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Arzt aus Jaffa: Geschichte eines palästinensischen Vertriebenen
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eBook329 Seiten4 Stunden

Arzt aus Jaffa: Geschichte eines palästinensischen Vertriebenen

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Über dieses E-Book

In seiner Autobiografie legt Ibrahim Lada’a Zeugnis darüber ab, was es heißt, als arabischer Christ, als Palästinenser, in einem von Besatzung und Konflikten zerrissenen Land zu leben. Sein Leben ist eng verknüpft mit der jüngeren und jüngsten Geschichte Palästinas. Er berichtet über den Alltag zwischen Checkpoints, Mauern, Häusersprengungen, Verhaftungen und dem Versuch des Aufbaus einer palästinensischen Zivilgesellschaft. Eingestreut in den Bericht sind Erläuterungen der historischen Hintergründe und politischen Zusammenhänge, so dass auch jene Leser, die mit der (Zeit-)Geschichte des Nahen Ostens wenig vertraut sind, einen Einblick in die oft komplexen Ereignisse erhalten. Im Vordergrund stehen jedoch nicht die nüchternen historischen Fakten, sondern die Erinnerungen, Erfahrungen und Gefühle des Autors, die untrennbar mit dem Schicksal Palästinas verbunden sind.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum13. Feb. 2023
ISBN9783933847805
Arzt aus Jaffa: Geschichte eines palästinensischen Vertriebenen

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    Buchvorschau

    Arzt aus Jaffa - Ibrahim Lada'a

    Ibrahim K. Lada’a

    Arzt aus Jaffa

    Geschichte eines palästinensischen Vertriebenen

    Verlag auf dem Ruffel

    Engelschoff 2022

    Ibrahim K. Lada’a

    Arzt aus Jaffa

    Geschichte eines palästinensichen Vertriebenen

    Zweite, unveränderte Auflage als e-Buch: November 2022

    Verlag auf dem Ruffel

    Deutsche Originalausgabe

    Lektorat: Ulrike Mitter

    Korrektur: Bahar Bayram

    Bilder im Textteil: Archiv des Autors

    Umschlagsfoto: Christa Lada'a, Ramallah

    Umschlag: Bahar Bayram, Hamburg

    Herstellung: Ruffel

    E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH

    Für meine Kinder und Enkelkinder

    Inhalt

    Danksagung

    Vorwort

    1. Ein langer Abschied

    Exkurs über den Zionismus

    Exkurs über Palästina und Israel

    2. Kindheit im Westjordanland

    3. Der Schatten des Haram asch-Scharif

    4. Von Licht und Dunkelheit

    5. Geliebte Heimat

    Bilder aus dem Familienalbum

    6. Rückkehr nach Palästina

    7. Arafat am Apparat

    8. Im Krieg und im Frieden

    9. Erneuter Abschied

    10. Zwischen Deutschland und Palästina

    Anmerkungen

    Literatur zum Weiterlesen

    Danksagung

    In uns Menschen kämpft ständig Widersprüchliches. Soll ich niederschreiben, was ich in über 70 Jahren erlebt habe, oder ist es besser, die Erinnerungen ruhen zu lassen? „Mensch heißt auf Arabisch „insan. Dieses Wort soll, so sagt man, von dem Verb „nasiya stammen, was „vergessen bedeutet. Vielleicht ist es ein Segen, dass der Mensch vieles vergisst und die Zeit die Wunden heilt. Denn ist es nicht so, dass die guten Erinnerungen mehr als die schlechten haften bleiben? Wie das arabische Sprichwort sagt: „Die Zeit vergoldet die Erinnerung." Soll ich dennoch die über sieben Jahrzehnte wieder aufrollen, mit ihren vielen guten, aber auch schlechten Erinnerungen?

    Mit dem Gedanken, meine Lebensgeschichte – als Kapitel der palästinensischen Zeitgeschichte – aufzuschreiben, spielte ich schon seit vielen Jahren.

