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Horizonte. Auf zwei Rädern um die Welt
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eBook843 Seiten10 Stunden

Horizonte. Auf zwei Rädern um die Welt

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Über dieses E-Book

Träum nicht davon. Tu es! Sie haben sich einen Jugendtraum erfüllt; Winfried Stelzer und Jan B. Prinz aus dem brandenburgischen Erkner haben als drittes ostdeutsches Duo mit dem Fahrrad die Erde umrundet! Sie waren 442 Tage auf fünf Kontinenten unterwegs, haben geschwitzt und gefroren, gelitten und gestritten, haben Beeindruckendes und Außergewöhnliches gesehen und erlebt, und sie haben alle Zweifler an ihrem Vorhaben eines Besseren belehrt. Ihre 21.477 Kiklometer lange Tour führte sie in interessante Städte, schillernde Metropolen, in die arabischen Wüsten, die Savannen Afrikas, über die schneebedeckten Höhen der südamerikanischen Anden, durch die einmalige Natur Neuseelands, das australische Outback und in die faszinierende Kultur Myanmars. Zum Wichtigsten wurden ihnen unterwegs jedoch die Menschen: Farmer, Buschmänner, Botschafter, engstirnige Beamte, katholische Missionare, muslimische Studenten, buddhistische Mönche, Olympiesieger und Läuferlegende Emil Zatopek, ein aktueller Segelflugweltrekordler, Straßenhändler, Schnitzer, Köche, Taschendiebe, eiskalte Geschäftemacher, Künstler, Bettler, steinreiche Großgrundbesitzer... Die beiden Pedalritter gewannen tiefe Einblicke in das Leben und die Kultur anderer Völker – aber auch vor allem in sich selbst. Und: Durch die lange und ungewöhnliche Trennung von ihrer brandenburgischen Heimat ist diese ihnen letzlich näher gekommen, als sie es vorher vermutet hätten. Ihre Erlebnisse und Erinnerungen haben Winfried Stelzer und Jan B. Prinz abwechselnd und abwechslungsreich, spannend und kurzweilig und dennoch in die Tiefe gehend aufgeschrieben. Sie lassen den Leser miterleben, wie diese 15 Monate ihren Horizont erweitert haben. Sie wollen Mut machen, Jugendträume nicht als solche abzutun, sondern etwas dafür zu tun, sie wahr werden zu lassen. Anke Beißer Märkische Volkszeitung
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum18. Jan. 2013
ISBN9783869013213
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    Buchvorschau

    Horizonte. Auf zwei Rädern um die Welt - Jan B. Prinz

    Packliste

    Vorwort

    Im Februar 1999 besuchten mich Jan B. Prinz und Winfried Stelzer. Sie kamen natürlich mit dem Fahrrad die etwa 25 Kilometer von Erkner nach Kolpin. Ich war gerade dabei, einen Guinness-Buch-Rekord zu knacken und baute am längsten Fahrrad der Welt (25,22 Meter). Die beiden Besucher über-raschten mich mehrfach. Zum einen erinnern sich in der Winterzeit nur wenige Radfans an den Tourteufel und mit Besuch ist in dieser Zeit eher selten zu rechnen. Meine Überraschung steigerte sich, als mir Jan und Winne von ihrer bevorstehenden Weltumradlung erzählten. Ich hatte schon einige Velo-Weltenbummler kennengelernt – doch solche, die sich den ganzen Erdball vorgenommen haben, das mussten ganz besondere Kerle sein. Wir fachsimpelten noch lange an diesem Tag und stellten fest, dass nicht nur Jan und Winne im bevorstehenden Jahr 2000 Australien als Etappenziel hatten. Ich hatte geplant, bei den Olympischen Spielen in Sydney dabei zu sein. Leider lagen unsere Termine sehr weit auseinander. Zum Ende des Besuches zog ich mein bekanntes El-Diablo-Kostüm an und erklärte die beiden zu Teufelskerlen.

    In den nächsten Monaten verfolgte ich mit großem Interesse die Fahrt der beiden Erkneraner. Im September 1999 wurde Jan und Winne ein motivierender Gruß aus der Heimat postlagernd nach Südamerika geschickt. Ich habe sehr gern unterschrieben. Als die beiden nach ihrer über einjährigen Tour wieder gesund in der Heimat begrüßt wurden, war auch bei mir die Freude riesig. Hochachtung vor der radsportlichen Leistung, dem eisernen Willen und der tollen Kameradschaft!

    Didi Senft

    Tourteufel, Velodesigner und Großmeister der Radkuriositäten

    Winfried Stelzer

    Winfried Stelzer wurde 1962 in Woltersdorf geboren und lebt seitdem in Erkner. Nach Abschluss der Schule erlernte er den Beruf des Werkzeugmachers bei GAMAT in Berlin-Köpenick. 20 Jahre lang war er leidenschaftlicher Sportangler. Seit seinem 9. Lebensjahr spielt er Trompete im evangelischen Posaunenchor Berlin-Wilhelmshagen.

    Seine erste Fahrradtour führte ihn durch das sächsische Elbsandsteingebirge. Später waren die Länder des sozialistischen Teils Europas Ziel vieler Urlaubstouren. Mit dem Beginn der Armeezeit 1988 sollte seine »Radlerkarriere« eigentlich enden. Doch nach dem Fall der Mauer eröffneten sich völlig neue Horizonte. Während einer Solotour durch Kanada infizierte er sich mit dem Weltreisevirus. Nach der Abwicklung seines Betriebes und einer Abfindung als finanzielle Grundlage rückte die Aussicht auf das Abenteuer seines Lebens näher.

    Heute ist Winfried als Hausmeister bei der Wohnungsgesellschaft in Erkner tätig und engagiert sich in seiner Freizeit im Leben seiner Kirchengemeinde. Nach wie vor verbringt er seinen Urlaub nahezu ausschließlich auf dem Sattel.

    Jan B. Prinz

    Jan B. Prinz wurde 1966 in Rüdersdorf geboren. Nach dem Besuch der Oberschule in Erkner, einer Schlosserlehre und der Armeezeit arbeitete er als Heizer und Hausmeister in einem Jugendklub. Von 1991 bis 1998 war er Betreuer und Reinigungskraft in einem Berliner Kindergarten. Parallel dazu war und ist er als freiberuflicher Journalist für die Wochenzeitung »Blickpunkt« (Fürstenwalde) tätig.

    Nach der Weltreise erlernte er den Beruf eines Heilerziehungspflegers. Zurzeit arbeitet er auf dem »Ulmenhof« Wilhelmshagen für die Diakoniewerkstätten Berlin GmbH.

    Diverse Reisen führten Jan in den letzten zwei Jahrzehnten in nahezu 70 Länder auf der ganzen Erde. Dabei haben es ihm die Staaten Südostasiens und besonders England angetan.

    Zu den Hobbys des Beatles-Fans gehören neben dem Radfahren und der Gartenarbeit vor allem Joggen, Lesen, Folkloretanz, Wandern und Yoga. Als Mitglied einer Schreibwerkstatt verfasst er eigene Texte, in denen er immer wieder Begebenheiten und Probleme seines Lebens und seiner Umwelt reflektiert.

    6.3.1999

    die Welt, sie ruft –

    so komm und lass uns fahren

    ich habe lang davon geträumt

    und schon geglaubt

    ich könne nur die Hoffnung mir bewahren -

    doch jetzt ist’s Zeit!

    so lass die Räder ihren Rhythmus finden

    wir werden seh’n

    wie wenig sicher sie doch sind

    die Sicherheiten

    brich ab dein Zelt und wag’ das Neue ganz

    mag sein

    manch’ Wert kommt zu den Nichtigkeiten

    und andres, was gering uns schien

    wird groß - gewinnt an Glanz

    wir werden seh’n

    doch jetzt brich mit mir auf

    dies hier ist unser Leben

    schwebt fragend über allem jetzt ein Hoffen

    so sei gewiss

    der uns den Traum gegeben

    wird dafür steh’n, dass uns die Türen offen

    und wird geleiten uns zur rechten Zeit nach Haus

    das Herz voll Dank

    Tabea Vahlenkamp

    Von der Spree an den Nil

    Träum nicht nur davon. Tu es!

    »Wie bitte? Mit dem Fahrrad um die Welt? Das ist doch nicht etwa dein Ernst!« Die Begeisterung meiner Mutter über die ihr soeben überbrachte Neuigkeit hielt sich erwartungsgemäß arg in Grenzen. In Sachen Reisen war sie ja von mir schon einiges gewöhnt. Das war dann aber wohl doch zu viel. Lange hatte ich gezögert, ihr meine Pläne zu eröffnen. Doch gestern war ich mit Winne wieder einmal in einem Reisediavortrag und träumte dabei wie so oft von einer richtig großen Tour. Auf dem Heimweg in der S-Bahn fassten wir dann den Entschluss: »Wenn wir es jetzt nicht machen, werden wir es nie machen und es vielleicht eines Tages bereuen. Im Frühjahr 1999 fahren wir los!« Alles begann auf der Schulbank im Englischunterricht der Volkshochschule. Ob unsere damalige Lehrerin wohl wusste, wen sie da nebeneinander setzte? Der eine hatte in seiner Kindheit zuviel Jules Verne gelesen, dem anderen war es mit seinen Radreisen in Europa zu eng geworden. Jedenfalls hatten die Probetouren durch Polen, Spanien, Rumänien, Tschechien und die Slowakei gezeigt, dass zwei recht verschiedene Typen durchaus ein gutes Team bilden können.

