Wem verdanke ich mein Leben?: Adoptiv-, Spender- und Kuckuckskinder auf der Suche nach ihrer Herkunft
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Über dieses E-Book
Das Buch versammelt 11 einzigartige Geschichten, die den vielschichtigen Weg der Protagonisten offenbaren. Ergänzt werden diese Erzählungen durch Beiträge von Adoptions-Experte Sandro Körber und Psychologin Claudia Leuenberger, die tiefe Einblicke in das menschliche Bedürfnis geben, die eigene Herkunft zu erforschen.
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Rezensionen für Wem verdanke ich mein Leben?
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Buchvorschau
Wem verdanke ich mein Leben? - Regula Brühwiler-Giacometti
In diesem Buch lässt Regula Brühwiler-Giacometti Adoptiv-, Spender- und Kuckuckskinder zu Wort kommen, die von ihrer Suche nach ihren biologischen Wurzeln erzählen, von ihren ganz individuellen emotionalen Entdeckungsreisen, auf die sie alle sich begeben haben – ausgerüstet mit nur wenigen Informationen. So entstanden elf einzigartige Geschichten, welche die verschlungenen Lebenswege der hier porträtierten Menschen nachzeichnen und einen Einblick gewähren in die tiefe menschliche Sehnsucht, die eigene Herkunft zu kennen. Ergänzt werden diese Erzählungen durch Beiträge des Adoptionsexperten Sandro Körber sowie der Psychologin Claudia Leuenberger.
«Hier möchte ich nicht nur Adoptierten eine Plattform bieten, sondern auch Spender- und Kuckuckskinder zu Wort kommen lassen. Denn auch ihnen fehlt ein wichtiges Puzzleteil in ihrer Lebensgeschichte.»
So unterschiedlich die in diesem Buch porträtierten Menschen sind – sie alle eint das große Bedürfnis, mehr über die eigene Abstammung, mehr über ihre biologische Familie zu erfahren. Denn die Familie ist Teil der eigenen Identität. Kinder, die bei ihren leiblichen Eltern aufwachsen, gehören zu einer Sippe, die zumeist auf viele Generationen zurückblickt. Sie kennen ihre Großeltern, Tanten und Geschwister, finden Ähnlichkeiten und Besonderheiten, können sich in ihnen wiedererkennen. Diese Selbstverständlichkeit fehlt den Adoptierten, den Samenspenderkindern und Kuckuckskindern, und sie sind mit der Möglichkeit konfrontiert, dass sie vielleicht nie herausfinden werden, wer ihnen das Leben geschenkt hat.
Regula Brühwiler-Giacometti,
geboren 1958 in St. Gallen, aufgewachsen in Lugano, wurde als Baby adoptiert. Durch ihren beruflichen Werdegang wurde sie immer wieder mit dem Thema Adoption konfrontiert. 2017 schrieb die Autorin ihr erstes autobiografisches Buch «Seitensprungkind», das sich zum Longseller entwickelte. Noch im selben Jahr meldeten sich bei ihr sieben Halbgeschwister von deren Existenz sie nichts wusste. Alle Geschwister wurden wie sie fremdplatziert. Ihre Geschichten vereinte die Autorin in ihrem zweiten Werk «Plötzlich Familie». Das Buch löste eine große Resonanz aus und wurde gleich zum Bestseller. Heute arbeitet sie als Gerichtsdolmetscherin, lebt im Kanton Aargau, ist verheiratet und Mutter eines erwachsenen Sohnes.
REGULA BRÜHWILER-GIACOMETTI
WEM VERDANKE ICH
MEIN LEBEN?
Adoptiv-, Spender- und Kuckuckskinder auf der Suche nach ihrer Herkunft
CAMEO
1. Auflage 2023
Copyright © 2023 Cameo Verlag GmbH, Bern
Alle Rechte vorbehalten.
Der Cameo Verlag wird vom Bundesamt für Kultur
für die Jahre 2021 – 2024 unterstützt.
