Heimkinder: Eine Geschichte des Aufwachsens in der Anstalt
Von Urs Hafner
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Buchvorschau
Heimkinder - Urs Hafner
«Wie hat man es fertiggebracht,
dass die Menschen das Bestraftwerden
ertragen?»
Michel Foucault
Inhalt
Ohne Eltern
I.
Die Gnade des Spitals
Das Kloster als Urzelle
Die Reformation und ihre Moral
II.
Das Regime des Waisenhauses
Strenge Zucht in Zürich
Pädagogische Pläne in Bern
Waisenhäuser im Umbruch
Eine pietistische Modellwelt
III.
Die Utopie der Rettungsanstalt
Pauperismus und Philanthropie
Der Waisenhausstreit
Pestalozzis positives Menschenbild
Die Reformanstalten
Rettungsanstalt Freienstein
Konfessionelle Differenzen
Das 19. Jahrhundert als Anstaltenjahrhundert
IV.
Eine Anstaltsgeschichte in Bildern
V.
Die Transformation des Heims
Verwahrlosung, gesetzlich verankert
Looslis Anstaltskritik
Die katholische Anstalt
Landerziehungsheim versus Zwangserziehungsanstalt
Verdingte Kinder und Kinder der Landstrasse
Die Zäsur der Heimkampagne
Abgründe in Selbstzeugnissen
Neue Heimtypen und ihr schweres Erbe
Die Wege der Fremdplatzierung
Das partizipative Kind
Einschliessen als Ausschluss
Anhang
Ohne Eltern
Ein Kind hat einen Vater und eine Mutter. Es wohnt mit ihnen am selben Ort, im selben Haus. Betreut von seinen Eltern, wächst das Kind in seiner Familie auf. Wenn es das Jugendalter erreicht hat – also je nach Ausbildung, familiären und finanziellen Verhältnissen im Alter zwischen 18 und 25 Jahren –, zieht es aus, lebt mit anderen in einer Wohngemeinschaft oder mit dem Freund oder der Freundin zusammen, um eines Tages einen eigenen Hausstand zu gründen und selber Kinder grosszuziehen.
Ungefähr so stellen wir uns das Aufwachsen und Erwachsenwerden eines Kindes und Jugendlichen vor. Doch damit projizieren wir unsere Normalitätsvorstellungen auf die Gegenwart kindlicher und jugendlicher Lebenswelten. Die Realität ist eine andere: Aufgrund vielfältiger Patchwork-Familienkonstellationen und hoher Scheidungsraten wachsen heute viele Kinder nicht mehr nur zusammen mit den biologischen Eltern, sondern mit sozialen Elternteilen – also den neuen Partnerinnen und Partnern der leiblichen Eltern – sowie an mehreren Orten auf – dort, wo die Betreuungspersonen leben. Kinder aus schwierigen familiären Verhältnissen, welche das Aufwachsen massiv beeinträchtigen können, verbringen zudem längere Phasen der Adoleszenz oft ausserhalb ihrer Herkunftsfamilie, sei es in Pflegefamilien oder stationären Institutionen wie etwa in Jugendheimen.
Die sozial breit akzeptierte Wunschvorstellung, dass das Grosswerden im emotional dichten Rahmen der Herkunftsfamilie der Normalfall sei, wird wahrscheinlich umso stärker, je weniger sie mit der Realität übereinstimmt. Je weniger diese dem entspricht, was wir als gut betrachten, je mehr diese also unsere moralischen Vorstellungen und unser Selbstbild kränkt, desto eher malen wir uns ein geschöntes Bild. Was gut und normal sei, denken wir, sei schon immer so gewesen und sei überall so. Wie Ethnologen berichten, war es auf den westpazifischen Karolinen-Inseln noch im 20. Jahrhundert gang und gäbe, dass Eltern ihre Kinder dauerhaft in fremde Hände gaben – nicht weil sie ihrer überdrüssig geworden oder mit ihnen überfordert gewesen wären, sondern weil diese Sitte dem Gedeihen des Nachwuchses als förderlich galt. Die Gesellschaft versprach sich vom Kindertausch zwischen verschiedenen Familien eine verstärkte soziale Integration, Kohäsion und Reziprozität.¹ Noch weniger trifft die Unterstellung, dass alle Kinder ganz natürlicherweise und am besten bei ihren leiblichen Eltern aufwachsen, auf die Vergangenheit zu. Das 19. Jahrhundert etwa, das – zumindest aus historischer Perspektive – noch nicht lange Geschichte ist, gilt als das «Jahrhundert der Anstalten»: Tausende von Kindern vor allem aus den Unterschichten wuchsen in den von bürgerlichen Kreisen neu gegründeten Rettungshäusern und Erziehungsanstalten auf. Noch früher beherbergten Spitäler, Waisen- und Arbeitshäuser elternlose, verstossene oder von zu Hause ausgerissene Kinder und Jugendliche.