    Rüdeger Baron gab den Anstoß dazu. Er und seine Frau opferten viele Arbeitstunden, wofür ich ihnen meinen tiefsten Dank und meine Wertschätzung ausdrücken möchte.

    Mein größter Dank gilt meiner Frau Christa, die einen sehr großen Teil von dem, was in diesem Buch erzählt wird, in den über 40 Jahren unseres Zusammenlebens mit mir gemeinsam erlebt hat. In stundenlangen Gesprächen während der Entstehung dieses Buches hat sie mich außerdem immer wieder an Erlebnisse erinnert, die ich ihr in unserer Jugendzeit erzählt hatte und die ohne sie aus meinem Gedächtnis verschwunden wären. Ihr gehört ein ganz besonderer Dank auch für die Ausdauer, Geduld, und Weitsicht die sie stets bewiesen hat bei unserem nicht immer einfachen Leben zwischen den Kulturen, in das ich sie hineingezogen habe.

    Dank auch an meinen Sohn Munir, der die historischen Fakten recherchierte.

    Dank an Ulrike Mitter und Mohammed Abu Zeid für die Lektorierung des Buches.

    Schließlich möchte ich auch all jenen Freunden danken, die mir mit Ideen und Rat und Tat geholfen haben, die Fakten so objektiv und getreu wie möglich niederzulegen. Die in diesem Buch eingenommene Perspektive ist natürlich meine eigene, ebenso gehen mögliche Fehler auf mein Konto.

    Ramallah, im Januar 2018

    Ibrahim K. Lada‘a

    Vorwort

    Was ist Identität? Was bedeutet Herkunft, was Heimat? Auf diese Frage habe ich mein Leben lang nur eine Antwort gehabt: Ich bin Ibrahim, ein Arzt aus Jaffa und zugleich auch ein palästinensischer Flüchtling, der in Deutschland studierte, nach Palästina zurückging, um das Leben der Menschen in seiner Heimat zu verbessern, vertrieben wurde, zurückkehrte, wieder vertrieben wurde und doch stets zurückkehrte. Diese drei Identitäten haben mein Leben bis heute geprägt: Arzt, Palästinenser, Flüchtling. Über diese Identitäten und ihre Wirkung auf meinen Lebensweg will ich schreiben. Zugleich möchte ich über meine Heimat Palästina schreiben, jenes sonnenverwöhnte Land am Meer mit den duftenden Orangenhainen, den Feigenbäumen und den von Olivenbäumen bedeckten sanften Hügeln.

    Ich kenne den Osten und den Westen, ich kenne die deutsche und die palästinensische Gesellschaft, und als arabischer Christ habe ich einen besonderen Blick auf die vergangenen und aktuellen Ereignisse im Nahen Osten. Deshalb schreibe ich dieses Buch auch als eine Art Gatekeeper, als ein Mittler zwischen den Kulturen und als jemand, dessen Leben auf das Engste mit der jüngsten Geschichte seines Heimatlandes verbunden ist.

    Rückblickend betrachtet würde ich auf die Frage, ob ich, wenn ich noch einmal leben könnte, denselben Lebenslauf wählen oder lieber nach meinem Studium in Deutschland bleiben, eine Praxis aufmachen und ein sicheres Leben in Wohlstand führen würde, Folgendes antworten: Ich würde keine einzige Minute meines Lebens in meinem Land Palästina gegen eine in Deutschland eintauschen. Warum? Dafür gibt es viele Gründe. Zum einen meine Herkunft und die Geschichte meiner Vertreibung, die das Wesen meines Seins und meiner Identität als Palästinenser festlegte. Zum anderen wäre ich in Deutschland immer der Araber, der Ausländer geblieben, wäre ich nur einer unter insgesamt fünftausend HNO-Fachärzten gewesen.

    Ich kam nach Deutschland, um zu studieren und nicht, um zu bleiben. In meiner Heimat gab es für ausgebildete Ärzte mehr als genug zu tun. Bei der Rückkehr nach Palästina nach meinem sechzehnjährigen Aufenthalt in Deutschland Anfang 1979 gab es dort schlecht funktionierende Gesundheitsversorgung. Wir lebten – und leben immer noch – in einem ständigen kriegsähnlichen Zustand unter israelischer Besatzung, und das seit 1967.

