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Tibetische Kinder für Schweizer Familien: Die Aktion Aeschimann
Tibetische Kinder für Schweizer Familien: Die Aktion Aeschimann
Tibetische Kinder für Schweizer Familien: Die Aktion Aeschimann
eBook378 Seiten13 Stunden

Tibetische Kinder für Schweizer Familien: Die Aktion Aeschimann

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Über dieses E-Book

Anfang der 1960er-Jahre kamen auf Initiative des Oltner Industriellen Charles Aeschimann 160 tibetische Flüchtlingskinder in die Schweiz. Die "Tibeterli" sollten hier wohlbehütet in Pflegefamilien aufwachsen, eine gute Bildung erhalten und schließlich als junge Elite zu ihren Familien ins indische Exil zurückkehren oder gar in ein befreites Tibet, an das viele Exilanten damals noch glaubten. Dies war zumindest der Wunsch des 14. Dalai Lama, der gemeinsam mit Aeschimann eine entsprechende Vereinbarung aushandelte.

Die Tatsache, dass viele dieser Kinder durchaus noch leibliche Eltern hatten, rief schon bald Kritiker auf den Plan. Ebenso wurde moniert, Aeschimann fehle die entsprechende Erfahrung. Dennoch ließen ihn die Bundesbehörden gewähren.

Wie war ein solcher Alleingang möglich? Was ist aus den Kindern geworden? Und wie beurteilen sie die umstrittene Aktion heute? Dieses Buch sucht Antworten auf offene Fragen und leistet so einen weiteren wichtigen Beitrag zur Geschichte der Fremdplatzierung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der Schweiz.
SpracheDeutsch
HerausgeberRotpunktverlag
Erscheinungsdatum1. März 2018
ISBN9783858697868
Tibetische Kinder für Schweizer Familien: Die Aktion Aeschimann

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    Buchvorschau

    Tibetische Kinder für Schweizer Familien - Sabine Bitter

    Sabine Bitter | Nathalie Nad-Abonji

    Tibetische Kinder für Schweizer Familien

    Die Aktion Aeschimann

    Unter Mitarbeit von Sabine Braunschweig

    Der Verlag dankt folgenden Institutionen für die finanzielle Unterstützung:

    Ernst Göhner Stiftung

    Pro Helvetia, Schweizer Kulturstiftung

    Der Rotpunktverlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem

    Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.

    Die Autorinnen danken folgenden Stiftungen und Institutionen für die finanzielle Unterstützung des Buchprojekts:

    Dr. H. A. Vögelin-Bienz-Stiftung

    Eugen & Elisabeth Schellenberg-Stiftung

    Kulturförderung Kanton Nidwalden, Swisslos

    Kulturkommission Kanton Schwyz

    Lotteriefonds des Kantons Zug

    Schweizer Klub für Wissenschaftsjournalismus

    SOKultur – Lotteriefonds des Kantons Solothurn

    Swisslos-Fonds des Kantons Aargau

    Swisslos-Fonds des Kantons Basel-Landschaft

    Swisslos-Fonds des Kantons Thurgau

    UBS Kulturstiftung

    Im gedruckten Buch finden sich zusätzlich zahlreiche historische Bilder und Dokumente.

    © 2018 Rotpunktverlag, Zürich

    www.rotpunktverlag.ch

    Umschlagbild: Tibetische Kinder auf dem Flug nach Zürich Kloten

    (Privatbesitz Yangchen Waldburger Zahn)

    eISBN 978-3-85869-786-8

    1. Auflage 2018

    Inhalt

    Einleitung

    Die Pflegekinderaktion von Charles Aeschimann | Flucht ins Exil | Internationale Flüchtlingslage | Heikle Fragen | Bewegende Geschichten | Erhellende Quellen

    Helfen wollen – wie die Aktion entstand

    Der Initiant | Heinrich Harrer als prominenter Vermittler | Tibeter-Haus für das Kinderdorf Pestalozzi | Erstes Pflegekind für Charles Aeschimann | Aktion nimmt Gestalt an | »Geistiges Réduit« | Arbeitskräfte gesucht | Hilfe für die »Opfer des Kommunismus« | Erste Kritik | Homestory mit »Tibeterli« | Botschaft des Dalai Lama angekommen