Von ihnen handelt dieses Buch. Es handelt nicht von der Normalität des Aufwachsens im familiären Rahmen, sondern von der – für die betroffenen Fälle – zu akzeptierenden Realität des Aufwachsens ohne Eltern. Das Buch erzählt mit Blick auf die Gegenwart die lange Geschichte jener Kinder und Jugendlichen, die in der Schweiz seit dem Mittelalter in Heimen, Anstalten und anderen stationären Einrichtungen untergebracht wurden, weil sie keine Eltern hatten, weil diese ohne ihre Kinder leben wollten, weil sie den Eltern davongelaufen, von diesen geschlagen oder als Arbeitskräfte oder Lustobjekte missbraucht worden waren, weil die Eltern gemäss den Behörden nicht ausreichend für die Kinder sorgten oder in den Augen der tonangebenden Eliten einen anstössigen Lebenswandel führten. Es gibt viele Gründe, welche Kinder von ihren Eltern trennen.
Und es gibt viele Möglichkeiten, wie Kinder ohne ihre Eltern aufwachsen. Häufig werden und wurden sie von anderen Erwachsenen aufgenommen oder in anderen Familien untergebracht, vorzugsweise bei Verwandten. Davon ist in diesem Buch nur am Rande die Rede; ein Exkurs widmet sich dem in der Schweiz weitverbreiteten Phänomen der «Verdingkinder» im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert. Aus zwei Gründen werden die in Pflegefamilien untergebrachten Kinder nicht systematisch berücksichtigt: Erstens rekonstruiert dieses Buch die Geschichte der von einer Gesellschaft eigens institutionalisierten Fremdplatzierung von Kindern, nicht die sich quasi von selbst aufdrängende Alternative der Unterbringung bei Verwandten oder Bekannten. Die Geschichte der Institutionen, die elternlose oder verlassene Kinder aufnehmen, soll dem Leser die Vorgeschichte der heutigen Heime nahebringen. Wenn man deren Vergangenheit kennt, versteht man ihre Gegenwart besser. Dabei zeigt sich, dass es keine über die Jahrhunderte gleichbleibende Lösung des «Problems» elternloser Kinder gibt, ja dass sogar die Wahrnehmung der Existenz elternloser Kinder als ein soziales oder gar für die Kinder existenzielles Problem keineswegs selbstverständlich ist.
Zweitens ist die Geschichte der Unterbringung von Kindern bei Verwandten oder fremden Familien, abgesehen von den «Verdingkindern», kaum erforscht. Erstaunlich ist dies nicht: Während Institutionen wie Klöster, Spitäler, Armenhäuser und Heime zumindest offizielle und offiziöse Quellen produzieren, die von ihrer Entstehung, Gründung, Finanzierung, Leitung, den möglichen baulichen Veränderungen und so weiter und am Rande von den Insassinnen und Insassen zeugen, hat der Aufenthalt von Kindern in fremden Familien bis ins 19. Jahrhundert kaum Spuren hinterlassen. Wer etwas darüber wissen wollte, müsste umso intensiver suchen. Da sich dieses Buch vorwiegend auf publizierte Forschungen stützt und diese verdichtet, hat es diese Seite der Fremdplatzierung von Kindern – die Unterbringung bei Verwandten – zwangsläufig wenig berücksichtigt. Genau genommen handelt es sich bei der Unterbringung von Kindern in Pflegefamilien ebenfalls um eine institutionalisierte Fremdplatzierung, zumindest dann nämlich, wenn politische oder geistliche Behörden diese Massnahme systematisch und mit bestimmten pädagogischen Zielen anordnen. Zumindest in der Gegenwart stehen die beiden Möglichkeiten der Fremdplatzierung, sei es die Pflegefamilie oder das Heim, nahezu gleichwertig nebeneinander oder sind gar in ihren Mischformen nicht mehr deutlich auseinanderzuhalten.
