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Der Gelegenheitskritiker
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eBook260 Seiten3 Stunden

Der Gelegenheitskritiker

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Über dieses E-Book

Was Sie schon immer über Literatur wissen wollten und nicht zu fragen wagten.

K. ist ein Gelegenheitskritiker, einer aus der zweiten Reihe, der aber für eine Reihe namhafter Rundfunkanstalten über wichtige Bücher schreibt. Die Gespräche, die er mit Redakteuren über die Neuerscheinungen von Martin Walser, Martin Mosebach, Thomas Hettche, Fritz J. Raddatz und vielen anderen führt, sind unverblümt, witzig und direkt. Doch gleichzeitig ist K. zunehmend mit Überlebensfragen beschäftigt und zieht von Stuttgart nach Leipzig, da die Mieten günstiger sind. Doch der Kampf um die Sendeplätze für Buchkritiken wird härter … Ist K. selbst unfähig zur Fortsetzung seiner Arbeit geworden, oder … ist er ein Opfer einer Buchkritik, die sich selber abschafft?
SpracheDeutsch
HerausgeberResidenz Verlag
Erscheinungsdatum19. Sept. 2017
ISBN9783701745579
Der Gelegenheitskritiker
Autor

Klaus Siblewski

Klaus Siblewski, geboren 1950 in Frankfurt am Main, lebt heute in Holzkirchen bei München. Er ist Verlagslektor, Autor und Professor am Institut für Literarisches Schreiben und Literaturwissenschaft an der Universität Hildesheim. Wenn er selbst am Schreibtisch sitzt, braucht er unbedingt frischen, sorgfältig zubereiteten Tee (der nie getrunken und regelmäßig weggegossen wird), viele Bleistifte, wovon keiner dem anderen gleichen darf (außer den kleinen IKEA-Bleistiften), und an den Füßen feste solide Schuhe (als müsste er zu jeder Zeit das Haus verlassen können). 2005 hat er die Deutsche Lektorenkonferenz gegründet und bis 2015 geleitet. Er hat u.a. die Werke von Ernst Jandl, Peter Härtling und Peter Turrini herausgegeben. Zuletzt sind von ihm erschienen: Die diskreten Kritiker. Was Lektoren tun (2005) und die Bände Wie Romane entstehen (2008, gemeinsam mit Hanns-Josef Ortheil), Wie Gedichte entstehen (2009, gemeinsam mit Norbert Hummelt), Wie Dramen entstehen (2012, gemeinsam mit John von Düffel) und Der Gelegenheitskritiker (2017).

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    Buchvorschau

    Der Gelegenheitskritiker - Klaus Siblewski

    Torso

    1. Der Umzug

    Kein Tag war in den letzten Jahren vergangen, an dem er sich nicht an einen anderen Ort gewünscht hätte. Er sah sich mit seinem Schreibtisch in einer Wohnung in den Bergen oder am Meer sitzen. Der Schreibtisch stand vor einem Fenster, und er saß an dem Schreibtisch und war in Gedanken. Diese Szenerie war in milchiges Licht getaucht, Genaueres ließ sich nicht erkennen (wo waren die Berge, wo das Meer?). Er wusste auch nicht genau, was er an diesem fernen Schreibtisch arbeitete – diese Arbeit ging ihm aber flüssig von der Hand, dafür hatte er ein vages, sich aber immer wieder einstellendes Gefühl. Diese Schreibtisch-Halluzination dauerte nur wenige Momente. Für eine kurze Zeit ging es ihm danach besser.

    Wenn er darüber nachdachte, wann er sich mit seinem Schreibtisch in eine andere Weltgegend träumte, dann stellte sich diese Phantasie immer unterwegs ein. In der weitläufigfinsteren Zwischenwelt am Stuttgarter Bahnhof zum Beispiel, oder auf dem Weg zur neuen Bibliothek (ein Monstrum), oder von der neuen Bibliothek zurück zu seiner Wohnung sah er sich häufig weit weg von Stuttgart arbeiten. Oder in der Sauna. Dort ging er gerne hin, wollte entspannen, sobald er aber ins Schwitzen geriet und sein Puls sich beschleunigte, sah er sich an einem Schreibtisch weit weg von seiner Stuttgarter Wohnung sitzen. Oder wenn er, was ausgesprochen selten vorkam, eine kleine Wanderung die Schwäbische Alb hinauf machte: Kaum wurde der Weg etwas steiler und ging sein Atem etwas lauter, dachte er sich an einen Schreibtisch an einen anderen Ort als die Schwäbische Alb. Nur wenn er an seinem Schreibtisch saß (das war die meiste Zeit der Fall), sah er sich mit seinem Schreibtisch nie woanders. Was das bedeutete, hatte er keine Ahnung und verspürte aber auch keinen Antrieb, das in Erfahrung zu bringen. Auch auf die Idee, umzuziehen und seinen Schreibtisch tatsächlich in einer Wohnung am Meer oder in den Bergen aufzustellen, wäre er zuallerletzt gekommen. Ihn beschäftigten andere Themen.