Lektorat: Susanne Schulten, Duisburg
Umschlaggestaltung, Layout und Satz: Cameo Verlag GmbH, Bern
ISBN: 978-3-039510-42-9
E-Book: CPI books GmbH, Leck
Allen Adoptiv-, Spender- und Kuckuckskindern gewidmet
Inhaltsverzeichnis
1. VORWORT
Wie es zu diesem Buch kam
2. MEIN NEUES LEBEN
3. ADOPTION – EINFÜHRUNG
4. DIE SUCHE NACH DER LEIBLICHEN FAMILIE
Sandro Körber, MLaw, Leiter Zentrale Behörde Adoption des Kantons Thurgau
5. AYMARA
Von la Paz nach Bern
6. ANNAMARIA
«Das Italienerli»
7. DANIEL
Vom verlassenen Bub zum Fünf-Sterne-Hoteldirektor
8. SAKUNTALA
Ein Opfer des Babyschmuggels
9. SABRINA
Ein Platzspitzkind
10. BRIGITTE
Ihr größter Traum geht in Erfüllung
11. SPENDERKINDER – EINFÜHRUNG
12. STEFANIE UND SIMONE
Zwei Halbschwestern lüften das Familiengeheimnis
13. HANNES
Plötzlich zwei Väter und vielleicht 50 Halbgeschwister
14. KUCKUCKSKINDER – EINFÜHRUNG
Zwei Kuckuckskinder erzählen
15. ANDRÉ
Das betrogene Kuckuckskind
16. NELE
Brief an meine Tochter
17. DAS GRUNDBEDÜRFNIS JEDES MENSCHEN, DIE EIGENE HERKUNFT ZU ERGRÜNDEN
Psychologin und Psychotherapeutin lic. phil. Claudia Leuenberger
18. SCHLUSSWORT
19. DANK
ANMERKUNG
1. Vorwort
Wie es zu diesem Buch kam
Es war unglaublich still im Saal. Die Anwesenden folgten aufmerksam den Worten der Leserin. Man hatte das Gefühl, sie atmeten kaum mehr. In ihren Augen sah man Bewunderung und Erstaunen. Nur meine Stimme füllte den Saal. Das erlebte ich bei all meinen Lesungen. Und ich erinnere mich noch ganz genau an den Tag, als ich meine erste Lesung in Einsiedeln durchführen konnte. Ich war hypernervös und so froh, dass mein Verleger, Gabriel Palacios, bei mir war und mich souverän durch den Abend begleitete. Mit seiner ruhigen und vertrauensvollen Art nahm er mir die Angst, vor Publikum zu lesen. An jenem Abend erlebte ich diese Stille und Aufmerksamkeit das erste Mal in meinem Leben. Ich genoss das wunderschöne Gefühl, das mir die Zuhörer übermittelten.
So wie es üblich ist bei Lesungen, konnten die Anwesenden im Nachhinein mein Buch erwerben und es von mir signieren lassen. Es waren etliche Menschen vor Ort, die eine ähnliche Biografie wie meine hatten, und sie waren sichtlich erfreut, mir ihre Lebensgeschichte anvertrauen zu dürfen. Diese Momente gehören wohl zu den emotionalsten, die mir meine Bücher geschenkt haben; die wunderbaren Begegnungen mit fremden und interessierten Menschen. Ich spürte sofort eine Verbundenheit, schließlich waren wir Schicksalsgenossen, und ich konnte bei ihnen sofort eine Vertrautheit mir gegenüber spüren. Mich mit anderen Adoptierten auszutauschen, war für mich ein Novum.
Einige von ihnen offenbarten mir, dass sie auch schon begonnen hätten, ihre Geschichte niederzuschreiben, bis ganz zu Ende haben sie es jedoch nicht gebracht. Ich animierte sie weiterzumachen, denn mir persönlich hatte das Niederschreiben meiner Biografie unheimlich dabei geholfen, die Vergangenheit zu verarbeiten und mich mit ihr zu versöhnen.
Viele Interessierte, die meine zwei Bücher «Seitensprungkind» und «Plötzlich Familie» erworben haben, haben mich zudem telefonisch oder per Mail kontaktiert. Es waren mehrheitlich Schicksalsgenossen, die mir ihre Lebensgeschichte erzählen wollten. Manchmal fragten sie mich auch nach Ratschlägen, wie sie wohl am besten vorgehen sollten, um ihre unbekannte Familie zu finden.
