Geschwister der Bibel: Geschichten über Zwist und Liebe
Von Margot Käßmann
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Über dieses E-Book
Margot Käßmann interpretiert u.a. diese Geschwistergeschichten der Bibel mit dem Blick von heute:
•Jakob und Esau: Zwillinge – eine ganz besondere Beziehung
•Dina und ihre Brüder: Ein Mädchen unter so vielen Jungs!
•Absalom, Amnon und Tamar: Von der großen Liebe zur kleinen Schwester
•Judas, Simon und Jonatan: Drei Brüder, die im Leben nur Krieg kennen
•Jesus und seine Geschwister: Der Älteste nervt irgendwie – und ist doch besonders
•Die Schwester von Paulus: Von Entfremdung und Annäherung
"Je älter ich werde, desto spannender finde ich das Thema Geschwister. Das ist offensichtlich kein individuelles, sondern ein verbreitetes Phänomen. Freundinnen und Freunde gehen, Geschwister bleiben, es ist in der Tat die längste Beziehung des Lebens. Sie prägt unsere gesamte Kindheit. Da gibt es große Liebe zueinander und große Konkurrenz, Solidarität und Abgrenzung, Zusammengehörigkeitsgefühl und Auseinandersetzung", so Margot Käßmann im Vorwort des Buches. Auf faszinierende Art zeigt sie, die selbst mit zwei älteren Schwestern aufgewachsen ist, was man von den Geschwistern und ihrer Beziehung lernen kann, wie sie heute inspirieren und auf welche Weise sie das Leben beeinflussen können.
Margot Käßmann
Margot Käßmann, Prof. Dr. theol., geb. 1958, Pfarrerin und Deutschlands bekannteste Theologin, von 2012 bis 2017 Botschafterin der EKD für das Reformationsjubiläum. Margot Käßmann ist Mutter von vier erwachsenen Töchtern. Zahlreiche erfolgreiche Veröffentlichungen.
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Buchvorschau
Geschwister der Bibel - Margot Käßmann
Margot Käßmann
Geschwister der Bibel
Geschichten über Zwist und Liebe
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2019
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Bibelstellen nach der revidierten Lutherbibel 2017
Lektorat: Elke Rutzenhöfer
Umschlaggestaltung: Designbüro Gestaltungssaal
Umschlagmotiv: © Chagall, Marc: (Mirjam), Mose und Aaron vor dem Volk (1966), aus dem Zyklus »Exodus«,
Farblithographie, Galerie Fetzer, © VG Bild Kunst, Bonn 2019
E-Book-Konvertierung: Carsten Klein, Torgau
ISBN E-Book 978-3-451-81661-1
ISBN Print 978-3-451-39414-0
Meinen Geschwistern gewidmet
Inhalt
Vorwort
Kain, Abel und Seth
Brüder, die Mord und Totschlag kennen
Sem, Ham und Jafet
Brüder, die in schwerer Zeit zusammenhalten
Ismael und Isaak
Brüder im Ringen um die Vormachtstellung beim Vater
Lots Töchter
Schwestern, die sexuelle Gewalt erfahren
Rebekka und Laban
Bruder und Schwester im Spannungsfeld
Jakob und Esau
Zwillinge – eine ganz besondere Beziehung
Lea und Rahel
Ein Wettstreit im Gebären
Ger, Onan und Schela
Ersatzkind für den verstorbenen Bruder?
Dina und ihre Brüder
Ein Mädchen unter so vielen Jungs!
Mirjam, Mose und Aaron
Geschwister mit Führungsqualität
David und seine Brüder
Ein kleiner Bruder, den das Leben bevorzugt
Absalom, Amnon und Tamar
Von der großen Liebe zur kleinen Schwester
Judas, Simon und Jonatan
Drei Brüder, die im Leben nur Krieg kennen
Jesus und seine Geschwister
Der Älteste nervt irgendwie – und ist doch besonders
Jakobus und Johannes
Gemeinsamer Aufbruch zweier Brüder
Herodes und Philippus
Wenn ein Mann die Frau des Bruders liebt …
Maria, Marta … und Lazarus
Ein Zusammenleben der besonderen Art
Andreas und Simon Petrus
Brüder mit sehr verschiedenen Gaben
Die Schwester von Paulus
Von Entfremdung und Annäherung
Paulus schreibt an die Schwester Aphia
Geschwister im Glauben
Über die Autorin
Vorwort
Je älter ich werde, desto spannender finde ich das Thema Geschwister. Das ist offensichtlich kein individuelles, sondern ein verbreitetes Phänomen. Freundinnen und Freunde gehen, Geschwister bleiben, es ist in der Tat die längste Beziehung des Lebens. Sie prägt unsere gesamte Kindheit. Da gibt es große Liebe zueinander und große Konkurrenz, Solidarität und Abgrenzung, Zusammengehörigkeitsgefühl und Auseinandersetzung.