    Im Kinderheim des Dalai Lama

    Flucht aus Tibet | Arbeit im Straßenbaulager | Die Gründung der Nursery | Alltag im Kinderheim | Trennung von den leiblichen Eltern | Schweizer Ärzte im Konflikt mit der Heimleitung | Krankheiten und Todesfälle | Auswahl der Kinder | Die Abreise

    Anreisen und ankommen

    Empfang mit medialer Begleitung | Gedeckte Reisekosten | Waisen, die keine waren | Vertraulicher Brief des Schweizer Botschafters | »Noch viele arme Kinder« | Hoher Besuch aus Dharamsala | Gesunder Menschenverstand | Private Verantwortung | Aussicht auf Bildung und bürgerliche Erziehung | Adoptivkinder gefragt | Bandwurm und Blutvergiftung | Haushaltshilfe inklusive

    Kritische Stimmen

    Schwere Bedenken | Verhandlungen in der Residenz | Versuche, die Aeschimann-Aktion zu stoppen

    Aufwachsen

    Erstes Zusammenleben | Altersfrage | Vorschulkind erwartet – Jugendliche eingetroffen | Klassen überspringen | Studium vorgesehen | Neue Familie gesucht | Ins Heim statt zum Zahnarzt | Augenschein der Fürsorgerin | Von Ängsten geplagt | Lückenhafte Aufsicht | Heimarbeit und Ohrfeigen | Hausbesuche ohne Erinnerung

    Zwischen zwei Kulturen

    Befürchtungen in Dharamsala | Frage der Religion | Sprach- und Kulturunterricht | Ferien am Blausee | Zoo und Zirkus

    Wunsch nach einem Wiedersehen

    Auf der Suche | Korrespondenz ohne Briefgeheimnis | Lerne fleißig! | Unbekannte Verwandte | Offene Wunden bei tibetischen Eltern | Barmherzigkeit und Lehrlingslohn | Drohende Rückforderungen | Unerwünschte Familienzusammenführung

    Identitätssuche, Auflehnung und Krisen

    Als Gärtner beim Dalai Lama | Bildung, Kultur und Religion | Rebellion | Krisen und Heimeinweisungen | Suchtprobleme und Suizide | Administrative Identität | Im Flughafen gestrandet | Roter Pass

    Auf Spurensuche in Dharamsala

    Zurück zu den Wurzeln | Ein Besuch im Kinderdorf | Die Liste des Mönchs | Ein Bild fügt sich zusammen | Abschied nehmen | Begegnungen mit dem Privatsekretär | Medienkonferenz mit dem Dalai Lama | Audienz für die »Aeschimann-Kinder« | Wenig Gesprächsbereitschaft

    Schlusswort

    Dank

    Anhang

    Anmerkungen Abkürzungsverzeichnis | Literaturverzeichnis

    Einleitung

    Die Pflegekinderaktion von Charles Aeschimann

    Dieses Buch erzählt von tibetischen Kindern, die 1959 mit ihren Eltern vor den chinesischen Kommunisten nach Indien flüchteten und in Dharamsala in einem Kinderheim des Dalai Lama unterkamen. Von dort wurden sie in den folgenden Jahren in die Schweiz geschickt und in Pflegefamilien platziert.

    Am 28. August 1959 hatte der älteste Bruder des Dalai Lama, Thubten Jigme Norbu, an einer Pressekonferenz in London die westlichen Staaten um Hilfe gerufen und sie gebeten, 14 000 tibetische Flüchtlinge aufzunehmen.¹ Diese waren im indischen Exil in einer äußerst schwierigen Situation. Viele mussten im Straßenbau arbeiten, im Gebirge, weit weg von Dharamsala. Dort leisteten sie Schwerstarbeit und lebten in feuchten und kalten Zelten am Straßenrand. Die kleinen Kinder wurden von ihren Müttern während der Arbeit auf dem Rücken getragen, die größeren hingegen waren sich selber überlassen. Diese Zustände sollen den Dalai Lama veranlasst haben, die Kinder von den Baustellen zu holen und sie in einem Heim unterzubringen, das er im Mai 1960 für sie eröffnete.² So gelangten Hunderte von Mädchen und Knaben in die Nursery for Tibetan Refugee Children, die von der Schwester des Dalai Lama geleitet wurde. Doch auch dort lebten sie anfänglich in sehr prekären Verhältnissen: Viele waren schlecht ernährt und krank und kaum betreut.