    Bald aber war es dann doch so weit. Er würde mit seinem Schreibtisch an einen anderen Ort ziehen und ihn dort aufstellen. Er würde von Stuttgart nach Leipzig umziehen, seinem Schreibtisch in einer Wohnung in Leipzig einen anderen Platz geben und an diesem Ort seine Arbeit fortsetzen. Wie eine Erfüllung seiner Träumereien kam ihm dieser Umzug nicht vor, er konnte aber auch nicht sagen, dieser Umzug habe mit seinen Träumereien nichts zu tun. Er war gespannt, was in Leipzig geschehen würde, und er hatte sich vorgenommen, viel Sorgfalt auf die Suche nach einem guten Platz für seinen Schreibtisch zu verwenden.

    Vor wenigen Wochen hätte er noch jeden erstaunt angesehen, der ihn gefragt hätte, ob er demnächst von Stuttgart wegziehe (hier ist er sogar aufgewachsen, in Degerloch). Er hätte entschieden den Kopf geschüttelt und die Gegenfrage gestellt, weswegen er aus Stuttgart wegziehen sollte (es gab für ihn tatsächlich keinen einzigen Grund). Und dass Leipzig die Stadt sein würde, in die er zöge, lag ebenfalls außerhalb seines Vorstellungsvermögens. Weit außerhalb seines Vorstellungsvermögens hätte er gesagt, wäre er gefragt worden.

    Stuttgart aber gehörte der Vergangenheit an (er konnte bald von der Stuttgart-Phase in seinem Leben sprechen). Jetzt stand er zwischen dem Umzugsgut in seiner neuen Wohnung in Leipzig und überlegte, wie er weiter vorgehen wolle, damit er so bald als möglich die Arbeit an seinem Schreibtisch wieder aufnehmen konnte. Viel Zeit durfte er sich zum Ankommen in der neuen Wohnung nicht nehmen, er musste Geld verdienen. Außerdem würde er sich bald ausgehöhlt und blöde vorkommen, wenn er sich nicht mit Büchern beschäftigen und an seinem Schreibtisch sitzen konnte. Im Nichtstun lag eine unbenennbare und nicht zu zähmende Gefahr. Bis er sich aber wieder an seinen Schreibtisch setzen und mit seiner Arbeit beginnen und sie fortsetzen konnte, musste noch einiges geschehen.

    Sein Vorgänger hatte die Wohnung in eine bunte Höhle verwandelt. Die Wände waren dunkelrot und dunkelblau gestrichen. In der Küche hatte er die Farbe Kanariengelb eingesetzt, von der Fußleiste an aufwärts bis zur Decke und über die gesamte Decke hinweg. Garniert hatte er das Gelb mit lila Tulpen, die aus dunkelgrünen Schäften herausragten, und bei der Verteilung der Blumenmotive auf den Wänden und an der Decke peinlich darauf geachtet, jeden Eindruck einer Symmetrie zu vermeiden. Er hatte kurz überlegt, ob er die Wohnung unrenoviert lassen und, ebenfalls eine Neuerung, sein Leben in starken Farben weiterführen sollte. Aber selbst bei Sonnenschein musste er starke Glühbirnen einsetzen, sonst war vor allem sein Arbeitszimmer (dunkelblau, wohin er blickte) nicht hell zu bekommen. Wenn er ein Buch ohne den Einsatz von Elektrizität lesen wollte, dann musste er sich ans Fenster stellen und die aufgeschlagenen Seiten schräg Richtung Hinterhof neigen. Und ebenso kurz hatte er überlegt, was geschähe, wenn er das Gelb der Küche beibehielte. Er stellte sich mit einer Tasse frisch zubereitetem Kaffee in die Mitte des Raumes und beobachtete, was mit ihm geschah. Dieses Gelb saugte jeden halbwegs brauchbaren Gedanken aus seinem Hirn (und auf die Dauer auch den Kaffee aus seiner Tasse). Gestrichen musste die neue Wohnung werden, bis in die entferntesten Winkel (die Toilette war bisher in sattestem Schwarz gehalten).

    Im nächsten Baumarkt kaufte er das grellste Weiß, das er unter den Weiß-Varianten der Wandanstriche finden konnte. Nach dem dritten Anstrich bei den dunkelroten und dem vierten bei den dunkelblau (schwarz) angelegten Wänden war es ihm gelungen, dem Weiß zu erkennbarem Durchbruch zu verhelfen (nur an den Fußleisten konnte man noch an einigen Stellen sehen, in welchen Farben die Wände zuvor gehalten gewesen waren – aber das störte ihn nicht). Er ließ sich nach seinem unermüdlichen Streichen auf einen orientierungslos im Raum stehenden Sessel nieder, betrachtete die Wände und feierte sich.