Ein Klima der Kälte und der Angst
Eine Geschichte der Kinderheime und Jugendanstalten in der Schweiz – beziehungsweise der Heime auf dem Gebiet der heutigen Schweiz – muss freilich ein grosses Defizit in Kauf nehmen. Die überlieferten Quellen geben fast ausschliesslich die Sicht der Erwachsenen wieder. Diese Spuren sind indes nicht uninteressant, im Gegenteil: Aus Heimordnungen, Gründungsstatuten, Insassenlisten, Aufzeichnungen des Heimleiters, Speise- und Unterrichtsplänen und anderem kann man sehr wohl annäherungsweise den Alltag in der Anstalt, ja den Geist eines Heims rekonstruieren. Wer gründete, wer leitete, wer finanzierte die Anstalt? Wann mussten die Kinder aufstehen, wie den Tag verbringen, wann zu Bett gehen? Wie oft wurde gebetet, wie und wer wurde bestraft, was bekamen die Zöglinge zu essen? Wurden die Mädchen von den Knaben getrennt? Wie alt waren die Kinder und Jugendlichen beim Ein- und beim Austritt aus der Institution? Warum wurden sie in die Anstalt eingewiesen, was erhofften – und erhoffen – sich die Zuständigen vom Heimaufenthalt, welche Kinder und Jugendlichen wurden interniert?
Diese und andere Fragen versucht dieses Buch zu beantworten. Sein eigentlicher Gegenstand freilich kommt kaum vor: die Kinder und Jugendlichen als Subjekte – das heisst: ihre Sicht der Dinge, ihre Gefühle, Erfahrungen und Handlungen. Die ohnehin seltenen Quellen, in denen die Kinder überhaupt zur Sprache kämen – das könnten Aufzeichnungen, Briefe, Zeichnungen, Gespräche und Erinnerungen sein –, hat nahezu niemand überliefert. Für das 20. Jahrhundert stehen uns dafür auf Kindheitserinnerungen sowie auf autobiografischen Erlebnissen beruhende literarische Aufzeichnungen von ehemaligen Heiminsassinnen und -insassen zur Verfügung. Die teils erschütternden Erinnerungen evozieren meist ein Klima der Kälte und der Angst, das in der betreffenden Institution geherrscht haben muss. Natürlich täuschen wir uns fast immer, wenn wir uns genau an weit zurückreichende Ereignisse zu erinnern vermeinen. Was für die Angabe des Orts und der Zeit sowie Details wie Farben, Beteiligte und Formen gilt, trifft jedoch nicht für die Grundstimmung einer vergangenen Zeit zu. Eine grösstenteils düstere Kindheit wird kaum als glücklich verbrachte Lebenszeit erinnert werden – und umgekehrt. Auch Heimaufenthalte der jüngsten schweizerischen Vergangenheit sind wissenschaftlich wenig untersucht.