    Angesichts dieser schwierigen Lage begannen verschiedene Organisationen in der Schweiz, Unterstützungsprojekte zu entwickeln. Eine Schlüsselrolle spielte dabei der Industrielle Charles Aeschimann, Delgierter des Verwaltungsrats des Elektrizitätsunternehmens Aare-Tessin AG (Atel) in Olten. Er nahm nur wenige Wochen nach dem Hilferuf von Thubten Jigme Norbu Kontakt mit ihm auf und bot ihm an, Flüchtlingskinder in die Schweiz zu holen. Dabei ergriff er die Initiative für den Bau eines Tibeter-Hauses im Kinderdorf Pestalozzi in Trogen.

    Noch während der Vorbereitungen für das Haus, das 1961 eröffnet werden sollte, reiste im August 1960 Tseten ein, ein kleiner tibetischer Junge. Ihn hatte Thubten Jigme Norbu an die Familie Aeschimann vermittelt, die schon lange ein Pflegekind aufnehmen wollte. Tsetens Ankunft löste ein großes Medienecho aus. Viele Familien und kinderlose Paare meldeten sich zu Wort, die ebenfalls ein tibetisches Kind aufnehmen wollten. Sie wandten sich an Charles Aeschimann, der sich wiederum direkt mit dem Dalai Lama in Verbindung setzte und bei diesem auf offene Ohren stieß. Das tibetische Oberhaupt vermittelte Aeschimann zwischen 1961 und 1964 schließlich 160 Kinder und 10 Jugendliche aus der Nursery für Pflegefamilien in der Schweiz.³ Entgegen offizieller Verlautbarungen waren die meisten von ihnen keine Waisen, was noch für Kritik sorgen sollte.

    Der Dalai Lama wollte die Kinder nur vorübergehend in die Schweiz schicken und sie nach der Ausbildung als hoch qualifizierte Berufsleute wieder zurückrufen, in der Hoffnung, dass sie ihm beim Aufbau eines zukünftigen autonomen Staates dereinst eine Stütze wären. Manchen tibetischen Eltern erschien Aeschimanns Initiative als rettender Strohhalm. So erzählte eine Mutter im Rückblick, ihr sei damals gesagt worden, dass ihre Tochter zu den ausgewählten Kindern gehöre, die das Glück hätten, in die Schweiz zu gehen, um dort sehr gute Bildungsmöglichkeiten zu bekommen: »Nachdem wir so viel Positives gehört hatten, akzeptierten wir, dass sie mit anderen tibetischen Kindern in die Schweiz geschickt wird.«

    Dass diese Möglichkeit durchaus als Rettung erschien, hält auch Kelsang Gyaltsen, Sondergesandter des Dalai Lama für Europa, heute fest. Die Situation auf den Straßenbaustellen sei für Kinder »keine Lösung« und das Heim in Dharamsala vor allem ein »Auffanglager« gewesen. Es sei für ihn sehr verständlich, dass die Tibeter damals jede Gelegenheit ergriffen, ihre Kinder in einem westlichen Land gut ausbilden zu lassen. Denn sie hätten erkannt, dass Bildung notwendig ist, um eine Modernisierung einzuleiten. Auch wenn das Bild des Westens idealisiert worden sei, wäre es nicht nachvollziehbar gewesen, dies abzulehnen: »Die Tibeter haben es als ein willkommenes Angebot betrachtet.«

    In der Schweiz gab es vonseiten etablierter Hilfswerke allerdings von Anfang an kritische Einwände gegen die private Hilfsaktion. So argumentierte etwa Heinrich Hellstern, Sekretär des Hilfswerks der Evangelischen Kirchen der Schweiz (HEKS), dass die Platzierung von tibetischen Kindern in Schweizer Familien eine Entwurzelung zur Folge habe und es sinnvoller sei, tibetische Flüchtlinge in Indien zu unterstützen.