    Über fünf Jahre hat es gedauert, bis wir beschlossen, den gemeinsamen Traum endlich in die Tat umzusetzen. Viele unserer Freunde, Nachbarn, Kollegen und Verwandten reagierten skeptisch, einige neugierig, andere gaben sich reserviert. Ein ehemaliger Klassenkamerad fragte mich, wie realistisch denn unser Vorhaben eigentlich sei. »Das wird die Zeit und der Verlauf der Reise zeigen«, antwortete ich. »Aber selbst wenn wir Schiffbruch erleiden sollten, wäre das auch nicht ganz so wichtig. Denn dann kann ich wenigstens sagen, dass ich es versucht habe. Und wenn wir nur die Hälfte von dem schaffen, was wir uns vornehmen, dann wird dies mit Sicherheit die Reise meines Lebens werden.«

    Von nun an gehörte fast jeder Sonntagnachmittag der »Weltreise«, die wir so gut wie irgend möglich vorbereiten wollten. Einfach so Zahnbürste, Regenjacke und Globus in den Rucksack packen und los – das ist nicht unser Stil. Später, als das Abfahrtsdatum auf den 27. Februar festgelegt wurde, intensivierten wir nochmals unsere Anstrengungen, sodass wir uns nun auch noch mittwochs in Winfrieds Dachgeschosswohnung zu Besprechungen trafen. Zwischendurch war harte, anstrengende und oft mühevolle Kleinarbeit angesagt. Winne kümmerte sich um die Räder, die er Teil für Teil und Stück für Stück eigenhändig zusammenbaute. Es dauerte Wochen, bis »Terry« und »Nelly« endlich Probe rollen konnten. Während er in der Werkstatt stand, hockte ich über Landkarten und studierte Dutzende Reiseführer. Das Hauptproblem am Anfang war vor allem das Finden einer geeigneten Route rund um den Erdball. Ein ums andere Mal stießen wir auf mehr oder weniger imaginäre Hindernisse. Einmal würde uns der Monsun in Indien den Weg »versperren«, ein anderes Mal war die politische Lage in dem einen oder anderen Staat zu instabil. Ganz zu schweigen von den Pass- und Zollbestimmungen. In China, dem Fahrradland schlechthin, zum Beispiel, darf man zwar radeln, aber als Ausländer nur innerhalb der Grenzen einer Stadt. Oder Nordamerika: Wer das nötige Klein- bzw. Großgeld hat, für den ist Reisen dort an sich kein Problem. Aber für »Ottonormalverbraucher« wie uns, die sich für längere Zeit privat krankenversichern müssen, sind die USA wie Kanada ein ziemlich teures Pflaster. So man dort zu reisen gedenkt, sollte man von vornherein bereit sein, den dreifachen monatlichen Betrag zu entrichten. Also, ganz so einfach ist es nicht, um die Welt zu reisen – weder theoretisch noch praktisch.

    Die schönsten Stunden der etwa 15-monatigen Vorbereitungsphase verbrachten wir mit seelenverwandten Globetrottern, die zuvor schon einmal etwas Ähnliches unternommen hatten. Sie gaben uns eine Vielzahl von Ratschlägen und Hinweisen, von denen sich mancher noch als recht wertvoll erweisen sollte. Mit ihnen besprachen wir etliche Details: Ersatzteilauswahl, Sicherheitsvorkehrungen, Impfungen ... An alles musste gedacht werden. Die Checkliste der mitzunehmenden Dinge umfasste am Ende nicht weniger als 208 Positionen: Höhenmesser, Sonnenbrille, Einwegspritzen, Ohrstöpsel, Entkeimungstabletten, Signalraketen ... und Funktionsbekleidung. Atmungsaktiv, leicht und strapazierfähig musste sie sein. Qualität war oberstes Gebot. In kaum etwas Anderes haben wir soviel investiert. Das alles musste zu guter Letzt in je sieben wasserdichte Taschen verstaut werden können, und zwar möglichst so, dass noch genügend Platz für die Mitnahme von Proviant blieb.

    Von den vielen Leuten, die wir im Vorfeld trafen und sprachen, ist einer etwas ganz Besonderes: »El Diablo« – der »Teufel« der Tour de France, »Didi« Senft aus Kolpin. Ganz in unserer Nähe wohnend, gab der 15-fache Guinnessbuchweltrekordler der Fahrradkuriositäten Winne und mir Tage vor der Abfahrt seinen »Segen« und munterte uns noch einmal kräftig auf.

    Bei unserem Treffen mit »Didi« stellte Winne überrascht fest, dass wir eigentlich alle drei irgendwie auf dem Weg nach Sydney sind. Wir wollen dort Silvester und er die Olympischen Spiele feiern. Wir müssen bis dahin strampeln ohne Ende, und er basteln bis zum Gehtnichtmehr, um einen neuerlichen Weltrekord-Eintrag in das zweitberühmteste aller Bücher zu erhalten. Rekorde waren es nicht, auf die wir unser Augenmerk richteten. Vielleicht hatten auch deshalb Sponsoren kein Interesse an unserem Vorhaben. Abgesehen von den zurückliegenden, wirklich stressigen Wochen war die Phase der Vorbereitungen eine wichtige und schöne Zeit. Eine Zeit, in der trotzdem noch genügend Raum zum Träumen blieb. Es gab natürlich auch Tage, an denen Zweifel an der eigenen Courage aufkamen; Tage, an denen nichts, aber auch gar nichts lief. Einmal verspäteten sich Lieferanten, ein anderes Mal antwortete eine Botschaft nicht rechtzeitig. Oder ein Reisebüro meldete sich gleich gar nicht. Manch eine Idee, so kristallisierte sich hin und wieder heraus, war schlicht und einfach nicht oder nur sehr schwer realisierbar. In solchen Fällen hieß es, noch einmal von vorne zu beginnen, noch einmal neu Anlauf zu nehmen.

    Und zu allem »Unglück« verliebte ich mich auch noch! In Anett, eine ehemalige Arbeitskollegin aus dem Kindergarten, in dem ich die vergangenen acht Jahre arbeitete. Nachdem ich meinen Job beim Öffentlichen Dienst Berlin für die Traumreise gekündigt hatte, hoffte ich, wenn auch nur halbherzig, sie aus den Augen und dem Sinn zu verlieren. Doch das genaue Gegenteil war der Fall, denn auch sie ...

    Es dauerte über einen Monat, bis ich wieder auf (Weltreise)-Kurs war. Zwischenzeitlich mussten wir auf Grund des harten und langen 99er Winters den Start um eine Woche auf den 6. März verschieben. Brian Jones und Bertrand Piccard, die als erste Menschen mit einem Ballon ohne Zwischenlandung den Erdball umrunden wollten, hatten in diesen Tagen ebenso mit den Wetterkapriolen zu kämpfen und verschoben den Beginn ihrer sensationellen Reise ebenfalls ein um das andere Mal. Etwas, wofür wir keine rechte Erklärung finden konnten, kam noch hinzu: Die hiesigen Medien interessierten sich zunehmend für die zwei »Pedalritter vom Berliner Stadtrand«. Bald erschien der erste Artikel in der heimischen »Märkischen Oderzeitung«. Daraufhin meldeten sich »Antenne Brandenburg«, der »Berliner Rundfunk« und die lokale Zeitung »Blickpunkt«. Sogar die Redaktionen der »Berliner Morgenpost« und des »Berliner Kurier« riefen an. Höhepunkt der ganzen Geschichte waren die Dreharbeiten zu einem kleinen Film über uns sowie die Einladung in das ORB-Studio nach Potsdam. Während der Abendjournal-Sendung ernannte uns Kultusminister Steffen Reiche, keine 40 Stunden vor Ultimo, zu »Offiziellen Kulturbotschaftern des Landes Brandenburg«.

    Diese Vorschusslorbeeren und die breite Anteilnahme daheim erfüllten uns mit Stolz und machten Mut. Nun gab es kein Zurück mehr. Jetzt mussten wir fahren! Mein Kopf und mein Bauch sagten mir schon lange und immer drängender: »Fahr endlich los!« Dem Stress und der Hektik zu entfliehen, half nun wirklich nur noch eins – die Flucht nach vorn, die Abfahrt! Das Abschiedsessen zu Hause hatte etwas von einer Henkersmahlzeit. Es mag vielleicht witzig oder gar amüsant klingen, doch wusste ich nur allzu gut, wie groß die Angst meiner Eltern um das Leben ihres Jüngsten war. Schließlich wohnte ich fast mein ganzes Leben lang daheim.