All das berührte mich sehr, und der Gedanke, diesen Schicksalsgenossen auch eine Möglichkeit zu bieten, ihre Biografie aufzuschreiben, ließ mich nicht mehr los. In meinem zweiten Buch haben meine «neuen Geschwister» ihren Lebensweg niedergeschrieben, und für einige war es tatsächlich ein heilsamer Weg. Sie konnten ihre schwierige Vergangenheit zu Papier bringen und sich von ihr verabschieden. Der Prozess des Aufschreibens erforderte ein Zurückblicken auf die Vergangenheit, was nicht ganz einfach war und auch ein paar schlaflose Nächte mit sich brachte. Aber schlussendlich war es auch für sie ein erlösender Prozess.
Es war nämlich so, dass sich nach dem Erscheinen meines ersten Buches «Seitensprungkind» sieben Halbgeschwister bei mir gemeldet hatten, von deren Existenz ich zum Teil gar nichts wusste! Es war ein Geschenk des Himmels, dass ich mit fast sechzig Jahren plötzlich Teil einer großen Familie wurde. Eine Halbschwester hatte sich auf die Suche nach ihrer (unserer) leiblichen Mutter gemacht und musste leider erfahren, dass sie bereits acht Jahre zuvor verstorben war. Sie suchte weiter und erfuhr, dass sie sieben Halbgeschwister hat, die alle – wie auch sie – von der Mutter weggegeben wurden.
In diesem Buch möchte ich nicht nur Adoptierten eine Plattform bieten, sondern auch Spender- und Kuckuckskinder zu Wort kommen lassen. Denn auch ihnen fehlt ein wichtiger Puzzleteil in ihrer Lebensgeschichte. Die Tragik ihrer Geschichten ist allerdings bei weitem nicht so ausgeprägt wie bei den Adoptivkindern, die in einer völlig unbekannten Familie aufwachsen müssen. Spender- und Kuckuckskinder können im Gegensatz zu den Adoptivkindern bei ihrer leiblichen Mutter groß werden. Der Vater hingegen bliebt der große Unbekannte. So ist auch bei vielen von ihnen der Wunsch präsent, die leibliche Familie väterlicherseits kennenzulernen, zu wissen, von wo die Hälfte ihrer Gene stammt.
Die heutigen technischen Möglichkeiten haben Türen geöffnet, die man vor ein paar Jahr kaum für möglich gehalten hat. So steht es bekanntlich heute jedem offen, eine DNA-Analyse durchführen zu lassen und seine Daten in einer Datenbank einzuspeisen, die dann nach möglichen Verwandten sucht. Viele lassen sich von der Neugier treiben, ohne sich bewusst zu sein, was für Risiken und Überraschungen das mit sich bringen kann. Das allwissende Internet erleichtert das Suchen nach den Spuren der Vergangenheit, man findet zum Teil ganze Familienstammbäume, die öffentlich zugänglich sind. Auch via Facebook wird fleißig nach Verwandten gesucht. In den letzten Jahren boomt die Ahnenforschung im Allgemeinen. Es scheint ein Grundbedürfnis des Menschen zu sein, die Geschichte der Vorfahren zu kennen und mehr über die eigene Abstammung zu erfahren. Wer bin ich und woher stamme ich? Wer sind meine Vorfahren? Das sind Fragen, mit denen wohl die meisten von uns einmal im Leben konfrontiert werden.
Doch die Familiennachforschung ist aufwendig und eine herausfordernde Geduldsprobe, die mit Kosten verbunden ist. Nicht immer findet man bei den Genealogie-Onlineportalen die gewünschten Informationen. Es müssen Ämter und Archive durchforscht werden, aber auch hier findet man nicht immer die gesuchten Daten. Es gelten zudem Schutzfristen. Kirchenbücher werden auch häufig als Mittel für die Suche benutzt, denn hier findet man Informationen über Taufen, Eheschließungen oder Begräbnisse, die bis ca. Mitte des 16. Jahrhunderts zurückreichen und eventuell zur gesuchten Verwandtschaft führen.