    Ich wollte etwas erreichen und zuhause etwas Sinnvolles tun, etwas Grundsätzliches, ja auch etwas Großes. Ich habe nie daran gedacht, mit meiner Arbeit Reichtum zu erlangen. Geld ist wichtig, aber es war nie das Wichtigste in meinem Leben. Ich habe all die Jahre immer das Gefühl gehabt, die Ausbildungsjahre, die Arbeitszeit sind nur notwendige Vorbereitungen, um mich auf ein sinnvolles Leben in Palästina, in meiner Heimat, vorzubereiten. Die Tatsache, dass ich an einer deutschen Universität nicht nur das Medizinstudium, sondern auch die Facharztausbildung abschloss, was nicht jedem Ausländer möglich ist, die Liebe meines Lebens in Deutschland fand und wir gemeinsam vier Kinder bekamen – das alles sind Reichtümer, die ich mit nach Hause nehme. Gott hat mir eine Frau gegeben, die mich von Anfang verstand und tief liebt.

    In den Jahrzehnten, die ich in Palästina verbrachte, habe ich etwa 25.000 Patienten behandelt. Ich habe mehrere tausend HNO-Operationen durchgeführt, darunter mehrere hundert mikrochirurgische Eingriffe, besonders im Bereich der Mittelohrchirurgie. Für diese Art von Operationen, gelte ich immer noch als führend in der Region und sie haben mir einen Ruf als HNO-Facharzt eingebracht, der über die Grenzen Palästinas hinausreichte. Ich war der erste palästinensische Arzt, der, im Januar 1980, eine Trommelfellperforation in Jerusalem operierte. Ich habe Patienten von den besetzten syrischen Golanhöhen in Jerusalem behandelt und palästinensische Patienten aus israelischen Gefängnissen. Ich habe etliche sogenannte „Gummigeschosse" der israelischen Besatzungstruppen aus den Nasen und Nasennebenhöhlen palästinensischer Jugendlicher entfernt, sowie zahlreiche Mittelgesichtsfrakturen, Jochbein- und Nasenbeinfrakturen gerichtet, verursacht durch Schläge und Schüsse der israelischen Soldaten.

    Meine Patienten kamen aber auch aus anderen Ländern der Region, unter anderem aus Kuwait, Saudi-Arabien und Jordanien. Jeder dieser Patienten war mir wichtig, für jeden von ihnen wollte ich das Beste – obwohl mir dafür anfangs nur allzu oft so gut wie keine Mittel, ja noch nicht einmal die einfachsten Instrumente zur Verfügung standen.

    Eines Tages im Jahr 2007, als ich nach meiner zweiten Rückkehr aus Deutschland in meiner Praxis in Ramallah saß, kam eine ehemalige Patientin vorbei. Sie begrüßte mich herzlich und öffnete ihre alte Handtasche, aus der sie einen vergilbten Zeitungsausschnitt von vor etwa fünfundzwanzig Jahren hervorholte, in dem ein Wort des Dankes für den operierenden Doktor Lada’a stand. Ich hatte ihr seinerzeit das Mittelohr operiert und sie von einem gutartigen Tumor befreit. Sie bedankte sich nochmals, wünschte mir ein langes Leben und sagte, dass sie all diese Jahre relativ gut gehört hätte. Begegnungen wie diese vermitteln ein unvergleichliches Gefühl der Befriedigung, dass man einem Menschen über mehr als zwei Jahrzehnte geholfen hat, seinen Gehörsinn zu schützen.