    Die letzte Nacht war kurz. Schon ganz früh am Morgen lag ich wach in meinem warmen, gemütlichen Bett. Unruhig hatte ich geschlafen und mein Herz pochte, als ich noch einmal hinunter zu meinem geliebten Karutzsee ging. Wie wird es Winne jetzt wohl gehen – so kurz vor dem endgültigen Aufbruch zum größten Abenteuer unseres Lebens?

    Abschied auf Raten

    »Muss i’ denn zum Städtele hinaus?« Der Posaunenchor Berlin-Wilhelmshagen und Gäste stellen schwierige Fragen.

    Es hieße sicherlich, die bekannten kulleräugigen Federviecher nach Athen zu fahren, all die Gefühle und Eindrücke wiederzugeben, mit denen ich am 6. März meinen mobilen 50-Kilo-Haushalt zum Erkneraner Rathaus schiebe. Freude, Angst, Stolz, Unsicherheit und ganze Teller voller Klöße im Hals begleiten mich durch diesen Samstagmorgen. Jan scheint es nicht wesentlich besser zu gehen. Gut, es war uns schon klar, dass wir am Rathaus mit unseren Familien und einigen guten Freunden nicht ganz allein sein würden. Presse, Funk und Fernsehen hatten in letzter Zeit reichlich dafür gesorgt, dass wir schon kleine Helden waren, bevor wir überhaupt einen einzigen Meter gefahren sind. Aber was sich dann in der nächsten Dreiviertelstunde abspielen sollte, erlebt man sicher nicht allzu oft im Leben.

    Schätzungsweise 150, uns zum Teil völlig unbekannte Menschen blockieren den Gehweg vor der ehemaligen Bechstein-Villa, und am Straßenrand hat sich irgendjemand mit einem weißen Lieferwagen, Zapfanlage, ein paar Partytischen und Sonnenschirm aufgebaut und lädt zum Freibier. Wie wir später erfahren, handelt es sich bei dem edlen Spender um Jürgen Tripler, dem Wirt »Zur Alten Liebe« aus dem Nachbarort Spreeau. Dieser hatte vor einigen Tagen über die Medien Wind von der Sache bekommen, umgehend bei der Redaktion angerufen und versprochen: »Wenn die beiden das wirklich machen, hau ich ein Fass rein.« Zu alledem spielt auch noch der Posaunenchor. Ne-ben Eltern und Geschwistern wer-de ich »meine« Bläser und das Mu-sizieren wohl am meisten vermissen. Jan meinte ja noch vor ein paar Tagen, dass ein bisschen Rummel vielleicht gar nicht so schlecht wäre, da-mit der Abschied nicht zu rührselig würde. Wenig spä-ter geht sein Wunsch in Erfüllung und wir stecken mitten drin in einem volksfestähnlichen Trubel. Umringt von Dutzenden Händeschüttlern, Schulterklopfern, Fotomachern und Glückwünschern.

    Doch nach Feiern ist uns eher weniger zumute. Schließlich heißt es nun endgültig Abschied nehmen. Zwei ältere Damen, die von den Plänen ihrer Söhne bis zum heutigen Tag noch nicht so richtig begeistert sind, warnen alle fünf Minuten: »Passt bloß auf euch auf, Jungs!« Meine Schwester heult wie ein Schlosshund, und auch mir treibt nicht unbedingt nur der kühle Märzwind, der durch die Friedrichstraße weht, das Wasser in die Augen. Den hymnischen Worten Erkneraner Würdenträger kann ich kaum folgen und auch die Bläser klingen mir zunehmend wie die Kapelle auf der Titanic. Hilfe suchend halte ich nach Jan Ausschau. Doch der ist immer noch umringt von einer Abordnung kleiner Kakaotrinker aus dem Friedrichshagener Kindergarten, in dem er noch bis vor kurzem arbeitete. Offensichtlich hat er es wohl auch nicht gerade leicht damit den Zwergen zu erklären, dass Onkel Jan bis auf weiteres beim Fußballspielen fehlen wird.

    Als ich dann auch langsam nicht mehr weiß, was ich den Reportern noch Aufregendes ins Mikro stottern soll und eigentlich nur noch weg will, beschließe ich kurzerhand mir mein Rad zu schnappen, den Bike-Computer auf Null zu stellen und rufe: »Prinzi, los, lass uns endlich abhauen; sonst wird das nie was mit der Weltreise!« Auch ihm scheint dieser Vorstoß nicht ungelegen zu kommen und so stehen wir kurz darauf in Startposition. Noch ein Küsschen hier, ein paar Tränchen da und um 10.24 Uhr geht es endlich los.

    Nun noch zusätzlich mit jeder Menge Fähnchen, Luftballons, Talismane, Maskottchen, Glückspfennigen und Packtaschen voller guter Wünsche, ausreichend für mindestens zwei derartiger Unternehmungen beladen, kreuzen wir die Hauptstraße und biegen in die gegenüberliegende Einbahnstraße ein. Natürlich entgegen der Fahrtrichtung. Macht aber nichts, denn der Verkehr ist unterdessen sowieso beinahe zum Erliegen gekommen.

    Zum Glück sind wir auf den ersten Metern hinaus in die große weite Welt nicht allein. Ein paar Freunde haben sich spontan zu einer Eskorte zusammengefunden. Die ersten klinken sich allerdings schon nach kaum einem Drittel der geplanten Tagesetappe aus. In ein paar Jahren können sie aber immerhin ihren Kindern erzählen, einmal auf einer Weltreise dabei gewesen zu sein. Nur Freund Rainer und Cousin Gerd halten die volle Distanz von 44 Kilometern bis nach Bad Saarow durch. Unterwegs begegnen wir immer wieder Menschen, die uns aus vorbeifahrenden Autos zuwinken. Am Ortseingangsschild des Kurortes scheint ein junger Mann auf die kleine Karawane aus Erkner zu warten. »Hey Jungs, alles Gute und eine schöne Reise!«, ruft er uns quer über die Straße hinweg zu, setzt sich wieder in sein Auto und fährt davon. Seine Identität sollen wir erst sehr viel später erfahren.

    In Saarow angekommen, muss zwecks Übernachtung zum Glück nicht gleich das Zelt auf seine Wintertauglichkeit getestet werden. Hier warten bereits Peter, Anke und Josephine mit geheizter Wohnstube auf die Übernachtungsgäste aus dem fernen Erkner. Mein ehemaliger Kollege aus alten VEB Wärmegeräte- und Armaturenwerk »GAMAT«-Tagen und gelegentlicher Radelpartner hatte uns schon vor Monaten eingeladen und meinte, dass man es am ersten Tag mit dem Abenteuer ja nicht unbedingt übertreiben müsse. Seine Freundin hat deshalb ein erstklassiges Abendessen gezaubert und ihrer Tochter müssen wir versprechen, auf dem Rückweg wieder hier vorbeizukommen. Einen gewissen Hauch von Abenteuer gibt es dann am nächsten, dem ersten richtigen Weltreisetag. Am Morgen heißt es aber zunächst wieder Abschied nehmen üben. Da ich dabei aber wieder keine besonders glückliche Miene zu machen scheine, entschließen sich Rainer und Peter spontan noch bis in den Spreewald mitzukommen. »Die beiden werden noch lange genug allein rumradeln müssen«, so ihre mitleidsvollen Worte.

    Erst vor wenigen Tagen fragte uns ein Zeitungsreporter, ob uns der Weg nach Süden denn auch durch die Leichardt-Gemeinde Trebatsch führen würde? »Wie jetzt? Leichardt, Trebatsch …?« Auf unsere fragenden Blicke hin wundert sich der Journalist: »Ihr wollt nach Australien und kennt Ludwig Leichardt nicht?« Tatsächlich hatten wir keine Ahnung, dass in diesem Ort am 23.10.1813 einer der bedeutendsten Australienforscher geboren wurde. Was lag also näher, als gleich zu Beginn auf Kultur zu machen und Trebatsch in die Route mit einzubauen. So steuert unser Quartett ohne Umwege das 700-Seelen-Dorf und sein Museum an. Leider vergebens, denn die bekannte Bildungsstätte ist ausgerechnet sonntags geschlossen.