    Flucht ins Exil

    Der eigentliche Ausgangspunkt für die Verschickung der tibetischen Kinder war die vorangegangene Flucht nach Indien, die bis heute ihre Biografien prägt. Diese Vorgeschichte wird je nach politischem Standpunkt unterschiedlich bewertet. So vertritt die tibetische Exilregierung die Auffassung, dass Tibet bis zum Einmarsch der chinesischen Armee 1950 ein eigenständiger Staat gewesen sei – eine Position, die bereits der 13. Dalai Lama proklamiert hatte und die von der tibetischen Exilgemeinde bis heute geteilt wird.⁷ Aus der Sicht der chinesischen Regierung gehört Tibet hingegen seit Jahrhunderten zu China. Sie argumentiert, dass die Unabhängigkeitserklärung von 1913 ohne Anerkennung durch andere Staaten völkerrechtlich gar nie wirksam geworden sei. China habe die tibetische Bevölkerung von einem »feudalen Unterdrückungssystem« befreit.⁸ Zudem habe Tibet mit dem ausgehandelten Siebzehn-Punkte-Abkommen von 1951 regionale Autonomie zugestanden bekommen.

    Die Tibet-Spezialistin und Religionswissenschaftlerin Karénina Kollmar-Paulenz weist darauf hin, dass die religiöse und politische Elite Tibets zu Beginn der 1950er-Jahre angesichts der chinesischen Reformpolitik zunächst selbst in ein pro- und ein antichinesisches Lager geteilt war. Die einen fürchteten vor allem den Verlust der politischen und religiösen Macht des Dalai Lama und der tibetischen Autonomie, die anderen sahen auch Vorteile: »Die Eliten wurden mit großzügigen Geschenken gekauft, und die lokale Bevölkerung profitierte von der Errichtung neuer Schulen und Krankenhäuser. Straßen wurden gebaut und Garnisonen im ganzen Land errichtet.«

    Diese Gespaltenheit hat den Kampf um die Unabhängigkeit anfänglich geschwächt, weshalb die ersten Jahre der chinesischen Besetzung relativ ruhig verliefen. Als China der tibetischen Bevölkerung allerdings immer mehr Reformen aufzwang, die ihre Autonomie beschnitten, schlossen sich die beiden Lager zusammen und traten in Opposition. Sie argumentierten, dass die tibetischen Delegierten bei der Unterzeichnung des Abkommens »unter chinesischem Diktat« gestanden seien. Zudem habe China die innenpolitische Autonomie und Religionsfreiheit trotz des Abkommens missachtet: »Zum ersten Mal in der Geschichte Tibets übten die Chinesen nun volle Kontrolle über ganz Tibet aus.«¹⁰

    Aufgrund des Reformzwangs und des zunehmend stärkeren Zugriffs durch die chinesische Besetzung kam es 1955 zu einem ersten, unorganisierten Aufstand. Ab 1957 erhielt die tibetische Opposition zusätzlich Unterstützung von den USA. Der Widerstand verstärkte sich, breitete sich aus und eskalierte Anfang März 1959, als der Dalai Lama zur Aufführung einer Tanzgruppe ins chinesische Militärhauptquartier in Lhasa eingeladen wurde: Entgegen der »üblichen Etikette« war er gebeten worden, alleine zu kommen, und so entstand rasch das Gerücht, er würde entführt werden.¹¹ Spontan versammelten sich daraufhin immer mehr Tibeterinnen und Tibeter vor seinem Sommerpalast in Lhasa und demonstrierten sowohl gegen die chinesische Besetzung als auch gegen die tibetische Aristokratie. Dieser warfen sie vor, zum Machtverlust des Dalai Lama beigetragen zu haben, da sie sich für ein »Vorbereitendes Komitee der Autonomen Region Tibet« ausgesprochen hatte.