    Ich kann auf vieles zurückblicken, das mich mit Stolz erfüllt: Da wäre zunächst die Gründung der HNO-Abteilung im Auguste-Viktoria-Krankenhaus auf dem Ölberg in Jerusalem zu nennen. Dies war die erste Abteilung ihrer Art in der medizinischen Geschichte des palästinensischen Volkes. Auch die Ausbildung von fünf Assistenzärzten zu HNO-Fachärzten mit Hilfe ausländischer Universitäten war ein höchst zufriedenstellendes Unterfangen. In der Abteilung wurden nicht nur Routine-HNO-Fälle operiert und behandelt, sondern wir unternahmen auch mikro- und tumorchirurgische Eingriffe. Ebenso arbeiteten wir bereits in den 1990er Jahren mit modernen audiologischdiagnostischen Methoden wie der Hirnstammaudiometrie. Diese Methode zur Hörprüfung für Kinder und Neugeborene war damals einmalig in Palästina.

    Nach meiner zweiten Rückkehr nach Palästina im November 2007, nachdem ich nach meinem Weggang aus Jerusalem rund zehn Jahre in Deutschland verbracht hatte, wurde ich gebeten die Aufgabe des Generaldirektors einer der größten palästinensischen Nichtregierungsorganisationen, des Health Work Committees (Komitee für das Gesundheitswesen, HWC), zu übernehmen.

    Eine weitere, große Ehre widerfuhr mir, als man mich zum HNO-Vertreter des Palästinischen Medizinischen Rates (Palestinian Medical Council) ernannte. Der Rat ist unter anderem verantwortlich für die Abnahme von Facharztprüfungen zur Erlangung der palästinensischen Facharztanerkennung. Ich hatte diesen Posten sechs Jahre lang inne und prüfte in dieser Zeit rund zwanzig HNO-Fachärzte. Es war eine für mich sehr erfüllende Lebensaufgabe, in dieser Funktion an dem Fortbestand und der Weiterentwicklung der HNO-Medizin in Palästina mitzuwirken.

    Wir Mediziner haben die Chance, mit jedem in der Gesellschaft in nahen Kontakt zu kommen, sei er reich oder arm, Mann oder Frau, ungeachtet seines Glauben, seiner politischen Überzeugung oder seiner Hautfarbe. Dieser gesegnete Beruf gibt jedem Arzt die Gelegenheit, die gesellschaftlichen und sozialen Unterschiede zu erkunden und somit in gewissem Maße auch auf die Entwicklung hin zu einer sozial gerechteren Gesellschaft Einfluss zu nehmen. Insbesondere aus diesem Grund habe ich mich im Jahre 1995, als ich noch medizinischer Direktor und Leiter der HNO-Abteilung des Auguste-Viktoria- Krankenhauses war, entschlossen, ja es als mein Pflicht angesehen, mich aktiver in die Politik einzumischen, um auf diesem Wege eine sozial gerechtere Gesellschaft in meiner Heimat Wirklichkeit werden zu lassen.

    Um zu verstehen, wie es dazu gekommen ist, muss ich zurückkehren in meine Kindheit, in das entscheidende Jahr 1948, das Jahr, das als die tragischste Zäsur in die palästinensische Geschichte eingehen sollte: das Jahr des Verlustes der Heimat, der Würde und der Selbstständigkeit. Dieses Buch schreibe ich als Arzt, weil ich mit Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten und Ländern zu tun hatte und es Teil meines Berufes ist, nicht auf Stellung, Vermögen oder Herkunft meiner Patienten zu achten, sondern jedem Menschen, so gut ich es vermag, zu helfen, seine Gesundheit wiederherzustellen und zu schützen. Ich schreibe dieses Buch als Palästinenser, weil mich eine tiefe Liebe mit meiner Heimat verbindet und ich schreibe es als Flüchtling, weil ich vertrieben wurde und doch immer wieder zurückkehrte, wenn auch nicht gleich zu meiner Wiege, nach Jaffa.

    1. Ein langer Abschied

    Wenn ich von Flucht erzähle, so denke ich stets an die Furcht, an unsere Vertreibung aus Jaffa nach Ramallah im Frühjahr 1948.