    Nicht so die Gaststätte nebenan; und da es ohnehin Mittagszeit ist, beschließen wir, wenn schon nichts für den Geist, wenigstens etwas für den Körper zu tun. Dem Wirt des »Schwielochsee« lässt es sich kaum verheimlichen, dass auch wir gewissermaßen auf dem Weg nach Australien sind. Die Wissenslücke in Sachen Leichardt stößt allerdings auch bei ihm auf pures Unverständnis: »Also doll ist das ja nicht, was ihr über den Ludwig wisst. Dort unten kennt ihn wirklich jedes Kind!« Fast entschuldigend heben wir die Schultern. Es folgt ein Kurzvortrag über dessen Leben und Werk sowie die Einladung: »Wenn ihr tatsächlich schafft, was ihr da vorhabt, und auf dem Rückweg rein zufällig wieder hier durchkommt, dann lad ich euch ein. Nur eine Karte müsst ihr mir von unterwegs unbedingt schreiben!«

    In Lübben, am Rande des Spreewaldes, heißt es schließlich auch für den eisernen Rest unserer Eskorte den Rückweg anzutreten. Auf einmal sind wir allein. Nach all dem Trubel ein ungewohntes und beinahe beklemmendes Gefühl. Überdies haben wir uns in der Entfernung etwas verschätzt und absolvieren bei rapide schwindender Kondition den ersten außerplanmäßigen 100-Kilometer-Ritt.

    Glücklicherweise müssen wir diese ungewohnten Zustände nur wenige Stunden ertragen, denn für die Nacht wurde wieder luxuriös gebucht. Diesmal bei ADFC-Dachgebern in Finsterwalde. Hierbei handelt es sich aber nicht etwa um den bekannten Sängerverein, einen ortsansässigen Fußballclub oder ein Bauunternehmen, sondern um eine geradezu geniale Einrichtung des Allgemeinen Deutschen Fahrrad Clubs. Jeder, der seinerseits bereit ist Radlern auf Tour eine kostenfreie Unterkunft zu gewähren, kann eine solche bei seinen eigenen Radreisen auch selbst in Anspruch nehmen. Ins Leben gerufen wurde die Initiative von einem meiner größten Vorbilder: Wolfgang Reiche. Ohne ihn wären wir zwei vielleicht nie auf den Gedanken gekommen, dass man mit dem Rad auch weiter als nur zur Arbeit oder an den Balaton fahren kann.

    Der sympathische Wahlbremer radelte von 1981 bis 1985 mit seiner Partnerin Gudrun um die Erde. Auf ihrer Australienetappe erfuhren die beiden von der Möglichkeit im Bundesstaat New South Wales auf besagte Weise Unterschlupf zu finden. Zu Hause erzählte er bei seinen Diavorträgen davon und innerhalb von zwei Jahren fanden sich 213 »Urdachgeber«, die er für diese Idee begeisterte. Bald wurde daraus ein flächendeckendes Verzeichnis von heute ca. 4.000 Velojüngern. Es gibt in Deutschland kaum eine bessere Möglichkeit ein kostenloses Dach über Isomatte und Schlafsack zu finden und dazu noch nette und interessante Leute kennen zu lernen. Zu ihnen gehören ganz sicher auch Stefan und Sigrid, bei denen es zum Dach noch Spaghetti und Rotwein gibt. Einfach Klasse, das mit dem Dachgeber.

    Eine bewegte Topografie und ein frischer Wind von achtern sind ja normalerweise keine ernstzunehmenden Gegner. Angesichts unseres noch miserablen Trainingszustandes sind die zunehmend hügeligen Landstraßen im südlichen Brandenburg jedoch ein ziemliches Stück Arbeit.

    Keine Frage, zum Mittag muss ein üppiges Mahl her! In Hirschberg im Gasthaus »Zum Hirsch« ist selbiges schnell gefunden. Natürlich wundert sich auch dessen Wirt über die für diese Jahreszeit eher ungewöhnlich reisenden Gäste. »Wo wollt ihr denn mitten im Winter hin? Wo kommt ihr überhaupt her? Habt ihr denn solange Urlaub? Wie, was, warum …?« Die Fragen wollen nicht enden. Da einem aber in frühester Jugend gelehrt wurde, dass man mit vollem Mund keine Reden halten soll, verweisen wir den Hausherren auf die Sonntagsausgabe der »Berliner Morgenpost« im Zeitungsständer neben dem Tresen. »Da steht eigentlich alles drin. Auch eine Routenbeschreibung.« Er nimmt sich das Blatt zur Lektüre, liest und zapft abwechselnd Bier. Auf diese Weise findet er genügend Antworten und wir ausreichend Zeit zum Stillen des Hungers. Als wir daraufhin die Rechnung verlangen, winkt der freundliche Gastronom ab: »Ach wisst ihr, es war mir ein Vergnügen euch hier gehabt zu haben. Lasst die Scheinchen stecken. Die könnt ihr später sicher noch gut gebrauchen. Nur um ein Gruppenfoto draußen vorm ‚Hirsch’ kommt ihr mir nicht herum.« »Na, wenn’s weiter nichts ist. Das machen wir doch gern.« In punkto Posieren sind wir ja inzwischen einigermaßen geübt und außerdem gehört der gute Mann nunmehr zu den vielen Kleinstsponsoren der Reise. Ohne Menschen wie ihn, hätte der finanzielle Rahmen gewiss um einiges weiter gesteckt werden müssen.

    Von den Großen der Fahrrad-, Ausrüstungs- oder Fotobranche fand sich beispielsweise nicht einer, der für zwei Nobodys, die mal eben eine Radtour machen wollen, auch nur eine Mark gab. Allein einem kleinen Vertreiber von Sportbandagen aus der Region war unser Vorhaben einen Scheck wert – »OTS Schadock« in Rüdersdorf – Dankeschön!

    Bald darauf verlassen wir unser heimatliches Brandenburg Richtung Sachsen. Bei lausigen Temperaturen und Schneeregen geht es in den nächsten drei Tagen kreuz und quer über die wolkenverhangenen Hügel des Erzgebirges. Tagsüber darf nun die teure Funktionsbebleidung zeigen was sie kann. Morgens müssen jedoch auch wir wieder zeigen, was wir über das Abschiednehmen bereits gelernt haben.

    In Meißen sind es alte Freunde und in Zwickau Jans Familie, die ihren angehenden Weltenbummler ein letztes Mal sehen wollen. Mutter und Vater Prinz sind ihrem jüngsten Spross noch einmal bis hierher nachgereist. Anlass ist aber weniger der anhaltende Trennungsschmerz als vielmehr der 40. Geburtstag ihres ältesten Sohnes Frank. Dieser lebt mit seiner Familie schon einige Zeit in der »Trabbistadt«.

    Auf der abendlichen Party sind wir, ob wir es wollen oder nicht, erstmal so etwas wie Ehrengäste. Zur Überraschung muss unsereins ausnahmsweise nicht nur für Fotos herhalten, sondern darf sich solche sogar schon einmal ansehen – nämlich die vom Start in Erkner. Mir kommt das schon fast wie eine kleine Ewigkeit vor.

    Am späten Vormittag des folgenden Tages ist dann endlich Schluss mit: Auf Wiedersehen! Gute Reise! Viel Glück! Kommt gesund wieder! ... und feuchten Augen. Ein letzter Blick zurück auf wedelnde Taschentücher, dann verschwindet auch das letzte vertraute Gesicht hinter den Häuserecken. Wenn alles wie geplant läuft, wird man sich wohl erst in mehreren Monaten wiedersehen. Doch es wird auch langsam Zeit loszulassen.

    Eine leicht gedrückte Stimmung bleibt heute trotzdem. Dazu trägt in hohem Maße auch das Wetter bei. Ich hatte in den vergangenen Tagen immer schon gedacht, schlimmer könne es nicht mehr kommen. Doch die letzte gesamtdeutsche Etappe verdient zweifellos das Prädikat: Sauwetter. Nebel, Regen, Matsch, Wind und das alles bei gerade drei Grad über Null und nicht enden wollenden Hügeln. Außerdem jammert Jan wegen seltsamer Geräusche aus seinem Hinterrad und für eine warme Mahlzeit müssen wir heute bis weit in den Nachmittag hinein strampeln. Mehr als einmal frag ich mich, was das alles noch mit einer Traumreise zu tun haben soll. Das ist heute eher eine Albtraumreise.

    Zum Glück gibt es jedoch den »Dachgeber« und in Marienberg Günther und Ilona. Durchgefroren und nass wie die Fische müssen wir ein Bild des Jammers abgeben, als wir bei den beiden in der Tür stehen. Jedenfalls schiebt Ilona uns umgehend unter die Dusche. Ihr Mann versucht derweil mit einem Wiederbelebungsglühwein schlimmere Gesundheitsschäden zu verhindern.

    Beim abendlichen Plaudern über Gott und vor allem die Welt sind die Strapazen des Tages jedoch schnell vergessen. Eine wahre Wohltat ist es für mich, mal nicht nur über uns und unsere Pläne erzählen zu müssen. Die beiden sind gerade aus Schweden vom Wasa-Lauf wiedergekommen, sie wohnen mit Oma, Kind und Enkel unter einem Dach und der Keller ist Sendezentrum des »Mittel Erzgebirgs Fernsehens«. Wenn man da nichts zu erzählen hat? Erst weit nach Mitternacht enden die Gespräche wegen zunehmender Müdigkeit.