Erstaunlicherweise erzählen viele, dass die Geschwisterbeziehungen wieder enger werden, wenn wir alt werden, da wird die Bindung oft neu und positiv wiederentdeckt. Und ich denke, das rührt genau daher: Wenn die Eltern eines Tages verstorben sind, teilen wir nur noch mit unseren Geschwistern die Kindheitserinnerungen. Wir sind die letzten gemeinsamen Zeugen jener Jahre. Dabei können die Erinnerungen durchaus unterschiedlich sein. Hat der älteste Sohn die Eltern jung, dynamisch, verliebt gesehen, so hat der jüngste sie vielleicht als gestresst oder schon in Abgrenzung erlebt. War die erste Tochter der Mittelpunkt elterlicher Aufmerksamkeit, so wurde die dritte schlicht eingegliedert in ein schon vorhandenes System von Familie.
Als meine Schwestern und ich unsere Mutter beerdigt haben, hat mich die Übereinstimmung sehr bewegt. Wir hatten immer unsere normalen Konflikte und unterschiedliche Zeiten von Nähe und Distanz. Aber beim Sterben unserer Mutter waren wir ganz eng beieinander, sehr harmonisch, verbunden im Verlust dieser Frau, die uns alle von Geburt an geprägt hatte. Und wir haben unseren als Säugling verstorbenen Bruder erstmals mit Namen genannt, er war präsent wie selten zuvor. Wie gut, das gemeinsam zu erleben und ja, auch durchzustehen. Wie viele Kinder machen heute gar keine Geschwistererfahrung mehr! Sie sind allein in so einem existentiellen Abschied …
Ich finde interessant, dass in den vergangenen Jahren die Forschung mit Blick auf Geschwister intensiviert wurde. Sigmund Freud etwa hat Geschwisterbeziehungen in seiner Arbeit völlig ignoriert, obwohl sie doch so großen Einfluss auf das Leben von Menschen haben. »Inzwischen weiß man, dass Geschwister einen ebenso starken Einfluss auf die Seele eines Menschen haben wie die Eltern«, schreibt Susann Sitzler.¹ In ihrem ausführlichen Buch zu Geschwisterbeziehungen zeigt sie auf, wie eng die Verflechtungen in dieser Beziehung sind, die sich ein Leben lang nicht lösen lässt. Geschwister sind für sie Zeugen der Kindheit, erste Verhandlungspartner, sie können beste Vertraute sein, aber auch »gezielter verletzen als alle anderen Menschen, oft ein Leben lang«².
Und in einer Ausgabe von »Psychologie Heute«, die sich dem Geschwisterthema widmet, wird deutlich gemacht, dass gar nicht so entscheidend ist, an welcher Stelle in der Geschwisterfolge ein Kind steht. Lange hieß es, die Erstgeborenen seien eher konservativ, die Sandwichkinder hätten Rollenfindungsprobleme, die Jüngsten seien häufig rebellisch. Die neuere Forschung habe vielmehr erwiesen: »Wie Eltern im Alltag auf ihre Kinder eingehen, ob sie Konkurrenz zulassen, ein Kind bevorzugen oder auf eine faire und gerechte Behandlung aller achten, ob sie jedem innerhalb der Familie feste Rollen weisen oder Flexibilität fördern – das alles beeinflusst das Verhältnis der Geschwister untereinander.«³
Auch die Zeitschrift »Eltern« hat kürzlich dem Thema Geschwister einen Schwerpunkt gewidmet.⁴ Betont wird, dass Geschwister zu haben zwar anstrengend ist, aber die eigenen Entwicklungsmöglichkeiten wesentlich erweitert. »Sie können unterschiedliche Rollen ausprobieren: hilfsbereit, aggressiv, großzügig, neidisch. Wie komme ich an, wenn ich so bin oder so? Was steckt alles in mir?«⁵ Dabei wird auch deutlich, dass gleichgeschlechtliche Konkurrenz größer ist, als wenn es um Geschwister unterschiedlichen Geschlechts geht.