    Der Krieg, der in Palästina im Winter 1947/48 begann, wird in Israel, Deutschland und der westlichen Welt gemeinhin als „Israelischer Unabhängigkeitskrieg bezeichnet. „Unabhängigkeit von der britischen Mandatsmacht in Palästina, die schon 1936-39 jede Art von Widerstand seitens der arabischen Bevölkerung Palästinas im Keim erstickte und somit die Niederlage von 1948 im Voraus besiegelte? Mittlerweile reden die Israelis nicht mehr von einem „Unabhängigkeitskrieg, sondern von einem „Befreiungskrieg. Von wem haben sie eigentlich das Land „befreit? Auf Arabisch bezeichnet man diesen Eroberungs-Krieg jedoch als „an-Nakba, was so viel bedeutet wie „die Katastrophe oder „das Unglück, die Palästina heimgesucht hat. Während der Krieg für die jüdische Gemeinschaft in Palästina die Erfüllung des zionistischen Traumes bedeutete, war er für die arabische Bevölkerung Palästinas eine mehrfache Niederlage. Einerseits wurden rund 950.000 Palästinenser (66% der palästinensischen Bevölkerung) aus ihrer Heimat vertrieben und ihrer Besitztümer und Ländereien beraubt, ohne eine Chance auf Rückkehr oder Entschädigung; anderseits wurden die Hoffnungen und Ambitionen der Palästinenser auf einen eigenen souveränen Staat mit der Gründung Israels und den Nachkriegsabkommen mit den arabischen Nachbarstaaten bis auf Weiteres zunichtegemacht.

    Der Krieg begann als eine lokale Auseinandersetzung zwischen irregulären palästinensischen Freiwilligen und den deutlich besser organisierten jüdischen, Verbänden und Terrororganisationen. Die ersten massiven Proteste der arabischen Bevölkerung Palästinas waren eine Reaktion auf den UN-Teilungsplan, der Ende November 1947 von der Vollversammlung beschlossen wurde, der mehr Rücksicht auf die Lage der vertriebenen Juden im Schatten des Holocausts nahm, als auf die Rechte der einheimischen Palästinenser. Laut diesem Plan sollte das britische Mandatsgebiet Palästina in einen jüdischen Staat mit 55,5% und einen arabischen Staat mit 44% des Landes aufgeteilt werden. Jaffa, meine Heimatstadt, wurde, was oft vergessen wird, als Exklave innerhalb des jüdischen Staates, dem arabischen Staat zugewiesen. Jerusalem und Bethlehem sollten als international verwaltetes Territorium keiner der beiden Staaten angehören.

    Im Verlauf der ersten Kriegsmonate war eine der meistumkämpften Gebiete die Straße zwischen Jaffa und Jerusalem. Bis Ende April 1948 brachten die jüdischen Verbände diese Straße unter ihre Kontrolle und eroberten sämtliche Städte mit gemischter arabischer und jüdischer Bevölkerung in dem vom Teilungsplan dem jüdischen Staat zugewiesenen Gebieten. Gemäß dem militärischen „Plan Dalet" der Hagana (Vorläufer der israelischen Armee), der ab März 1948 umgesetzt wurde, sollten strategische Positionen auch außerhalb des designierten jüdischen Staatsterritoriums erobert werden. Arabische Orte, die in diesen Gebieten lagen, sollten erobert und deren Bevölkerungen vertrieben werden. Dazu gehörte auch Jaffa.

    Dieser Krieg bedeutete somit für meine Familie und mich, so wie für hunderttausende weitere Palästinenser, die Vertreibung und Entwurzelung – und dies bereits vor der Ausrufung des Staates Israel Mitte Mai 1948.