    Nach der Ermordung eines hohen Regierungsbeamten entwickelte sich die Kundgebung vom 10. März 1959 zu einem offenen Volksaufstand. Die Demonstranten forderten den Abzug der chinesischen Truppen aus Tibet. Als die Lage außer Kontrolle zu geraten drohte, wurde der 24-jährige Dalai Lama heimlich aus seiner Residenz geholt und in Sicherheit gebracht. In der Nacht vom 16. auf den 17. März 1959 flüchtete er mit seinen engsten Beratern und einer Gruppe von Widerstandskämpfern nach Indien. Danach brach der tibetische Widerstand zusammen. Innerhalb von wenigen Tagen schlug die chinesische Armee in Lhasa den Aufstand der schlecht ausgerüsteten Tibeter nieder. Dabei kamen fast 10 000 Menschen ums Leben.¹²

    Tausende Tibeterinnen und Tibeter, darunter viele Familien mit Kindern, folgten dem Dalai Lama in den nächsten Monaten ins Exil. Sowohl in Indien als auch in Tibet ging man damals von einem Provisorium und einer absehbaren Rückkehr der Flüchtlinge aus – eine Hoffnung, die sich nicht erfüllt hat. Heute leben rund 130 000 Tibeterinnen und Tibeter im Ausland.¹³

    Internationale Flüchtlingslage

    Aeschimanns Pflegekinderaktion ist in einem internationalen Kontext zu verorten: In den 1950er-Jahren existierten nach wie vor Flüchtlingslager mit europäischen Vertriebenen aus dem Zweiten Weltkrieg. Um diese Lager schneller aufzulösen, schlugen britische Politiker vor, ein »Weltflüchtlingsjahr« zu lancieren. Das UNO-Hochkommissariat für Flüchtlinge nahm diese Idee auf. Zudem erweiterte es den Flüchtlingsbegriff, der bisher stark auf europäische Flüchtlinge bezogen war, und nahm neben den europäischen auch die algerischen, palästinensischen, tibetischen und chinesischen Flüchtlinge in den Blick. Die Generalversammlung der UNO rief schließlich das Jahr 1960 zum Weltflüchtlingsjahr aus. Dank dieser politischen Bemühungen konnten nun zusätzliche finanzielle Mittel bereitgestellt werden, um Schutz suchende Menschen zu unterstützen. Im gleichen Zug wurden, begünstigt durch das damalige Wirtschaftswachstum, auch die Einwanderungsbestimmungen in verschiedenen Ländern gelockert.¹⁴

    Obwohl die Schweiz nicht Mitglied der UNO war, nahm auch sie tibetische Flüchtlinge auf. Sie gehörten zu den ersten außereuropäischen Flüchtlingen überhaupt, die in der Schweiz Dauerasyl erhielten.¹⁵ Doch während sie von der Bevölkerung in der Schweiz mit offenen Armen empfangen wurden, führte das Engagement von Anfang an zu politischen Auseinandersetzungen. Etwa wenn sich der chinesische Botschaftsrat in Bern wegen der »immer stärker werdenden antichinesischen Kampagne« beschwerte und die Errichtung des Tibeter-Hauses als »eine gewollte politische Aktion gegen China« bezeichnete. Da waren diplomatisches Fingerspitzengefühl und das eine oder andere Zugeständnis gefragt. So wurde dem chinesischen Botschaftsrat mitgeteilt, dass der Bruder des Dalai Lama nur eine Einreisebewilligung bekomme »unter der Bedingung, dass er hier keine politische Tätigkeit ausübt«. Doch der Botschafter entgegnete, so wurde in einer Aktennotiz vermerkt, »dass schon allein die Anwesenheit des Herrn Norbu in der Schweiz für China ein Affront bedeute«. Der Bundesbeamte wiederum war nicht um eine Antwort verlegen und gab zu bedenken, »dass es immer eine schöne Aufgabe der Schweiz gewesen ist, ausländische Flüchtlinge aufzunehmen, […] zum Beispiel Lenin«.¹⁶