    Dummerweise kommt es hier, wie beinahe zu befürchten war, wegen eines Fahrzeugschadens zur ersten Zwangspause. Als Mannschaftsmechaniker gehe ich gleich am nächsten Morgen meinen Pflichten nach und den Unheil verkündenden Geräuschen in Jans Hinterrad auf den Grund. In Günthers Hobbywerkstatt findet sich alles, was für den Eingriff erforderlich ist.

    Diagnose: Klassischer Materialfehler. Der kostspielige Marken-Alureifen ist nach kaum 400 gefahrenen Kilometern der Länge nach zwischen den Ösen aufgerissen. Ich hab ja schon eine Menge verletzte Felgen gesehen, doch Derartiges ist mir noch nicht einmal mit den guten, alten Ostfelgen passiert. Es hilft nichts, »Terry« muss zum »Fahrradarzt«.

    Erste Adresse in Marienberg: »Dr. Schwalbe«. Doch auch der erfahrene Meister gibt dem Teil keine Überlebenschancen mehr. Und so arbeiten Herbert und ich – inzwischen sind wir per Du – den ganzen Vormittag um den Gaul wieder auf die Reifen zu bekommen.

    Wo sich Jan gerade herumtreibt, weiß ich nicht. Eine große Hilfe wäre er aber sowieso nicht. Vom Speichenflechten versteht er nämlich ungefähr soviel wie ich von den Werken Friedrich Nietzsches, den Jan sehr schätzt, oder den Biografien »seiner« Beatles.

    Zur Mittagszeit findet er sich aber wieder ein. Als Mannschaftsmanager hat er sich spontan für die rückwärtigen Dienste verantwortlich gefühlt und für einen kleinen Imbiss gesorgt. Gute Idee. Pause muss sein!

    Schließlich werden bei dieser Gelegenheit auch gleich noch Bremsen und Schaltung nachjustiert sowie Ölstand und Scheinwerfereinstellung überprüft. Generalüberholung nach gerade mal sechs Tagen!

    »Doch kaum etwas ist so schlecht, dass es nicht auch etwas Gutes hat!«, pflege ich bisweilen zu sagen. In diesem Falle kann man wohl fast schon von Glück reden, das der »Doktor« gleich um die Ecke wohnt. Darüber hinaus können nun auch die gestern Abend abgebrochenen Gespräche fortgesetzt werden.

    Emil Zatopek – Besuch bei einer Prager Legende

    Günther und Ilona filmen unsere Abfahrt und los geht’s. Nun heißt es Abschied von Deutschland zu nehmen. Der sich ewig hinziehende Anstieg hinauf zum Raitzenhainer Grenzübergang macht mir besonders zu schaffen. Unsere Köpfe mögen vielleicht schon auf Weltreise eingestellt sein, die Muskeln jedoch sind es noch keineswegs. Morgens komme ich meist nur schwer in Tritt und habe so meine Schwierigkeiten. Heute ist es zudem bitterkalt: Minus vier Grad. Der eisige Wind pfeift auch den frierenden Grenzposten um die Ohren. Sie wundern sich nicht schlecht über unser Erscheinen. Für ein Erinnerungsfoto zeigen sie leider kein Verständnis. Aus »Sicherheitsgründen« wie es heißt. Man müsse so etwas erst bei irgendwelchen Behörden beantragen, sagen sie. Dafür eine Genehmigung zu bekommen würde sicherlich ewig dauern. Dann wären wir vielleicht schon längst in Damaskus oder so. Wir verzichten dankend. Nun ja, vielleicht ist es gar nicht so schlecht Deutschland einmal für eine Weile zu verlassen ...?

    Für die bevorstehende Talfahrt werfen wir alles an verfügbarer Kleidung über und ähneln so eher Arktisreisenden als Radtouristen. Derart eingepackt sausen wir nach Chomutov hinunter. Mit Tempo 74 machen wir locker den Autofahrern Konkurrenz. Die Strecke wird nicht nur von Lkw und Großtransportern, sondern auch von etlichen Freiern frequentiert, die auf der Suche nach eher zweifelhafter Liebe sind. Unten in der Industriestadt bestellt sich Winne endlich sein erstes Glas tschechisches Pivo. Mir ist beim Blick auf das Thermometer eher nach einer Tasse Tschai zumute.

    Ein breiter, recht gut befahrbarer Randstreifen vereinfacht von nun an das Vorankommen auf der stark frequentierten E 17. Erst als diese nahe Lidice zu einer für Radfahrer gesperrten Autostrada wird, haben wir das Feld zu räumen und auf Nebenstraßen auszuweichen. Mit Beginn der Dunkelheit erreichen wir die Außenbezirke von Prag. Schwester Ediths Warnungen fallen uns unwillkürlich wieder ein. »Radfahren ist in Prag quasi unmöglich, ja sogar lebensgefährlich. Nehmen Sie sich bloß einen Vorortzug, das ist sicherer«, hatte sie eindringlich gewarnt, als Winne vor zwei Wochen mit ihr telefonierte, um das Quartier zu bestellen.

    90 nervenaufreibende Minuten später stehen wir Ordensschwester Edith gegenüber – und das sogar lebend. Ihre Schutzbefohlenen, katholische Schwesternschülerinnen, sind über das Wochenende samt und sonders ausgeflogen. Aha! Nur deshalb also wurde uns gestattet, in deren Wohnheim zu übernachten.

    Der zweite Samstag der Tour lässt sich gut an. Ausgeschlafen holt »Tischdienst« Winne frische Hörnchen, Maslo und einige würzig duftende Kolbasa aus dem Potraviny-Konsum unten an der Ecke. Ordentlich tafelt er auf und wünscht einen guten Appetit. Das Frühstück schmeckt an diesem Morgen wesentlich besser, als das Mittagsmenu später am Wenzelplatz. Der Besuch bei »McDonalds« ist Winnes erster und vermutlich letzter zugleich. »Das ist doch kein Essen«, war sein anschließender, kurzer Kommentar. Aber das Gebäck und die Kekse zur Vesperzeit sollten wieder für alles entschädigen, denn wir nehmen sie bei einer lebenden Legende ein ...

    Ein vierfacher Olympiasieger und zwei angehende Weltreisende

    Da ich zu aufgeregt bin, wählt Winne die Nummer. Gespannt höre ich von draußen einige Gesprächsfetzen aus der winzigen, blauen Telefonzelle dringen. »Kein Problem?« »Geht klar. Und wann?« »Ja, ja. Finden wir schon.« Mein Partner strahlt, als er mir, den Hörer noch in der Hand haltend, hoch erfreut mitteilt: »Jan, wir fahren jetzt zu Emil Zatopek!« Im Stadtteil Troja stehen einige protzige Villen und Botschaftsgebäude. Mittendrin ein eher bescheidenes Häuschen, die Nummer 3, bewohnt vom vielleicht berühmtesten Tschechen der Gegenwart: Emil Zatopek, die »Lokomotive«, wie der vierfache Olympiasieger von Generationen von Menschen nur ge-nannt wird. Reichtümer gibt es auch drinnen nicht, außer vielleicht je-nen, welche im Innern, im Herzen des alten Cham-pions schlummern. Vor mir sitzt ein 76-Jähriger, der einst zu meinen großen Vorbildern gehörte, zuerst na-türlich als Sportler und Kämpfer. Die Bücher von und über ihn verschlang ich regelrecht in meiner Kindheit. Auf der Aschenbahn versuchte ich, in die Tat umzusetzen, was er der Jugend durch seine Trainingsanweisungen mit auf den Weg gab. Was Ausdauer, Fleiß und Wille bewirken können, im Stadion wie im Leben, das lernte ich nicht zuletzt von ihm.

    Später, 1968, wurde Zatopek vielen als Kämpfer gegen Ungerechtigkeit zum Leitbild. In Tschechien ist er zweifellos eine Legende, vergleichbar vielleicht mit unserem »Täve« Schur. Und nun wünscht dieser so außergewöhnliche Mensch mir und meinem Freund viel Glück und Erfolg bei unserem Vorhaben!

    Wie viele Autogramme wird der alte Champion in seinem Leben wohl gegeben haben?

    Der ehemalige Soldat spricht gern über seine aktive Zeit als Läufer. Seine sportlichen Rivalen hat er bis heute nicht vergessen. Zu ihnen wie zu allen seinen Kontrahenten hatte er stets ein faires Verhältnis. Gern erzählt er die kleine Anekdote, welche auch seine Frau, die Speerwerferin Dana, weltberühmt machte. »Während der Olympischen Spiele 1952 in Helsinki gewannen wir beide am 17. Juni olympisches Gold. Na ja, schließlich haben wir ja auch an ein und demselben Tag Geburtstag. Und geheiratet haben wir auch noch am selben Tag«, lacht der sympathische alte Mann. »So hat alles seine Ordnung.« Der Sport von heute jedoch, die einhergehende Kommerzialisierung und der Gebrauch von Dopingmitteln – das ist nicht mehr seine Sache.