    In einer meiner frühesten Erinnerungen sehe ich mich, den damals erst Fünfjährigen, wie ich mit meiner Familie am Strand saß und wir auf das Meer hinausschauten. Wir warteten auf das Schiff, das uns nach Beirut bringen sollte, in den sicheren Libanon. Wir warteten lange. Wie lange, kann ich nicht mehr sagen, denn für ein Kind ist eine Stunde schon eine Ewigkeit. Ich erinnere mich noch daran, dass es irgendwann dunkel wurde und das Schiff noch immer nicht da war. Was dann geschah, weiß ich nur aus den Erzählungen meiner Eltern zu berichten. Wir versteckten uns in einer Scheune in den Orangenhainen an der Küste und verbrachten dort eine unruhige und angsterfüllte Nacht, in der Hoffnung, dass das Schiff am nächsten Tag kommen würde. Doch es kam nicht.

    Jaffa ist heute ein Stadtteil von Tel Aviv. Die israelische Metropole hat alles um sich herum verschlungen. Lediglich einige alte Hafenviertel werden heute noch als Jaffa bezeichnet. Damals aber, 1948, war Tel-Aviv lediglich eine Ansammlung jüdisch-zionistischer Siedlungen nordöstlich von Jaffa und kaum älter als vierzig Jahre. Jaffa dagegen existiert bereits seit Jahrtausenden. Mit dem wichtigsten Hafen Palästinas, zahlreichen Schulen, einer pädagogischen Hochschule, Krankenhäusern, Märkten, Hotels, Cafés, Kinos, mehreren Zeitungen und politischen Vereinen sowie zahlreichen Kirchen und Moscheen, war Jaffa das zentrale ökonomische, kulturelle und politische Zentrum der Palästinenser.

    Bereits im 15. vorchristlichen Jahrhundert war Jaffa ein bedeutender Hafen im östlichen Mittelmeerraum. In der Bibel findet die Stadt unter anderem Erwähnung im Zusammenhang mit dem Propheten Jona sowie dem Apostel Petrus, der seinen göttlichen Missionierungsauftrag dort erhalten haben soll. Sowohl unter den Römern als auch unter den arabischen Kalifen erfüllte die Stadt weiterhin die Rolle als Hafen Palästinas. Sie wurde zur Zeit der Kreuzzüge heftig umkämpft und von den Ayyubiden aus strategischen Gründen zerstört, denn sie war neben Akka (Acre, Akkon) das Haupteinfallstor für neue Kreuzzügler aus Europa. Nach der endgültigen Vertreibung der Kreuzritter aus Palästina durch die Mameluken Ende des 13. Jahrhunderts wurde die Stadt wieder aufgebaut, und war zur Zeit der osmanischen Eroberung 1517 wieder ein bedeutender Hafen der Levante. Im Laufe der nächsten zwei Jahrhunderte entwickelte sich Jaffa zu einem wichtigen Exporthafen von Agrarprodukten wie Seide, Baumwolle und natürlich Orangen sowie zu einem bedeutenden Pilgerhafen für Jerusalem.

    Im frühen 19. Jahrhundert wurden von der Stadtverwaltung die Sumpfgebiete um den Auja-Fluss (von den Israelis Yarkon genannt) im Norden der Stadt entwässert und urbar gemacht. Der mythologisierten Gründung Tel Avivs 1909 auf einer Sanddüne nordöstlich von Jaffa gingen zahlreiche im 19. Jahrhundert gegründete arabische Wohnviertel auf sandigem Grund rund um Jaffa voraus. Der Reichtum an landwirtschaftlich genutzten Flächen rund um Jaffa, der in zahlreichen europäischen Reiseberichten der letzten zweihundert Jahre überliefert wird, zeugte ebenfalls von den Fähigkeiten der arabischen Bauern, den sandigen Grund in fruchtbares Ackerland zu verwandeln. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war Jaffa bereits eine moderne und kosmopolitische Stadt mit einer multikulturellen Bevölkerung aus Arabern und Europäern, Muslimen, Christen, und Juden und einer starken einheimischen Handelsklasse, die sich intensiv an der Verwaltung und Modernisierung ihrer eigenen Stadt beteiligte.