    Heikle Fragen

    Obwohl die tibetischen Flüchtlinge in der Schweiz willkommen waren, war die sogenannte Aeschimann-Aktion damals umstritten. In den letzten Jahren ist erneut Kritik aufgekommen, als ehemalige tibetische Pflegekinder in zwei Dokumentarfilmen¹⁷ über ihre Fremdplatzierung in der Schweiz und die schwierige Identitätssuche berichteten und das Thema in einzelnen Medien aufgegriffen wurde.¹⁸ Unser Interesse war geweckt, denn es stellten sich ein paar Fragen, die uns nicht mehr losließen: Warum hat die Schweiz zu Beginn der 1960er-Jahre mit den jungen Tibeterinnen und Tibetern gerade außereuropäische Kinder aufgenommen, in einer Zeit also, in der andere ausländische Kinder draußen bleiben mussten? Etwa die italienischen Saisonnierkinder, die im Kofferraum eines Autos über die Grenze geschmuggelt wurden und danach in Mansardenzimmern versteckt leben mussten, wenn ihre Eltern sie in ihrer Nähe haben wollten?¹⁹ Wie kam es, dass ein Industrieller, der in der Elektrizitätsbranche tätig war und mit Pädagogik nicht viel zu tun hatte, im Alleingang 160 tibetische Kinder und 10 Jugendliche ins Land holen und nach eigenem Gutdünken in Familien unterbringen konnte? Mit welchen Folgen für die Betroffenen? Wie muss man sich zudem erklären, dass Schweizer Ehepaare bereit waren, mit dem Dalai Lama einen Vertrag abzuschließen und ihm zu versprechen, Kinder aufzunehmen, sie auszubilden, wenn möglich studieren zu lassen und danach wieder nach Indien oder Tibet zurückzuschicken? Und dies in einer Zeit, in der noch immer zahlreiche Verdingkinder ihr Leben auf Bauernhöfen verdienen mussten und ebenfalls eine Bildungschance nötig gehabt hätten?²⁰ Warum haben die Schweizer Behörden nicht darauf bestanden, einem Privatmann, der eine Flüchtlingskinderaktion lancieren wollte, eine beaufsichtigende Institution zur Seite zu stellen?

    Die Aeschimann-Aktion hat uns nicht zuletzt deswegen interessiert, weil es auch heute vielen Bürgerinnen und Bürgern anzurechnen ist, dass sie eine ethische Verantwortung spüren und bereit sind, sich persönlich zu engagieren: Sie möchten helfen, wie Charles Aeschimann und die Pflegefamilien es damals für sich in Anspruch nahmen. Viele von ihnen haben sich redlich bemüht, wollten es »gut machen« – und manche sind dennoch gescheitert. Sich mit der Aeschimann-Aktion zu befassen, könnte eine Gelegenheit sein, darüber nachzudenken, unter welchen Bedingungen gut gemeinte Hilfe gelingen kann – oder zu scheitern droht.

    Trotzdem sprach zunächst einiges dagegen, der Geschichte dieser Aktion nachzugehen: Aus den ehemaligen Pflegekindern sind längst Erwachsene geworden, die selbst die Initiative hätten ergreifen können, wenn es denn ihr Anliegen gewesen wäre. Zudem würde es nicht möglich sein, allen ehemaligen Pflegekindern gerecht zu werden. Denn schon die ersten Gespräche zeigten, dass deren Erfahrungen sehr unterschiedlich ausfielen. Die einen schafften es, ihre Flucht- und Heimerfahrungen zu verarbeiten und die neue Lebenssituation in der Schweiz zu bewältigen. Andere litten darunter. Erst recht, wenn die Familie, die für sie ausgesucht worden war, sich nicht als glückliche Wahl herausstellte. Für die meisten von ihnen folgte auf die Trennung von ihren leiblichen Eltern und der Verschickung in ein fremdes Land eine jahrzehntelange, schmerzvolle Spurensuche und Identitätsfindung.

    Dazu kamen weitere Zweifel: Wer sich mit der Aeschimann-Aktion befasst, sollte auch dem Dalai Lama ein paar Fragen stellen können. Es war uns klar, dass es schwierig werden könnte, ihn für ein Gespräch über einen Entscheid zu gewinnen, den er als junger Mann in einer offensichtlichen Notlage getroffen hatte.

    Was uns schließlich dazu bewogen hat, uns in diesem Spannungsfeld dennoch an die Recherche zu machen, waren die ersten Begegnungen mit ehemaligen Pflegekindern, ihre Offenheit und das Vertrauen, das sie uns entgegenbrachten.