    Nachdenklich, tief bewegt und auch ein wenig stolz schaue ich zu, wie er am Ende unserer Unterhaltung eines meiner Bücher signiert. Wieder zurück im Herzen der »Goldenen Stadt« stoßen wir mit einem Becherovka auf den gelungenen Tag an. Menschen kennen zu lernen – auch deshalb sind wir schließlich aufgebrochen. Na, wenn das kein gelungener Auftakt war! Zwei Tage darauf besteht erneut Anlass zu verhaltener Freude. Nach einer nächtlichen Zugfahrt erreichen wir die Slowakei, die sich offensichtlich in wärmeren Gefilden zu befinden scheint, denn tatsächlich erklimmt der Temperaturmesser erstmals zweistellige Bereiche. Optimistisch verbannen wir hinter Bratislava Stirnbänder, Mützen und Handschuhe in die Satteltaschen – wenn auch nur für kurze Zeit. Mitten durch das alte Komarom verläuft die Staatsgrenze zu Ungarn. Nach der Passkontrolle kreuzt ein großer, kräftiger Magyar bereits zum zweiten Mal an diesem Tag unseren Weg. Heute am 15. März ist Nationalfeiertag und den begeht der Familienvater auf seine ganz spezielle Weise: Rad fahrend. Viele Kilometer, aber auch viele Biere scheint sein Motto zu lauten. Zoltan kennt die besten Straßen und die urigsten Kneipen. Er nimmt uns mit auf den Weg in seine nicht mehr allzu weit entfernte Heimatstadt Tatabanya, wo es sogar einen Zeltplatz geben soll. Zu spät bemerken wir, dass der Typ mit der Athletenfigur wohl nur jemanden zur Begleitung und Unterhaltung suchte. Irgendwann heißt es auf einmal nur noch ganz kurz: »Da geht’s lang. Ahoi!«, und weg ist er – unser »Reiseführer«.

    Es dauerte ein Weilchen, bis tatsächlich ein kleines Hinweisschild »Camping« auftaucht. Endlich, nach 158 Kilometern, am vermeintlichen Ziel angelangt, ist dort jedoch nur zu erfahren, dass der öffentliche Betrieb erst im Mai beginnen wird. Ausnahmen werden keine gemacht. Na prima!

    Da sich zu hereinbrechender Nacht am Stadtrand keine Menschenseele mehr blicken lässt, müssen wir wohl oder übel andere Wege gehen. Nahe der Kirche finden wir das schmiedeeiserne Tor zum Pfarrgarten unverschlossen vor. Weder klopfen, klingeln noch rufen bringen etwas. Als Antwort bekommen wir lediglich Hundegebell, das sich noch verstärkt, als wir zögernd eintreten. Getreu dem 11. Gebot – »Du sollst dich nicht erwischen lassen!« – verharren wir mehr als fünf Minuten mucksmäuschenstill. Dann fällt die Entscheidung: Dies wird der Platz für die erste Übernachtung im Zelt. Irgendwann einmal musste es ja soweit sein. Aber ausgerechnet hier und heute und unter diesen Bedingungen? Die Generalprobe für den Zeltaufbau ging in heimischen Gefilden problemlos über die Bühne. Die Premiere im Halbdunkel auf fremdem Terrain gestaltet sich dagegen um einiges schwieriger. »Wenn das unsere lieben Mütter wüssten«, seufzt Winne.

    Die Nacht ist unter den gegebenen Umständen entsprechend unruhig. Nicht zuletzt, weil die zwar angeketteten, aber nach wie vor aufgebrachten Vierbeiner jede unserer Bewegungen mit nervendem Gekläff registrieren. So erwachen wir noch weit vor dem ersten Hahnenschrei, packen zusammen und stehlen uns wie Diebe vom Hof.

    Ungarn bei Tageslicht lässt die vor uns liegenden Budaer Berge wegen der tiefhängenden Wolken gerade noch so erkennen. Gesteigertes Verlangen danach, die etwa 600 Meter hohen Janoshegy zu überqueren, hegt keiner, aber nachmittags soll unbedingt die Donau erreicht werden. So lange wie möglich halten wir uns abseits der Hauptverkehrswege. Doch immer häufiger über- bzw. unterqueren wir die M1, bis wir schließlich auf diese Hauptstraße einmünden und fortan im Strom der Blechkarawane mitschwimmen müssen. »Die sollten lieber vom Gaspedal gehen, als uns dauernd von der Straße hupen zu wollen«, schimpft mein Hintermann. Vergeblich. »Für die sind wir doch nur störende Hindernisse«, ärgere auch ich mich.

    An Hunderten von Lkws und Pkws, die uns eben noch hupend überholten, huschen wir wenig später vorbei. »Die Letzten werden die Ersten sein!«, triumphiert Winne, als wir einen kilometerlangen Stau passieren. Das Chaos wurde durch einen schweren Unfall an einem Nadelöhr verursacht. Die Polizei sperrt die Gefahrenquelle weiträumig ab.

    Wir sind heilfroh, am späten Nachmittag bei Bekannten von Winfried anklopfen zu dürfen. Bei ihnen handelt es sich um die Schwiegereltern seines Freundes Ferenc, den wir später in Rumänien besuchen wollen. Abends in den Nachrichten ist sogar von zwei Verkehrstoten die Rede. Mir ist unwohl bei dem Gedanken, in den kommenden eineinhalb Jahren dem weltweit zunehmenden Verkehr ausgesetzt zu sein.

    Nachdem der Sprecher von Duna-TV den abendlichen Spielfilm ankündigt, steht Nemethy Ferenc auf und schaltet die Röhre ab. Seine Frau Irma hat unterdessen aufgetischt. Und da wir bei echten Ungarn eingeladen sind, heißt das nicht mehr und nicht weniger, als dass zugelangt werden darf beziehungsweise muss – und zwar ordentlich. Nach den Anstrengungen des Tages haben wir reichlich Appetit. Als nach der Vorsuppe jedoch mehrere Sorten Fleisch, dazu Soßen, Kartoffeln und Gemüse gereicht werden, frag ich mich schon ein wenig, wer denn das alles essen soll oder ob vielleicht noch Gäste erwartet werden. Doch Winne erinnert mich beim Anblick all dieser Leckereien an Rainers letzten Ratschlag: »Jungs, macht es wie die Kamele«, hatte er gesagt, »wenn es etwas zu essen gibt, dann esst, esst, esst!« Leicht gesagt, wenn die Nachspeise noch vor einem liegt. Süßes und Hochprozentiges beschließen das Mahl, an dessen Ende ich glaube, ganze drei Tage nichts mehr zu mir nehmen zu brauchen.

    Ein deutsch sprechender Ungar in Rumänien

    Schon am nächsten Morgen werden all die guten Vorsätze jedoch wieder auf eine harte Probe gestellt. Auf dem Frühstückstisch türmen sich Fresspakete für ein ganzes Tour-de-France-Team. »Sollen wir das wirklich alles einpacken? Das da unten im Keller sind Fahrräder und keine Busse.« Irma lacht, als sie meine hilflosen Blicke sieht: »Nehmt einfach soviel mit, wie ihr könnt und wollt. Wir geben es euch gerne.« Obwohl wir nicht einmal zwei Tage bei dieser Familie zu Gast waren, fällt auch dieser Abschied wieder schwer.

    Um aus der Donaumetropole einen Südostkurs einschlagen zu können, bieten einem Karte und Wegweiser nur die N 4 Richtung Debrecen an. Sinnvolle Alternativen gibt es kaum. Viele der kleineren Nebenstraßen sind schachbrettartig angelegt und deshalb oft mit unangenehmen Umwegen verbunden. So bleibt zunächst keine andere Wahl, als sich in die Vierradkolonnen zu mischen. Doch nach zwei Stunden hab ich genug von Truckrennen und Abgaswolken. »Jan, los, lass uns über die Dörfer zuckeln. Lieber ein paar Extrakilometer, als hier irgendwann im Straßengraben zu landen oder zu ersticken.«

    Abseits des Horrorhighways geht es zum Glück deutlich ruhiger zu. Die wenigen Pkws stören kaum und die Traktoren können streckenweise sogar als Schutzschild gegen den fiesen Ostwind genutzt werden. Wie von einem unsichtbaren Seil gezogen, geht es im Windschatten der Hänger mit nicht einmal halber Kraft dreimal so schnell voran. Das Ganze ist nach dem stundenlangen Kampf gegen den großen Himmelsventilator die reinste Wohltat für Leib und Seele. Allerdings sind solche Aktionen nicht ganz ungefährlich und bestimmt auch keinesfalls Straßenverkehrsordnungsgerecht. Deshalb sollte das »Abschleppen« in jedem Fall vorher mit dem Fahrer abgestimmt und nur unter Dauerbremsbereitschaft durchgeführt werden.