Als ich mich auf der Suche nach geeigneten Protagonisten machte, stieß ich auf reges Interesse. Ich konnte feststellen, dass nicht nur Adoptierte, sondern auch viele Spender- und Kuckuckskinder bereit waren, mir ihre Biografie anzuvertrauen. Sie erzählten mir spannende Geschichten, und ich kam nicht mehr aus dem Staunen heraus. Sie alle unterstützten von Anfang an das Buchprojekt und freuten sich, dass ihre Lebensgeschichte publiziert würde. «Endlich wird das Thema enttabuisiert», sagte ein Spenderkind zu mir. Ich war begeistert und wusste nun, dass mein Projekt realisierbar war und ein breites Publikum ansprechen und interessieren wird.
In diesem Buch erzählen nun elf Menschen ihre Geschichte. Nicht alle wollten ihren offiziellen Namen öffentlich machen. Das zeigt einmal mehr, dass noch nicht alle Familien bereit sind, offen mit der Vergangenheit umzugehen, sich ihr zu stellen.
Die Adoptierten …
Hier findet sich die Geschichte der adoptierten Aymara, die aus Bolivien stammt und in der Schweiz adoptiert wurde. Sie machte sich als Erwachsenes auf die Suche nach ihrer leiblichen Familie, jedoch erfolglos. Sie verbrachte die erste Zeit ihres Lebens in einem Kinderheim. Was wurde aus ihr?
Annamaria erzählt von ihrer abenteuerlichen und gefährlichen Suche nach der leiblichen Mutter in Süditalien und was aus dem ersten Treffen mit ihr wurde.
Daniel, der allein bei seinem Adoptivvater aufwuchs, berichtet von seinem Leben. Als er acht Jahre alt war, starb die Adoptivmutter. Als kleiner Bub war er völlig auf sich allein gestellt, der Vater hatte keine Zeit, sich um ihn zu kümmern. Mit zwölf Jahren musste er das Geld für seine Kleidung selbst verdienen. Er zerbrach aber nicht daran, sondern es machte ihn stark. Später wurde er Direktor eines Fünf-Sterne-Hotels in den Schweizer Alpen. Erst im fortgeschrittenen Alter machte er sich auf die Suche nach der leiblichen Mutter und den Halbgeschwistern.
Sabrina wurde als Kleinkind adoptiert und wuchs mit einem Adoptivbruder auf. Als Baby hatte sie zwei Herzinfarkte. Erst viel später erfuhr sie, dass ihre leibliche Mutter stark drogenabhängig und der Platzspitz ihr Zuhause gewesen war. Via Facebook fand sie schließlich einen Teil ihrer leiblichen Familie.
Sakuntala, in Sri Lanka oder vielleicht in Indien, geboren, kam als Fünfjährige in die Schweiz und wuchs bei einem Ehepaar auf, das keine Empathie für sie hatte. Sie fühlte sich immer wie ein Fisch auf dem Trockenen, an ihrer Kindheit erinnert sie sich nicht gern.
Brigitte erfuhr erst mit 14 Jahren, dass sie adoptiert wurde. Als ihre Adoptivmutter starb, fand sie heraus, dass ihr Bruder sie Jahre zuvor gesucht hatte, ihr das aber verschwiegen worden war. 53 Jahre zuvor hatte sich der damals Neunjährige in der Geburtsabteilung des Spitals von seiner kleinen Schwester mit einem «Tschüss» verabschiedet. An diesen bewegenden Moment erinnert er sich, als wäre es gestern gewesen.
Die Spenderkinder …
Stefanie und Simone sind zwei Halbschwestern, die bis vor kurzem nichts voneinander wussten und zufällig in einer DNA-Datenbank aufeinanderstießen. Was das für Turbulenzen mit sich brachte, erzählen sie ganz offen und spontan. Denn ihre Eltern hatten den zwei Lehrerinnen verschwiegen, dass sie mit einer Samenspende gezeugt wurden.