Vor vielen Jahren habe ich ein Buch über die Mütter der Bibel geschrieben. Leserinnen und Leser haben zurückgemeldet, dass es für sie anregend war, diese Gestalten ganz neu oder überhaupt erst kennen zu lernen. Bei den Müttern stieß ich natürlich immer wieder auch auf die Kinder und die verschiedenen, sehr spannenden Geschwisterbeziehungen. Und so hat es mich fasziniert, einzusteigen in die biblischen Erzählungen. Gewiss, sie sind keine Sachberichte, es gibt keine Youtube-Videos. Aber es sind Erzählungen, die seit Jahrtausenden beeindrucken, weil Grundsätzliches zur Sprache kommt: Liebe und Hass, Hingabe und Gewalt. Ich habe die Geschichten in der Bibel noch einmal gelesen, viele Geschwister gefunden und erzähle nach. Mich fasziniert, wie tief Menschliches erzählt wird, schöne Beziehungen, aber auch bittere. Mir liegt daran, sie für uns heute zum Klingen zu bringen, indem ich versuche, sie in eine Beziehung zu unseren Erfahrungen, unserem Leben heute zu bringen. Denn das ist mir wichtig: Die Bibel ist kein Buch von gestern! In jeder Generation hat sie ihre Weisheit Menschen neu erschlossen. Was mich zudem fasziniert: Sie ist ein globalisiertes Buch. Wenn wir von Kain und Abel, Jakob und Esau, Maria, Martha und Lazarus sprechen, wissen Menschen in Indonesien oder Tansania oder Brasilien sofort, um welche Geschichte es geht. Da sind wir dann Geschwister im Glauben.
Mir ist immer wieder die Bibel ein Buch der Inspiration. Ich lese darin und erfahre etwas über die Erfahrungen mit Gott, die meine Mütter und Väter im Glauben gemacht haben. Und die Geschichten lassen uns tiefe Einsichten teilen in die Grundkonstellationen von Beziehungen seit Menschengedenken.
Der Historiker Michael Wolffsohn hat mit Blick auf biblisches Erzählen erklärt, ein doppelter, ja mehrschichtiger Boden mache große Literatur aus und »das phänomenal, literarisch Phänomenale, also das Alte und Neue Testament, das sind literarische Meisterwerke unabhängig davon, ob man an den lieben Gott glaubt oder nicht«⁶. Es geht darum zu fragen, was uns diese alten Texte heute sagen können, ohne dass wir sie wortwörtlich nehmen. Und wenn wir mit Neugier auf sie zugehen, haben sie erstaunlich viel zu geben!
So habe ich im Folgenden zwanzig Geschwistergeschichten der Bibel nacherzählt und auf unsere Zeit heute bezogen. Manches hat mich dabei ganz neu berührt, etwa die Töchter Lots, die wohl schlicht sexuellen Missbrauch erlebt haben. Oder Ham, der seinen Vater nackt sieht – in Zeiten der Sensibilisierung für sexuelle Gewalt fallen neue Nuancen auf. Aber auch die Rollen der Mädchen in alten Zeiten und allzu oft heute in unserer Welt machen nachdenklich. Sie bleiben in der Bibel eine Nebenerzählung, Bedeutung haben die männlichen Nachkommen. Und doch, siehe Mirjam, spielen sie eine zentrale Rolle.
Mir hat es große Freude gemacht, Sem und Aaron und Dina nachzugehen, sie aus den Erzählungen der biblischen Bücher hervortreten zu lassen oder auch die Schwester des Paulus zu entdecken. So hoffe ich, dieses Buch macht Lust, auch einmal selbst wieder nachzulesen im Buch der Bücher.
Hannover, im Februar 2019
Margot Käßmann
1 Susann Sitzler, Geschwister. Die längste Beziehung des Lebens, Stuttgart 2014/2017, S. 14.
2 Ebd. S. 63.
3 Martin Hinz, Geschwister, in: Psychologie Heute 10/2018, S. 18ff.; S. 22.
4 Vgl. Geliebte Rivalen, in: Eltern 11/2018, S. 25ff.
5 Ebd. S. 28.
6 Michael Wolffsohn im Gespräch mit Andreas Main über biblisches Erzählen, DLF 14.08.17
Kain, Abel und Seth
Brüder, die Mord und Totschlag kennen
1. Mose 4ff.
Nach der biblischen Erzählung sind Kain und Abel die ersten Kinder der Menschheitsgeschichte überhaupt. Sie kennen keine Cousinen und Cousins, keine Freundinnen und Freunde. Gott hatte ihre Eltern Adam und Eva ja geschaffen, sie waren nicht geboren worden. Mir ist das eindrücklich klar geworden bei einer Erläuterung des Altarbildes der Marktkirche in Hannover. Adam und Eva werden ohne Bauchnabel dargestellt! Schon im 15. Jahrhundert hat sich darüber ein unbekannter Künstler Gedanken gemacht: Nicht geboren, von Gott unmittelbar erschaffen sind die beiden …
Die weitere Geschichte ist bekannt: Adam und Eva leben im Paradies, werden aber alsbald allzu neugierig und übertreten Gottes Gebot, nicht vom Baum der Erkenntnis zu essen. Daraufhin werden sie