    Trotz derlei Annehmlichkeiten und gelegentlichem Nervenkitzel ist das Radeln in der Großen Ungarischen Tiefebene im Allgemeinen eine eher öde Angelegenheit, vor allem aber ein Test für Sattel und Gesäß. Man sollte ja eigentlich meinen, es gäbe nichts Erholsameres als mal für einige Zeit nur plattes Land unter den Reifen zu haben. Frühere Touren haben mich jedoch gelehrt, dass es meist nicht lange dauert, bis man sich nach jedem noch so kleinen Hügelchen zu sehnen beginnt. Und sei es nur eine Eisenbahnbrücke. Beinmuskeln und Sitzfleisch verlangen früher oder später nach Abwechslung.

    Für die einzige optische Abwechslung sorgen die für diesen Landstrich typischen Ziehbrunnen, die Wahrzeichen der nahenden Puszta. Ihre langen Holme ragen wie windschiefe Bohnenstangen aus den endlosen Feldern. Teils sind sie schöne Nostalgie, teils einzige Wasserversorgung der Höfe.

    Nach einigen Touren durch die DDR Ende der 70er Jahre begann ich 1983 meine Radwanderkarriere in das sozialistische Ausland auszudehnen. Damals kam ein Urlaub in Ungarn beinahe einer Westreise gleich. Balaton und Budapest waren so beliebt wie heute Mittelmeer und Palma de Mallorca.

    Einziges Problem: Das liebe Geld! Vater Staat erlaubte seinen reisewütigen Bürgern nur, mickrige 30 Ostmärker pro Tag in Forint umzutauschen. Das reichte natürlich hinten und vorne nicht. Um an die begehrten Westartikel zu kommen, wurde geschummelt und geschmuggelt was die Trickkiste hergab. Dennoch mussten Stones LP, Levis Jeans, Stereorekorder, Nivea-Creme und dergleichen praktisch vom Munde abgespart werden. An den meisten Fensterscheiben konnte sich »Normalossi« nur die Nase platt drücken.

    In früheren Jahren waren es ausschließlich die Sommermonate, in denen ich das Land durchquerte. Meere wogenden Getreides erstrecken sich dann bis zum Horizont und Mähdrescherkolonnen fressen Ungarns Gold von den Feldern. In den Kooperativen herrscht Hochsaison. Überall an den Straßenrändern oder auf den Märkten türmen sich Haufen, die aussehen wie grüne Gummibälle. Bauern und Händler versuchen ihre Melonenernte an den Mann oder die Frau zu bringen. Hitze flimmert über der trocknen Steppe. Jedes Dorf, jede Stadt wird in den Mittagsstunden zur Oase. Nun erlebe ich Ungarn zum ersten Mal im Vorfrühling. Über der schwarzbraunen Erde zeigt sich gerade ein erstes, zartes Grün. Das Leben in den Dörfern geht einen beschaulichen Gang. Man hat noch Zeit.

    Entgegen den Wetterprognosen sorgt ein Dauerhoch auch derzeit für schöne, sonnige Tage. Doch bei Nachttemperaturen unter Null bleiben Badespaß, Kugeleis und Sonnenbrand nur ferne Träume. In den Schlafsäcken wird jede Daune gebraucht. Eis gibt es nur morgens in unseren Wasserflaschen und auf dem Zeltdach.

    Nichts geht mehr – Land unter in der Puszta

    Bei Szolnok wollen wir die Tiza (Theiß) überqueren. Laut Karte gibt es dort eine Brücke. Etliche Kilometer vorher passieren wir seltsamerweise ein Gewässer, das hier so nicht hingehört. Verwundert fragt mich Jan, wieso die hier mitten in den See Getreidesilos hineinbauen. Irgendetwas stimmt hier nicht! Wenig später sehen wir dann die Bescherung. Mit Sandsäcken beladene Lkw und Menschenketten sind ein untrügliches Zeichen: Hochwasser! Wie in vielen anderen europäischen Ländern, so hat man auch hierzulande den großen Strömen ihr angestammtes Bett genommen, sie begradigt und ihnen ein Korsett verpasst. Natürliche Überschwemmungsgebiete wurden weitestgehend in Ackerland umfunktioniert. Immer häufiger fordert Ungarns größter Fluss deshalb auf den Feldern oder in den Siedlungen sein Recht zurück. Vor kurzem lag hier das Wasser, in Form von Schnee, noch meterhoch. Nun steht das Geschmolzene den Menschen buchstäblich bis zum Hals. Dagegen nehmen sich die Probleme zweier brandenburgischer Radler, die lediglich auf der Suche nach einem trockenen Plätzchen für die Nacht sind, geradezu lächerlich aus. Inmitten dieser Seenlandschaft ist es trotzdem keine leichte Aufgabe. Erst als es bereits finster ist findet sich zwischen der N4 und einem nahen Deich ein kleines Wäldchen. Zwei Meter über uns: der Wasserspiegel der Theiß. Weitere hundert Meter höher kreisen Hubschrauber mit Suchscheinwerfern. Deichläufer kontrollieren die ganze Nacht hindurch die Festigkeit der Erdwälle. Eine gespenstische Atmosphäre.

    Weniger problematisch ist der vierte Grenzübertritt. Die blau-gelb-rote Fahne und das große ROMANIA-Schild sind mir gut vertraut. Zum elften Mal passiere ich nun die rumänische Grenze. Hier wechseln Zeitzone, Währung und Straßenzustand. Die Uhr wird um eine Stunde vorgestellt, in Minuten werden wir zu Lei-Millionären und wenige hundert Meter hinter dem Schlagbaum beginnen sofort die Schlaglöcher. Bis wir uns an die gewöhnen, wird sicher einige Zeit vergehen.

    Unwillkürlich gehen meine Gedanken zurück in die Zeit, als ich mich erstmals aufmachte, jenes Land jenseits der Versorgungsgrenze zu entdecken. Auf frisierten Diamant-Rädern, beladen mit bleischwerer Campingausrüstung Made in GDR und jeder Menge an Ängsten und Vorurteilen ging es damals von Budapest durch Rumänien ins bulgarische Varna. Henry und Uwe, zwei Freunde aus der evangelischen »Jungen Gemeinde«, begleiteten mich dabei.

    Mit Henry war ich ein Jahr zuvor in Thüringen und dem Harz unterwegs. Uwe war zur selben Zeit in Rumänien und berichtete anschließend von wildromantischen Karpatenpässen, deutschen Dörfern und herzlicher Gastfreundschaft in Siebenbürgen. Keine Frage, da wollte ich auch hin.

    Damals ahnte ich nicht, dass daraus einmal eine Leidenschaft erwachsen sollte, die mich im Laufe der Jahre über 10.000 Kilometer weit, in fast jeden Winkel zwischen Bukowina und Walachei, Banat und Donaudelta führen würde. Rumäniens wilde Schönheit sucht in Europa ihresgleichen. Sein Volk versucht sich, trotz wirtschaftlicher und politischer Probleme, seine Traditionen zu bewahren.

    Jetzt bin ich also wieder in diesem Land und auf dem Weg in die grenznahe Industriestadt Oradea versuche ich Jan auf das Schlimmste vorzubereiten. »Das ist die dreckigste und chaotischste Stadt, die ich je gesehen habe. Sollten wir das überleben, brauchen wir nichts mehr zu fürchten.« »Nun übertreib mal nicht«, entgegnet Jan mit verhaltenem Optimismus, »so schrecklich wird’s schon nicht werden.« Wenn der wüsste! Gut, wir waren 1997 in Vorbereitung der Weltreise ja schon zusammen in Rumänien und Jan hat bei seinen vielen Reisen auch so einiges gesehen, aber Oradea habe ich wirklich in übelster Erinnerung.

    Wie auch immer, den Bahnhof finden wir erstaunlich schnell. Von hier soll es morgen auf dem Schienenweg ins Landesinnere gehen. Die junge Dame am Schalter ist nicht nur ausgesprochen hübsch, sie spricht wider Erwarten auch ausgezeichnet Englisch. Das macht den Fahrkartenerwerb um einiges leichter, ja sogar zu einem netten Vergnügen. Früher war das oft eine vormittagfüllende Prozedur, deren Erfolg von der Qualität unserer Gestensprache und dem guten Willen der Beamten abhing.

    Heute ist in wenigen Minuten eine ideale Verbindung gefunden und wir können uns bald der Suche nach einem Nachtquartier widmen. Nacheinander klappern wir ein paar Hotels in der Altstadt ab. Hier traue ich meinen Augen kaum. In sozialistischer Zeit wurde der Charakter der Stadt durch Alleen von Plattenbauten völlig zerstört. Diese zieren leider auch heute noch den größten Teil der City. Doch offensichtlich beginnt man auch hier langsam zu begreifen, dass Häuser nicht nur zum Schlafen da sind. Nach und nach wird versucht, wenigstens die alten, meist völlig heruntergekommenen Altbauten im historischen Stadtkern zu sanieren. Selbstverständlich fehlt wie überall im Land das notwendige Geld. Vieles ist improvisiert oder bleibt Stückwerk, doch die Stadtväter geben sich wenigstens Mühe.

