen. Wegen meiner schweren Behinderung kann ich nicht erwerbstätig sein und lebe nach wie vor bei meinen Eltern. Ich habe mehrere Bücher publiziert, die die autistischen Probleme zum Inhalt haben.
Da ich auf ständige Begleitung angewiesen bin, kann ich allein nichts unternehmen. Ich hatte aber das Glück, dass meine Eltern mit mir große Reisen unternommen haben. Fremde Landschaften und Kulturen begeistern mich. Ich beobachte gern Tiere und Menschen. Auf meiner Homepage www.dietmarzoeller.de.tl findet man einige Reiseberichte.
Das Malen und Zeichnen hat immer eine große Rolle gespielt und meine Entwicklung vorangebracht. Wenn meine frühen Erinnerungen mich nicht trügen, erlebte ich bei den ersten Malversuchen so etwas wie Hoffnung, auch wenn ich dieses Wort noch gar nicht im Repertoire hatte. Ich erlebte, dass etwas, das von mir kam, auf dem Papier blieb, nicht verschwand wie die vielen, allzu vielen Sinneseindrücke, die auf mich einstürzten, ohne dass ich sie festhalten konnte. Meine frühen Bilder haben Konturen, und das war wichtig für mich. Die Konturen musste ich mir hart erarbeiten. In meinem Kopf formten sich mitten in einem sensorischen Chaos Gegenstände, die sich durch Konturen von ihrer Umgebung abhoben. Es gelang mir immer besser, Gegenstände abzubilden. Aber das war nur der Anfang einer Entwicklung, die viele Jahre keine Hoffnung zugelassen hatte. Ich, der nicht sprechen konnte, fand Zugang zu meinen Gefühlen und lernte bildlich auszudrücken, wie ich mich selbst und die Menschen um mich herum erlebte.
Wer bin ich? Diese Frage hat mich beschäftigt, seit ich mir Gedanken machen kann. Zuerst überwiegend in symbolhaften Bildern, später in schriftlichen Äußerungen, hat mich diese Frage beschäftigt. Dass ich nicht war wie meine älteren Brüder, wurde mir früh bewusst.
Dass ich bereits mit 15 Jahren eine Vorstellung hatte, wie ich als alter Mann sein könnte, beeindruckt mich. Zu dem Bild „Alter Autist trägt sein Schicksal" von 1985 habe ich mir noch einmal Gedanken gemacht. Heute kann ich, ausgehend von meiner eigenen Lebensgeschichte, beschreiben, was aus dem autistischen Verhalten wird, wenn die Lebensmitte überschritten ist. Ich habe erlebt, dass es keine geradlinige Entwicklung raus aus dem Autismus gibt. Es gibt gute und schlechte Phasen.
Als ich 20 Jahre alt war, gestaltete meine Mutter für eine Broschüre des Stuttgarter Regionalverbandes die folgende Seite. Text und Bilder waren meine Produkte. Was ich damals über das Erfassen von Konturen geschrieben habe, ist mir heute noch wichtig. So schrieb ich:
Ich male gern. Am liebsten experimentiere ich mit Farben, die ich nie rein, sondern immer gemischt verwende. Das entspricht meiner Wahrnehmung. In der Natur sehe ich keine reinen Farben. Immer sind die Farben abgestuft, und sei es durch die Schattenbildung. Farben sind für mich schön, wenn sie in Nuancen auftreten.
Ich war vielleicht sechs Jahre alt, als ich einen Gegenstand oder Menschen so malen konnte, dass man erkannte, was ich darstellen wollte.
Diese Übungen haben mir sehr geholfen, Konturen zu erfassen. Wenn ich die Blätter heute anschaue, staune ich über meinen Lernprozess damals. Ich kann mich an die Zeit erinnern, als ich solche einfachen Bilder hergestellt habe. Ich war allerdings nicht in der Lage, es zu tun, wenn meine Mutter nicht meine Hand angefasst hat. Sie musste aber meine Hand nicht führen. Wichtig war nur der Druck. Ich musste etwas spüren können.
Gegenstände und Menschen mit ihren Konturen wahrnehmen und abbilden zu können, war damals ein großer Fortschritt für mich.
Die Frage, wer ich bin und was ich will, stellt sich anders, nachdem ich die Lebensmitte überschritten habe.
Nach meinem 40. Geburtstag, den ich in außerordentlich guter Verfassung mit Familie und Freunden in einem Hotel feiern konnte, entdeckte jemand mit einem Lachen meine ersten grauen Haare. Nun bin ich 47 Jahre alt und es lässt sich nicht leugnen, dass ich die Mitte des Lebens überschritten habe. Mein Leben, das nie einfach war, hat sich verändert in vieler Hinsicht. Auch meine Eltern sind alt geworden und müssen es hinnehmen, dass es für sie Veränderungen gab, die mit Einschränkungen verbunden sind. Trotzdem darf ich bei ihnen leben, wofür ich sehr dankbar bin. Dass ich viel über mein besonderes Leben nachdenke, ist nicht ungewöhnlich und dass ich versuche, meine persönliche Zukunft zu planen – soweit das möglich ist – auch nicht. Die Frage, wie Menschen mit einer Diagnose aus dem Autismus-Spektrum das Älterwerden erleben und wie sie ihrem eingeschränkten Leben einen Sinn abgewinnen, dürfte Betroffene, ihre Angehörigen und Bezugspersonen interessieren.
Ich bin daran gewöhnt, täglich schriftliche Aufzeichnungen zu machen. Am Jahresende entsteht aus den vielen Texten eine Art Zusammenschau unter dem Gesichtspunkt, was von bleibendem Wert ist und möglicherweise auch für andere Menschen interessant und hilfreich sein könnte.
Nun, da ich die Lebensmitte überschritten habe, stelle ich mir immer wieder die Frage: Was kann ich noch dazu beitragen, dass Kinder mit der Diagnose Autismus-Spektrum-Störung eine angemessene Förderung erhalten und wie kann ich vermitteln, dass sich die Förderung lohnt, auch wenn sich inzwischen herumgesprochen hat, dass