    Bewegende Geschichten

    Zur generellen Situation von tibetischen Kindern und Jugendlichen im Exil gibt es einzelne Untersuchungen, wie etwa jene des Historikers Wangpo Tethong über die Lage von jungen Tibetern in Europa.²¹ Mehrere Arbeiten befassen sich auch mit tibetischen Jugendlichen in der Schweiz.²² Zu nennen ist hier die Studie des Ethnologen Martin Brauen und des Soziologen Detlef Kantowsky, die sich zu Beginn der 1980er-Jahre intensiv mit diesem Thema befassten. Dabei untersuchten sie die »drei sozialen Milieus«, in denen tibetische Flüchtlinge in der Schweiz angesiedelt wurden. Hierzu gehörten das Kinderdorf Pestalozzi in Trogen sowie die Siedlungen, die das Schweizerische Rote Kreuz (SRK) gemeinsam mit dem Verein Tibeter Heimstätten (VTH) in verschiedenen Regionen der Schweiz gegründet und für Flüchtlingsfamilien eingerichtet hatte. Dies, nachdem der Bundesrat im März 1963 beschlossen hatte, 1000 tibetische Flüchtlinge aufzunehmen.²³ Und schließlich bezogen Brauen und Kantowsky die tibetischen Kinder mit ein, die in Pflegefamilien aufwuchsen.²⁴ Eine Einzelstudie zur Aeschimann-Aktion liegt jedoch bis heute nicht vor.

    Um hierzu einen Beitrag zu leisten, führten wir in einem ersten Schritt Gespräche mit ehemaligen Pflegekindern, Pflegeeltern, tibetischen Eltern in der Schweiz und in den USA sowie weiteren Angehörigen. Wir sprachen mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die in die Pflegekindaktion eingebunden waren, wie die Nachfahren von Charles Aeschimann, oder die als Außenstehende einen Einblick bekommen hatten, wie die Schweizer Ärztinnen und Ärzte, die damals im Auftrag des SRK in der Nursery tätig gewesen waren. Diese Gespräche führten uns durch die ganze Schweiz, von der Basler Agglomeration bis an den Genfersee, von Olten bis ins Engadin – aber auch nach Dharamsala, das noch heute das Zentrum der Exiltibeter in Indien ist. Dort haben wir etwa mit jenem hochbetagten Mönch gesprochen, der in der Nursery in die Auswahl der Kinder für die Schweiz involviert war. Alle Beteiligten haben sich trotz des schwierigen Themas und der langen Zeit, die seither vergangen ist, um Antworten bemüht.

    Einige unserer Gesprächspartnerinnen und -partner wollten in diesem Buch namentlich genannt werden, andere zogen es vor, anonym zu bleiben. Ihrem Wunsch entsprechend haben wir ihre Aussagen mit fiktiven Initialen gekennzeichnet.

    Erhellende Quellen

    Bei diesen Gesprächen wurde viel Material an uns herangetragen: ganze Bundesordner mit Korrespondenzen zwischen Aeschimann und den Pflegeeltern, Zeitungsartikel, Tagebuchaufzeichnungen, Fotografien und aufwühlende Briefe, die tibetische Eltern damals in der Hoffnung geschrieben hatten, ihre Kinder wiederzusehen.

    Wir konnten auch auf Material im privaten Archiv der Familie Aeschimann zurückgreifen, das uns im Rahmen einer ersten journalistischen Recherche zugänglich war. Es wäre im Interesse der ehemaligen Pflegekinder, dass die Unterlagen in ein staatliches Archiv wie etwa das Schweizerische Bundesarchiv überführt werden könnten, um die Akteneinsicht für die Betroffenen zu erleichtern, wie es das neue Bundesgesetz über die Aufarbeitung fürsorgerischer Zwangsmaßnahmen vorsieht, das seit 1. April 2017 in Kraft ist.²⁵

    Neben dem umfangreichen und bisher unveröffentlichten Material analysierten wir in Zeitungen, Radio und Fernsehen die damaligen Debatten zur Flüchtlingsproblematik nach dem Zweiten Weltkrieg und besonders zu den tibetischen Kindern in der Schweiz. Zur Aeschimann-Aktion haben wir Akten im Schweizerischen Bundesarchiv in Bern, im Klösterlichen Tibet-Institut in Rikon, im Archiv des Kinderdorfs Pestalozzi in Trogen und im Archiv des Völkerkundemuseums der Universität Zürich gefunden. Aufschlussreich waren auch die Dossiers aus dem Bestand des SRK, das bei der Betreuung der tibetischen Flüchtlinge in der Schweiz eine wichtige Rolle gespielt hatte.