Von den soziologischen Aufzeichnungen sowie den Erinnerungen und literarisch-fiktionalen Aufzeichnungen abgesehen, stehen wir, was die Wahrnehmung der Kinder und Jugendlichen ihrer Zeit in Heimen und Anstalten anbelangt, sozusagen vor dem Nichts. Wenn Kinder in den Quellen überhaupt vorkommen, dann nur in der Sicht der Erwachsenen, also der Anstaltsleiter und Heimerzieher. Und diese tendieren dazu, die Kinder so zu sehen, wie sie diese sehen wollen. Ein Erzieher, der davon überzeugt ist, dass er die ihm anvertrauten Zöglinge bessern muss, weil sie schlecht und verdorben sind, ist kein vertrauenswürdiger Zeuge. Seine Schilderungen der Kinder, ihrer Einstellungen und Ansichten sagen mehr über ihn, über seine Wahrnehmung seiner Umgebung aus als über das Wahrgenommene. Auch diese Heimgeschichte muss also fast vollständig auf die Wiedergabe der Erfahrungen der jungen Insassinnen und Insassen verzichten. Was gäbe der Historiker nicht dafür, wenn er wüsste, wie ein Kind seinen Aufenthalt im mittelalterlichen Spital – inmitten von verarmten und kranken Erwachsenen – oder im frühneuzeitlichen Arbeitshaus – in unmittelbarer Nachbarschaft von erwachsenen Delinquenten – erlebte.
Die Geschichte der Heimunterbringung von Kindern ist keine sorglose Geschichte. Kind und Jugendlicher zu sein, ist an sich keine einfache Sache. Mag auch die Zeit des zweckfreien Spiels und der empfundenen Wärme des elterlichen Körpers nicht nur zum Wichtigsten, sondern auch zum Schönsten gehören, was einem Menschen widerfahren kann, so gestaltet sich das Hineinwachsen in die Welt der Erwachsenen, das ohne die konfliktuelle Loslösung von den Eltern nicht gelingen kann, als eine in der Regel beschwerliche, ja schmerzvolle Angelegenheit. Der französische Philosoph Louis Althusser hat vom Drama eines jeden Menschen gesprochen, in Einsamkeit und gegen den Tod einen langen Gewaltmarsch auf sich nehmen zu müssen, auf dem er aus einer säugetierartigen Larve ein – männliches oder weibliches – Subjekt wird.² So gesehen kann man sich sogar darüber wundern, dass dieser schwierige und hochkomplexe Vorgang – also die Entwicklung vom völlig unselbständigen Säugling, der ohne Hilfe von aussen zum Tod verdammt wäre, zum hoffentlich autonomen Erwachsenen – häufiger glückt als missglückt. Oder ist dem etwa nicht so? Jedenfalls ist die Zahl jener Kinder, die im Laufe der letzten Jahrhunderte eine unbeschwerte Kindheit verbringen durften, ohnehin verschwindend klein.³
Um wie viel schwieriger gestaltete und gestaltet sich ein gelingendes Heranwachsen für Kinder, die in autoritär geführten Heimen aufwachsen mussten und müssen! Selbst wenn man in Rechnung stellt, dass einzelne Kinder wohl jeden anderen Ort der Hölle des elterlichen Zuhauses vorzogen und vorziehen und im Heim zumindest Schutz vor permanenter Drangsalierung fanden oder eine Art Geborgenheit anstelle grosser Einsamkeit, so dürfte der Heimalltag vor allem bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts wenig Grund zu Freude, Ausgelassenheit und Glück gegeben haben. Auch wenn wir die Kinder nicht mehr selber fragen können: Der Grossteil der überlieferten Quellen vermittelt einen Eindruck von unerbittlicher erzieherischer Strenge, von körperlichen Strafen, seelischen Demütigungen, von Überwachung und Kontrolle, von schlechtem Essen, von anstrengenden Arbeiten – und von Mangel an Liebe, Zärtlichkeit und Zuwendung.
Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts war die von stationären Institutionen geleistete Betreuung fremdplatzierter Kinder stark religiös geprägt. Ob die Einrichtungen – wie das Spital im Mittelalter und das Waisenhaus in der Frühneuzeit – die Insassen in erster Linie aus einer christlichen Haltung der Barmherzigkeit verpflegten und verwahrten und sich dabei in weltanschaulich-erzieherischer Hinsicht auf religiöse Andachten und das Rezitieren biblischer Sprüche beschränkten oder ob sie im Gegenteil – wie die konfessionell ausgerichteten Rettungsanstalten und Kinderheime des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts – die Kinder einer auf Frömmigkeit und Arbeitsamkeit abzielenden Pädagogik unterzogen: Die Betreuung und Erziehung der Kinder und Jugendlichen war bis zur «Heimkampagne» Anfang der 1970er-Jahre, die im Geiste der 68er-Bewegung mit der Vergangenheit brach, stark christlich dominiert. Christlich freilich meistens nicht im Sinne der Nächstenliebe, die auf einer ideologischen Ebene immer wieder ins Feld geführt wurde, oder gar in der Tradition eines irgendwie franziskanisch inspirierten Frohsinns, sondern christlich in einem disziplinierenden und repressiven Sinn. Der nicht von ungefähr der spätmittelalterlichen Klosterwelt entnommene Sinnspruch «Ora et labora» – bete und arbeite – der protestantischen Rettungsanstalten des 19. Jahrhunderts bringt diesen Geist paradigmatisch zum Ausdruck: Als tüchtig arbeitender und innig betender Mensch sollte das einst sündige und missratene Kind zum nützlichen Staatsbürger geschmiedet werden. Dass dieser Weg zwangsläufig durch ein Tal von Tränen führte, stand für die Aufseher und Erzieher ausser Frage.
«Hört ihr die Kinder weinen» – zwar ist die Studie, die der amerikanische Psychohistoriker Lloyd deMause der Geschichte der Kinder gewidmet hat, wegen ihrer Stossrichtung, diese nur als Opfer zu sehen, umstritten.⁴ Doch der Titel darf für dieses Buch sprechen, das sich mit Kindern befasst, die ohne ihre Eltern in meist streng kontrollierten Institutionen aufwachsen. Die Geschichte der in Heimen und Anstalten untergebrachten Kinder und Jugendlichen ist über weite Strecken eine Geschichte weinender Kinder und Jugendlicher, die von niemandem gehört wurden.
Das Mittelalter kennt keine kindgerechte Pädagogik, aber auch nicht die Anomalie der Verhaltensauffälligkeit. Waisenkinder finden Obhut und – zumindest gemäss der christlichen Lehre – Barmherzigkeit im Spital. Elternlose Kinder sowie bedürftige und kranke Erwachsene leben oftmals in den gleichen Räumen. Sie werden mit dem Lebensnotwendigsten unterstützt und auf Betteltour geschickt. Betteln ist weder verpönt noch verboten. Die Armut wird breit akzeptiert, weil sie den Reichen die Möglichkeit bietet, mit ihren Almosen die göttliche Gnade zu erlangen.
Die Gnade
des Spitals
Wie war es im Mittelalter, ein Kind zu sein? Standen die Erwachsenen, wie der Mentalitätshistoriker Philippe Ariès behauptet, den Kindern gleichgültig gegenüber und behandelten sie als kleine Erwachsene, was ihnen – oder zumindest den privilegierten unter ihnen – zumindest ein von moralisierenden und pädagogisierenden Interventionen unbehelligtes Aufwachsen erlaubte? Oder hatten die Kinder für die Erwachsenen einen derart geringen Wert, dass diese jene, wie der Psychohistoriker Lloyd deMause vermutet, bei jeder Gelegenheit schlugen und sogar töteten, wenn sie sich von ihnen keinen Nutzen mehr versprachen?