Hannes, der Anwalt, speiste aus Neugier seine DNA in eine Datenbank ein und stieß mit großem Erstaunen auf Halbgeschwister. Auch ihm hatten die Eltern die Zeugung mittels Samenspende verschwiegen. Er ging der Sache nach und fand heraus, dass die Frauenklinik in Bern in den 1980er-Jahren auf dieses Gebiet spezialisiert war. Medizinstudenten wurden für ein Entgelt dazu animiert, ihren Samen zu spenden. Dieser wurde dann zu einem Samencocktail gemischt, damit man die einzelnen Spender auf keinen Fall identifizieren konnte. Mit den heutigen Verfahren besteht nun jedoch die Möglichkeit, den biologischen Vater zu finden. Ist es vielleicht ein renommierter Medizinprofessor?
Die Kuckuckskinder …
André, 67-jährig, erfuhr erst vor kurzem, dass er ein Kuckuckskind ist. Für eine Begegnung mit seinem leiblichen Vater ist es für ihn zu spät. Ein Onkel gab das Geheimnis preis, als sein sozialer Vater im Sterben lag. «Er erwähnte es beiläufig. Er war überzeugt, dass ich Bescheid wusste.»
Als ihr Baby drei Monate alt war, erfuhr Nele von ihrer Mutter, dass sie aus einem One-Night-Stand entstand. Sie war damals 28 Jahre alt.
Die Fortsetzung meiner eigenen Biografie findet hier ebenfalls Platz. Denn kurz vor dem Erscheinen meines zweiten Buches «Plötzlich Familie» erhielt ich von der Amtsstelle die Meldung, dass man noch einen Halbbruder väterlicherseits ausfindig machen konnte, der sich mit mir in Kontakt setzen wollte. Wie aufregend, meine Familie wird immer größer! Bald kann ich auch meinen eigenen Stammbaum aufzeichnen. Ich werde auch noch darüber berichten, wie sich die Beziehung zu meinen neuen Geschwistern entwickelt hat, was uns verbindet und was für schöne Momente wir schon miteinander hatten.
Als ich die Gespräche mit den Menschen führte, die hier porträtiert werden, fiel mir auf, wie extrem wichtig es für alle ist, dass man endlich offen über die Themen Adoption, Spender- und Kuckuckskinder spricht, dass eine Enttabuisierung stattfindet und man diese Formen von Familie in der Gesellschaft endlich als normal wahrnimmt und akzeptiert.
Dieses Buch entstand mitten in der Corona-Pandemie und verunmöglichte mir, alle Protagonisten persönlich kennenzulernen. Nicht nur die strengen Maßnahmen machten Begegnungen fast unmöglich, auch die geografische Entfernung spielte eine Rolle. Ich denke aber, dass ich trotz all diesen Schwierigkeiten die Menschen spüren konnte, die mir ihr Geschichte anvertrauten.
Die bereichernden Gespräche und der Austausch mit den Porträtierten haben auch mich auf meinem Lebenspfad wieder ein Stück weiter gebracht. Dank der Auseinandersetzung mit den hier geschilderten Geschichten habe ich größeres Verständnis für meine eigene, ich fühle mich nicht mehr allein mit meinem Schicksal. Was wir erlebt haben, war prägend, und die Vergangenheit wird uns immer wieder einholen, das ist völlig normal. Doch mit jedem Mal fühlt man sich gegen Rückschläge ein bisschen besser gewappnet.
Abschließend äußert sich auch noch MLaw Sandro Körber, ein Fachexperte in der Herkunftssuche, zu diesem Thema. Er erläutert, wie Adoptierte bei der Suche vorgehen sollten, was für Rechte und welche Pflichten sie haben. Sandro Körber wird über seine Erfahrungen im Umgang mit Betroffenen berichten. Auch die Psychologin lic. phil. Claudia Leuenberger wird fundierte Erkenntnisse vermitteln zum Grundbedürfnis jedes Menschen, die eigene Herkunft zu ergründen.
Nun wünsche ich meinen Lesern eine unterhaltsame Lektüre. Die Geschichten, die das Leben schreibt, sind ja bekanntlich die spannendsten.