    Der »Vulturul Negru« (»Schwarzer Adler«) ist jedoch bei der »Gefiederpflege« offensichtlich noch nicht an der Reihe gewesen. Dafür reichen aber auch 30 DM für zwei Betten plus Frühstück. Als radlerfreundliche Zugabe sind die Räume des einstigen Luxusetablissements so überdimensioniert, dass wir mit den Rädern bequem vom Flur bis direkt ans Bett fahren und diese dort sogar parken können. Besser geht es nicht.

    Nach dringend notwendiger Ganzkörperpflege wollen wir den Tag mit einem Besuch der gastronomischen Einrichtungen beschließen. Dabei wartet Oradea mit noch einer Überraschung auf: »Kelly’s« Irish Pub. Ich glaub es kaum! Die Kneipe ist rappelvoll und entsprechend schlecht ist die Luft. Das Bier ist gut und billig, die Musik live und laut, aber dafür gratis. Es dauert nicht lange, bis sich, mehr aus Platzmangel, ein paar Jugendliche zu uns an den Tisch gesellen. Zunächst scheuen sie sich, »die zwei aus dem Westen« so einfach anzusprechen. Kurzerhand laden wir die jungen Leute zu einem frisch gezapften Zungenlöser ein. Das »Guinness« wirkt Wunder. Nach einer halben Stunde ist das Eis geschmolzen und es wird sich unterhalten, was Englisch, Hände, Füße und notfalls Papier und Bleistift hergeben.

    Gegen Mitternacht schließt der Pub, was unsere neuen Freunde jedoch keineswegs in Verlegenheit bringt. »We can go to another one. It’s not far from here«, laden sie uns ein ihnen zu folgen. Tatsächlich braucht es für den Umzug nur ein paar Minuten.

    Genauso lange dauert es aber auch nur, bis wir die neue Lokalität fluchtartig wieder verlassen. Schon am Eingang hämmern uns Mörderbässe in die Magengrube. Drinnen zucken Laserblitze durch dicke Rauchschwaden. Der »Pub« entpuppt sich als der angesagteste Techno-Schuppen der Stadt. »Sind wir hier wirklich in Rumänien?«, brülle ich Jan ins Ohr. »Wie? Was?« Auf seine Antwort muss ich warten, bis wir uns durch die tobende Masse wieder ins Freie gedrängelt haben. »Was wolltest du wissen? Ich hab kein Wort verstanden. Das ist ja Wahnsinn.« »Ist schon gut. Ich kann nur kaum glauben, dass wir hier in Rumänien sind. Mit der Radaubude dürften die inzwischen bestimmt Westniveau erreicht haben.« »Ganz sicher, aber wir sollten jetzt trotzdem besser den Heimweg antreten. Hier haben wir nichts verloren. Die tanzen hier in einer anderen Altersklasse. Abgesehen davon ist meine Müdigkeit auch schon auf Westniveau angekommen.«

    Besonders der weibliche Teil unserer Begleitung scheint etwas enttäuscht darüber, dass ihre neue Vorzeigediskothek bei den zwei Globetrottern wenig Begeisterung auslöst. Aber wie heißt es doch? Wenn es am schönsten ist, soll man gehen. Keine halbe Stunde später liegen wir in unserem »Adlernest«. Was für ein Tag!

    Bahn fahren ist ja im Allgemeinen eine gute und meist überaus entspannende Alternative zum Auto oder Fahrrad. Befindet man sich jedoch auf einer Radtour, sind Zug oder Auto für viele ein lästiges, aber manchmal nicht zu umgehendes Übel. Abgesehen davon sind die sperrigen, sensiblen Drahtesel für alle Schaffner ein rotes Tuch. Jeder überzeugte Radtourie, der seine Urlaubsreise schon mal wegen einer Panne oder Wetterkatastrophe mit der Bahn fortsetzen oder gar beenden musste, kann davon gewiss ein Lied singen.

    Und so belegen auch wir am nächsten Morgen unsere Plätze fast mit einem schlechten Gewissen. Lange unterhalten wir uns darüber, dass dies ganz sicher nicht das letzte Mal sein wird, ja, die gesamte Reise ohne Zug, Bus und Flugzeug überhaupt nicht zu schaffen wäre. Es wird bestimmt noch einige Zeit dauern, bis ich mich daran gewöhnt habe, derlei »Stilbruch« nicht als Schlappmacherei, sondern einfach als einen notwendigen, angenehmen und hoffentlich schönen Teil der Reise anzusehen.

    Solche Gedanken dürften den Beamten der rumänischen Staatsbahn sicher nicht durch den Kopf gegangen sein, als sie uns erklärten, die Räder doch bitte mit ins Abteil zu nehmen. Vielmehr wird die Angst, die Luxusrenner der beiden Ausländer könnten im unbewachten Gepäckabteil den Besitzer wechseln, im Vordergrund gestanden haben. Uns ist es egal. Wir haben »Terry« und »Nelly« sowieso lieber in unserer Nähe.

    Die 250 Kilometer lange Fahrt gehört dann zu den schönsten, die ich je erlebte. Langsam und gemütlich schnauft die alte Lok durch die tiefen Täler und über die schneebedeckten Hänge des Westgebirges. Hin und wieder eine Streusiedlung oder ein verschlafenes Bergdorf. Aus den Schornsteinen der einfachen Holzhäuser steigt Rauch in den tiefblauen Himmel. Träumend schaue ich aus dem Fenster und genieße die wohlige Wärme des Abteils. Eine friedliche, märchenhafte Winterlandschaft zieht an den Fenstern vorbei.

    Sechs Stunden später erreichen wir pünktlich Razboieni und folgen von hier dem Lauf des Mures. Die Straßen gleichen nun eher lang gestreckten Streuselkuchen, auf denen das Radeln zu einem Geschicklichkeitsfahren wird. Dafür hält sich aber der Autoverkehr in Grenzen. Alles Gute ist eben nie beisammen.

    Da wir in Sachen Zeltplatzsuche ja bereits ein paar Erfahrungen sammeln durften, fangen wir heute schon sehr zeitig an, nach einem geeigneten Fleckchen für die Nacht zu suchen. Doch auch diesmal wird es schneller dunkel, als sich etwas Brauchbares finden lässt. Beinahe eine Stunde fahren wir mit eingeschaltetem Licht.

    Sollte uns das Glück ausgerechnet jetzt verlassen? Dann, etwas abseits der Straße auf einem Hügel ein schwaches Licht, das aus einer kleinen Kirche in die Dunkelheit scheint. Die letzte Chance! Auf dem holprigen Feldweg kommt uns eine schwarz gekleidete Gestalt entgegen. Ich muss etwas schmunzeln, als wir im Licht der Scheinwerfer einen bärtigen Mönch erkennen. Mit der internationalen Geste für »Wo können wir einen Platz für unsere müden Häupter finden?« geben wir ihm unser Anliegen zu verstehen. Fröstelnd deutet er auf das große, hölzerne Tor hinter ihm und verschwindet rasch im Dunkel.

    Die kleine Kirche ist Teil einer großen, sehr neu und gepflegt wirkenden Klosteranlage. Zu unserem Erstaunen wird die Pforte nicht von einem Mönch, sondern von einer Nonne geöffnet. Mit einem freundlichen Lächeln bittet sie uns einzutreten. Obgleich es schon spät ist, reichen uns die jungen Frauen sogar noch eine bescheidene, warme Mahlzeit. Nur mit dem Organisieren unserer Unterbringung scheinen die Ordensschwestern zunächst etwas überfordert. Nach einigem Hin und Her einigen sie sich schließlich, die »Fahrradpilger« in das Gästezimmer zu stecken.

    Der Kachelofen wird geheizt und verbreitet bald gemütliche Behaglichkeit. Eingemummt in meinen Schlafsack lese ich im Kerzenschein noch einmal in meinem Losungsheftchen. In diesem Kalender der Herrnhuter Brüdergemeine stehen für jeden Tag ein ausgeloster alttestamentlicher Bibelvers und ein passender Lehrtext aus dem Neuen Testament. Darin heißt es für den heutigen 21. März 1999: »Wer da bittet, der empfängt; und wer da sucht, der findet; und wer da anklopft, dem wird aufgetan« (Matthäus 7,8). Sicher ist dieses Büchlein kein Horoskop, ich freue mich aber trotzdem, wie diese Worte wiedergeben, was wir beide gerade erlebt haben. Vor zwei Stunden noch mutterseelenallein auf finsterer Landstraße und nun ein eigenes, warmes Zimmerchen.

    Vom nächsten warmen Zimmer trennen uns schätzungsweise 100 Kilometer. Dann

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