⁵ Das sind zwei extreme Positionen. Doch ihr Auseinanderklaffen zeigt, dass das mittelalterliche Leben nicht einfach zu rekonstruieren ist, ganz abgesehen davon, dass die Lebensweisen, die Sitten und Gebräuche je nach Region und Epoche beträchtlich variierten. Die Quellenlage lässt über den Alltag einfacher Leute im Mittelalter kaum gesicherte Aussagen zu; überliefert sind im schriftlichen Bereich vor allem offizielle Dokumente wie etwa Urkunden. Diese geben ohnehin keine Auskunft über die Lebenswirklichkeiten von Kindern. Wahrscheinlich litten diese unter der für das Spätmittelalter charakteristischen hohen Gewaltbereitschaft. Der Mediävist Arnold Esch berichtet von brutalen, tödliche Folgen nach sich ziehenden Züchtigungen durch Eltern und Geistliche. Ein Augenzeuge im Wallis des 15. Jahrhunderts erinnert sich, wie ein Vater seiner siebenjährigen Tochter eines Abends befahl, «sie solle singen. Aber sie wollte nicht. Wütend darüber, schlug er sie mit zwei Ruten aus einem Besen, und mit der flachen Hand stiess er sie zu Boden.»⁶
Die Armut dürfte im Hochmittelalter in städtischen Gebieten einer der wichtigsten Gründe gewesen sein, weshalb Kinder nicht bei ihren Eltern aufwuchsen. Sie stellte ein strukturelles Problem der mittelalterlichen Städte dar. Rund 20 Prozent der Bevölkerung sahen sich in ihrer unmittelbaren physischen Existenz bedroht. Das Spektrum der Betroffenen reichte von Waisen, Krüppeln, Kranken und Witwen über die sogenannten unehrlichen Berufe – etwa Scharfrichter, Prostituierte, Abdecker – und unselbständigen Lohnabhängigen, die in der Textilproduktion, im Bauhandwerk und im Agrarsektor tätig waren, bis zu den selbständigen Handwerken.⁷ Das gängigste Mittel, die Folgen der Armut abzuschwächen, war das Betteln. Bettelnde Menschen gehörten in vielen Gegenden Europas noch bis in das 19. Jahrhundert zum Strassenbild, doch im Mittelalter galt das Betteln als ein legitimes Mittel, sein Auskommen zu finden.⁸ Es unterlag – dies im Unterschied zu heute – keinerlei sozialen Ächtung. Die Bettler und Bettlerinnen gingen in den Augen der Gesellschaft einem anerkannten Beruf nach. In manchen Städten schlossen sie sich sogar zu zunftähnlichen Gebilden zusammen. Wer vom Bettel lebte, wurde deswegen nicht stigmatisiert. Wer um Almosen bat, dem wurde in der Regel gegeben.⁹
Ohne die Religiosität ist die mittelalterliche Wohlfahrt nicht zu begreifen. Die Furcht vor der Hölle und vor dem Jüngsten Tag, an dem durch die göttliche Rechtsprechung die Gerechten von den zur Hölle Verdammten geschieden würden, liess die Gläubigen – zumindest diejenigen, die es sich leisten konnten – nach «guten Werken» streben, die ihr eigenes Seelenheil sowie dasjenige naher Verstorbener garantieren sollten. Die mittelalterliche Frömmigkeit umfasste die Lebenden wie die Toten, die zwischenmenschlichen Bindungen einer Gruppe wurden durch den Tod nicht gelöst. Der Tote war eine unter den Lebenden gegenwärtige Person. Mit dem Mittel der Stiftung konnte die Gegenwart der Toten immer wieder erneuert und gesichert werden.
Der Stifter stellte Teile seines Vermögens für einen dauernden spirituellen Zweck zur Verfügung. Stiftungen waren im Mittelalter eine tragende Säule der Wirtschaft und Wohlfahrt. Die wichtigsten Stifter waren die adligen Stände, besonders die Könige und Kaiser. Sie stifteten Dome, Spitäler, Studentenheime, Klöster und Kanonikerstifte. Den Stiftungen lagen zwar auch weltliche Motive zugrunde: Schutz und Sicherung des Besitzes innerhalb der Dynastie, dessen Bewahrung vor Erbteilung, die Schaffung einer Versorgungsanstalt für Söhne und Töchter, politische Interessen, Machterhaltung, verwaltungstechnische Erfordernisse. Das wichtigste Motiv jedoch war ein religiöses: die Überzeugung, dass man mit einer frommen Stiftung den von der betenden klerikalen Gemeinschaft geschaffenen Zugang zum göttlichen Gnadenschatz erhalten würde. Der Stifter stiftete, und die Beschenkten gedachten seiner im unablässigen Gebet. Auch nach seinem Hinschied erneuerten sie das Gedenken an den Toten und versorgten dessen Seele,