    Jaffa war umgeben von Orangenhainen. Sie gaben der berühmten Jaffa-Orange ihren Namen, deren erste urkundliche Erwähnung auf die Mitte des 18. Jahrhunderts zurückgeht, lange vor der Entstehung Israels. Ihre Schale ist dicker als die italienischer oder spanischer Orangen, denn sie verbrachte auf dem Transport nach Europa mehrere Wochen im Bauch eines Schiffes und nur die dickere Schale schützte ihre Frische und ihren Geschmack. Ende des 19. Jahrhunderts ersetzten die Orangen die Baumwolle als Hauptexportprodukt Palästinas nach Europa. Später wurde die Orange, das Symbol Jaffas, von den Zionisten vereinnahmt.

    Von den Arabern wird Jaffa auch „Braut des Meeres („arusat al-bahr) genannt. Die Stadt war immer berühmt für die Schönheit ihrer Frauen mit ihrer braunen Hautfarbe und ihren großen schwarzen Augen. Man sagt, dass im Klang des Jaffa-Dialekts das Rauschen der Meereswellen zu hören ist. Dieses Rauschen sollte für meine Familie und mich bald nur noch eine ferne Erinnerung sein. Besonders mein Vater hat das nie verwunden. Er liebte das Meer und er liebte Jaffa. Er schwamm und fischte für sein Leben gern. Seine ganze Familie stammte aus Jaffa. Er selbst besaß ein Lebensmittelgeschäft in unserem Viertel al-Ajami am Mittelmeerstrand. „Arabische und europäische Lebensmittel" versprach das Schild über dem Eingang, und so führte mein Vater die jahrtausendealte Tradition Jaffas als Handels- und Hafenstadt fort.

    Er erzählte mir oft, dass er und seine Freunde bis spät in die Nacht feierten und dabei die verschiedenen, köstlichen Fischsorten zubereiteten, etwa den „Sultan Ibrahim, die Rote Meerbarbe. Diese kleinen Tiefseefische, die man mit Kopf und Schwanzflosse essen kann, schmeckten am besten mit einem Glas Arak, einem Anisschnaps ähnlich dem griechischen Ouzo. Er schwärmte davon, wie sie am Strand Maiskolben kochten oder grillten oder bei Strandspielen ihre Kräfte maßen. An ein Spiel erinnere ich mich noch besonders lebhaft. Es war das sogenannte „Zuckerrohrspiel. Dabei nahm ein junger Mann eine Zuckerrohrstange, rannte damit so schnell wie möglich und schleuderte die Zuckerstange bei Erreichen der höchsten Geschwindigkeit mit solcher Kraft und so schnell vor und zurück, dass sie zerbrach. Ich habe das später selbst ausprobiert, und es gelang mir nicht, auch nur ein Zuckerrohr zu brechen, dennoch zweifle ich nicht daran, dass mein Vater und seine Freunde so ihre Zeit verbrachten. Mein Vater besaß sogar ein deutsches Motorrad, und wenn er mir von seiner Jugend in Jaffa erzählte, so hatte ich stets den Eindruck, dass seine Augen zu leuchten begannen. Ich war damals noch ein Kind und konnte kaum begreifen, was die Vertreibung aus jenem geliebten Ort für ihn bedeutete.

    Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in den letzten Jahrzenten vor der britischen Besatzung, entwickelte sich Jaffa weiter in Richtung einer modernen Stadt, integriert in ein regionales Netzwerk aus Handel und Kultur. So stiegen sowohl die Exporte als auch die Importe über den Hafen deutlich an. Auch die Bevölkerung nahm zu – von ursprünglich rund 5.000 Einwohnern Mitte des 19. Jahrhunderts auf 50.000 im Jahre 1913. 1911 gründeten zwei christliche Araber die Zeitung Falastin, die eine entscheidende Rolle bei der Politisierung der arabischen Bevölkerung Palästinas und ihre Reaktion auf die zionistische Kolonisierung ihres Landes spielen sollte. Die wachsende politische Bedeutung und steigende wirtschaftliche Dynamik der Stadt zog Menschen aus allen Ecken der arabischen Welt an, unter anderem auch arabische Juden. Aber auch aus Europa ließen sich immer mehr Menschen in Jaffa und Umgebung nieder. Unter ihnen waren auch die ersten europäischen Juden. Im Gegensatz zu den anderen Neuankömmlingen, die zwar zum Teil neue Wohnviertel gründeten, aber sich in die bestehenden Sozialstrukturen integrierten und als Teil der Stadt Jaffa sahen, hatten einige dieser europäischen Einwanderer andere Pläne. Sie strebten eine exklusive und extraterritoriale Siedlung an und betrachteten diese als Keimzelle eines weit größeren Plans – sie waren die ersten zionistischen Kolonisatoren in Palästina.