    Trotz der Materialfülle war manch simple Frage nicht einfach zu beantworten, etwa, wie viele tibetische Mädchen und Knaben überhaupt durch Aeschimann zu Schweizer Pflegefamilien kamen. Im Oktober 1961 hatte er von den Bundesbehörden die Zusage erhalten, maximal 200 tibetische Kinder ins Land zu holen, eingerechnet diejenigen, die für das Kinderdorf Pestalozzi bestimmt waren.²⁶ Aeschimann selbst gab in einem Bericht an, 158 Kinder in Familien untergebracht zu haben.²⁷ Davon reisten 154 mit einer der fünf Gruppen ein, die im August 1961, im Mai 1962, im Januar und Juli 1963 und im März 1964 eintrafen.²⁸ Vier Kinder gelangten vorher oder nachher einzeln ins Land. Hinzuzuzählen sind weiter drei Kinder, die auf anderem Weg in die Schweiz gekommen waren und mithilfe des SRK in Pflegefamilien platziert wurden, die von Aeschimann bereits ein Kind vermittelt bekommen hatten.²⁹ Alles in allem gingen demnach 161 Kinder an Pflegefamilien, die Aeschimann ausgesucht hatte. Darunter war ein Mädchen, das einer Familie in Frankreich zugesprochen wurde. Alles in allem kann man deshalb von 160 »Aeschimann-Kindern« in der Schweiz reden. Diese Zahl wird auch auf tibetischer Seite bestätigt.³⁰

    Um die jeweiligen Pflegeverhältnisse zu untersuchen, haben wir Falldossiers von Kindern in zahlreichen kantonalen Archiven konsultiert, um zumindest anhand von Stichproben zu klären, wie es um die Pflegeaufsicht stand – ein Thema, das auch in der Gegenwart angesichts der heftigen Debatten über die neue Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) brisant ist.³¹

    Auch in Dharamsala suchten wir nach Akten zu den tibetischen Pflegekindern. Der Historiker Wangpo Tethong, der mit seinen Eltern im Kinderdorf Pestalozzi aufgewachsen ist und Tibetisch spricht, hat uns bei diesen Recherchen unterstützt. Er hat sich an das Privatbüro des Dalai Lama in Dharamsala gewandt, um allfällig vorhandene Akten einsehen zu können. Ihm wurde jedoch mitgeteilt, dass dies nicht möglich sei.³² Zugänglich waren uns hingegen Dokumente in der Nachfolgeinstitution der Nursery, dem Tibetan Children’s Village (TCV). Dazu gehören Steckbriefe, bestehend aus Karteikarten mit Informationen zu den einzelnen Kindern, die für Pflegefamilien in der Schweiz ausgewählt worden waren.

    Ein ehemaliges Pflegekind, Thubten Purang, hat dort bereits früher recherchiert, diese Karteikarten fotografiert und uns seine Dokumentation für eine Auswertung zur Verfügung gestellt. Aus den einzelnen Steckbriefen gehen jeweils der Name des Kindes, sein Geschlecht und sein Jahrgang sowie Informationen zu den leiblichen Eltern hervor. Wangpo Tethong hat 144 dieser Kinderdossiers systematisch analysiert und so die geografische und soziale Herkunft der Kinder eruieren können. Auffallend ist, so sein Befund, dass die Mehrheit – 103 von 144 Kindern – aus Zentraltibet stammte und ein beachtlicher Teil davon aus Lhasa, der Hauptstadt des Autonomen Gebiets Tibet der Volksrepublik China. Zudem sind die Kinder – mit wenigen Ausnahmen – der Unter- oder Mittelschicht zuzuordnen.³³

    Wir hoffen, mit diesem Buch über die tibetischen Pflegekinder einen Beitrag zur Fremdplatzierung von ausländischen Kindern in der Schweiz zu leisten. Dies scheint uns deshalb sinnvoll, weil sie zu den ersten Gruppen von außereuropäischen Kindern überhaupt gehörten, die von der Schweiz aufgenommen und von Pflegefamilien später zum Teil adoptiert wurden.³⁴ Damit sind ihre Lebensgeschichten

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