2. MEIN NEUES LEBEN
Ich habe als «Seitensprungkind» das Licht der Welt erblickt. Mein leiblicher Vater war verheiratet, als er eine Affäre mit meiner leiblichen Mutter einging. Meine leibliche Mutter war geschieden und musste sich bereits um die drei Kinder aus ihrer ersten Ehe kümmern, ihr Ex-Mann unterstützte sie nicht einmal finanziell. Und dann kam ich. Das Geld reichte nicht, und so musste sich meine Mutter schweren Herzens von mir trennen und mich zur Adoption freigeben.
1958 kam ich in der Frauenklinik St. Gallen zur Welt, meine Mutter durfte mich, dank der Gutmütigkeit einer Pflegefachfrau, für einen Augenblick in die Arme nehmen. Zu jener Zeit wurden nämlich die Babys, die zur Adoption freigegeben wurden, den Müttern gleich nach der Geburt entrissen. Damit keine Bindung zum Kind entstehen würde, lautete die Begründung. Doch die Bindung war schon da, denn uns hatte die Nabelschnur während neun Monaten verbunden, das kann man nicht einfach löschen!
Es folgte ein kurzer Aufenthalt in einem Kinderheim, dann wurde ich vorübergehend für zwei Wochen in einer Pflegefamilie untergebracht, bis ich schlussendlich zu meiner künftigen Adoptivfamilie nach Lugano kam. Mit zwei Jahren wurde ich adoptiert und ein Teil der Giacometti-Dynastie.
Dieser holprige Start ins Leben hinterließ seine Spuren. So war ich als Kind des Öfteren schwer krank und machte es meinen Adoptiveltern nicht leicht. Aber meine Adoptivmutter kümmerte sich gewissenhaft um mich, und mein Adoptivvater schenkte mir Nähe und Liebe.
Mit knapp zwei Jahren musste ich während zwei Monaten in ein Kinderheim in den Bergen, da meine ständige Bronchitis nicht heilen wollte. Also nochmals eine Trennung, die zur Folge hatte, dass ich meine Adoptiveltern nicht mehr erkannte, als sie mich wieder abholten. Heute würde man von einer solcher Trennung sicherlich abraten, umso mehr bei einer Vorgeschichte wie der meinen.
Als ich sechs Jahre alt wurde, bekamen meine Adoptiveltern einen eigenen Sohn. Ich war in dieser Zeit bei meinen Großeltern in Bern und kam als Notfall mit einem Darmverschluss in die Klinik. Mein Leben hing lange an einem dünnen Faden. War das vielleicht eine unbewusste Reaktion auf die Geburt meines Adoptivbruders? Wollte ich die Aufmerksamkeit auf mich lenken? Hatte ich Angst, dass meine Adoptiveltern mich nun wieder weggeben würden? Würden sie ihn nun mehr lieben als mich, und würde ich meinen Platz als Erstankömmling verlieren? Das mögen Spekulationen sein, doch weiß man heute, dass Emotionen Unglaubliches auslösen können. Nur die Sterne wissen, was damals in meinem Innersten ablief.
Mein Adoptivbruder war jedenfalls extrem lebhaft und anspruchsvoll, heute würde man ihn als klassisches ADHS-Kind bezeichnen. Ich schaffte es dennoch, die Aufmerksamkeit meiner Adoptiveltern auf mich zu lenken, indem ich das liebe, folgsame und disziplinierte Kind war. Und so wurde ich zum Lieblingskind meiner Adoptivmutter.
Dieses angepasste Verhalten kostete mir aber extrem viel Energie, und ich konnte nicht wirklich so sein, wie ich gern gewesen wäre. Meine Adoptivmutter war sehr streng und gefühlskalt, und ich war hochsensibel, was meine Beziehung zu ihr, von mir aus gesehen, sehr schwierig machte. Meine Defizite in Bezug auf Wärme und Geborgenheit wurden zum Glück durch meinen überaus liebevollen Adoptivvater ausgeglichen.
Leider stand es auch um die Beziehung zwischen meinen Adoptiveltern nicht zum Besten. Es wurde viel gestritten, und es herrschte eine kalte Atmosphäre in der Familie. Die Schwierigkeiten mit dem leiblichen Sohn wuchsen. Meine Mutter stieß an ihre Grenzen, weder Strenge noch Schläge konnten den Rebellen in ihm bändigen. Mein Adoptivvater schenkte auch meinem Bruder viel Liebe