    Theodor Herzl, ein österreichisch-jüdischer Journalist und Publizist, gilt gemeinhin als Begründer des Zionismus, der modernen jüdischen Nationalbewegung. Im Geiste der entstehenden europäischen Nationalismen im Laufe des 19. Jahrhunderts gab es auch unter den Juden Europas jene, die das Heil in der Gründung eines exklusiven Nationalstaates sahen. Herzl skizierte 1896 seine Vorstellung von einem jüdischen Staat in seinem Werk „Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage". Auf dem ersten Zionistenkongress in Basel 1897 wurden die Grundzüge dieser Ideologie mit der Gründung des Zionistischen Weltkongresses institutionalisiert. Im Gegensatz zu den europäischen Juden, die sich als Teil ihrer jeweiligen Nationalstaaten sahen, die also für eine Assimilation in die christlichen Mehrheitsgesellschaften plädierten, sowie den jüdischen Glaubensgemeinschaften, die ihre jüdische Identität strikt religiös und extra-nationalistisch definierten, konstruierten die Zionisten die jüdische Identität als eine nationale. Diese war zwar mythisch-historisch begründet, war jedoch ein Konstrukt im Sinne des modernen Nationalismus – komplett mit der Wiederbelebung des biblischen Hebräisch.

    In diesem Sinne unterschieden sie sich anfangs nicht sonderlich von all den anderen konstruierten Nationalismen die im Verlauf des langen 19. Jahrhunderts in Europa aufkamen. Ein wesentlicher Unterschied bestand jedoch in der tatsächlichen Bedrohung der sowohl einzelne Juden als auch ganze jüdische Gemeinschaften durch die verschiedenen Ausprägungen des Antisemitismus in Europa ausgesetzt waren. So war beispielweise die Dreyfus-Affäre in Frankreich der Hauptauslöser für Herzl, sein Hauptwerk zu veröffentlichen. Die Pogrome in den westlichen Gebieten des Russischen Reiches zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren ein entscheidender Faktor für den Zulauf, den der Zionismus anschließend erlebte – wobei die Mehrheit der fliehenden Juden die Auswanderung nach Amerika bevorzugte.

    Der Hauptunterschied zu den Nationalismen Europas bestand jedoch in der Wahl des Staatsterritoriums, der sogenannten „Heimstätte des jüdischen Volkes. Diese lag in der zionistischen Vorstellung außerhalb Europas. Anfänglichen Überlegungen, die Heimstätte in einer europäischen Kolonie zu gründen – zum Beispiel in Uganda in Britisch-Ostafrika –, wurden im Laufe der ersten sieben Zionistenkongresse verworfen, und die Entscheidung fiel auf Palästina. Obwohl die Zionisten sich als eine säkulare Bewegung sahen, bedienten sie sich religiöser Motive und Mythen und sahen sich in der Tradition der Rückkehrer nach Zion, in das „Land Kanaan, das von Gott seinem auserwählten Volk versprochene Land.

    Die Wahl Palästinas als zukünftige Heimstätte des jüdischen Volkes wurde von Herzl in seinem Roman „Altneuland 1902 ausgearbeitet. In der hebräischen Übersetzung hieß dieses Buch übrigens „Tel Aviv (Hügel des Frühlings) – der Name der 1909 gegründeten zionistischen Kolonie am Rande Jaffas. Geschrieben nach seiner Reise nach Palästina, entwarf Herzl in diesem Buch

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