    Er hätte es nicht vermutet, aber mit Farbe zu arbeiten lag ihm. Die Farbe an den Wänden hielt, damit hatte er nicht unbedingt gerechnet. Außerdem hatte das frische Weiß der Wände die Wohnung regelrecht geweckt und aus ihrem Dämmer gerissen. Darüber freute er sich. Und noch mehr freute er sich darüber, dass er hier in seinem Sessel zum ersten Mal daran denken konnte, dass der Umzug einmal vorbei sein würde und er mit der Arbeit wieder beginnen könnte. Das verbesserte seine Stimmung nochmals.

    An seine Arbeit konnte er aber zunächst nur denken. Es fehlten vor allem Bücherregale. Sie mussten beschafft werden. Er hatte einmal eine Theorie entwickelt, Bücherregale stellten die transzendentale Dimension und Fortentwicklung der Arbeit am Schreibtisch dar. Der Schreibtisch war der Ort des Realen, das Bücherregal fasste das Mögliche, geronnen zur Form des Buchs. Diese Theorie hatte er wie so viele seiner Ideen und Einfälle nicht in einem Aufsatz ausformuliert: Jetzt musste er dem Möglichen eine reale Gestalt geben. Er lachte kurz auf über diese Unsinnsformulierung, sie belebte ihn. Vor die weißen Wände mussten Bücherregale montiert werden, logischerweise und in klarer Konsequenz seiner Malerarbeiten: auch in Weiß.

    Die Bücherregale in Stuttgart hatten ein Einsehen. Sie verloren ihren Halt, als er sie von den Büchern befreite, und fielen in sich zusammen. Den ungeordneten Haufen Holz konnte er nur noch dem Sperrmüll übergeben.

    Gerne hätte er eine Idee weiterverfolgt, die ihm gerade in den Sinn kam und die besagte – Bücher trügen sich selber. Diese Idee erlaubte keinen anderen Schluss, als dass Bücher nicht einmal die klapprigen Stuttgarter Gestelle zu ihrem Halt benötigten, sondern ausschließlich andere Bücher. Daraus konnte er wiederum den Schluss ziehen, dass er sich von Bücherregalen emanzipieren könne und keine in seiner frisch gestrichenen Leipziger Wohnung aufstellen müsse … Leider war das nur eine haltlose Theorie.

    Vielleicht musste er seinen Büchern auch nur Holz anbieten, und die Bücher in Verbindung mit Holz würden regeln, was zu regeln war, damit sie geordnet an den Wänden stünden … Aber auch diese Überlegung, sagte er sich, sollte er besser nicht weiter verfolgen oder erproben, inwieweit sie als zutreffend bezeichnet werden könnte. Wenn er sich endlich zum ernsthaften Nachdenken entschloss, dann war die nächste Frage, die er entscheiden musste: kaufen oder bauen. Sollte er Bücherregale kaufen oder sie selber bauen? Die Antwort auf diese Frage war schnell gefallen: bauen. Sein Kontostand schloss andere Alternativen aus, aber auch seine gut gepflegte studentische Mentalität. Bücherregale baute man sich selber.

    Diese Entscheidung hatte zur Konsequenz: Er musste wieder zum Heimwerkermarkt fahren und sich dort mit den erforderlichen Materialien eindecken.

    Zuvor aber war Maß zu nehmen. Dazu musste er seinen Sessel verlassen, aufstehen und sich einen kleinen Zettel plus Stift besorgen. (Die Entwicklungsgeschichte der Technik aus der Perspektive der Erfindung des Notizzettels neu zu schreiben, wäre sicher wieder eines seiner bahnbrechenden, leider unrealisiert bleibenden Projekte.) Er hatte Maß zu nehmen, auf dem Zettel die Längen, Höhen und Breiten seiner Bretter zu notieren. Dann musste er sich überlegen, wie viele Dübel, Winkel und Schrauben (und welche Sorten und Größen) er benötigte. Auch das musste notiert werden.

    Am nächsten Morgen fuhr er mit diesem Zettel in der Tasche los. Hin mit der Straßenbahn, zurück mit einem Wagen. An den Transport von Holz und Baumaterialien hatte er nicht gedacht. Zum Glück stand vor dem Heimwerkermarkt ein kleiner Pavillon. Dort war ein kleines Büro einer Autovermietungsgesellschaft untergebracht und dort mietete er sich auch ein Auto, damit er seinen Einkauf zurück in die Wohnung transportieren konnte.

    Und wie verheißungsvoll waren seine Aussichten. Zum ersten Mal in seinem Leben könnte er alle seine Bücher in Regalen unterbringen. Als Student und danach hatte er Bücher immer nur aufeinandergetürmt, wo er Platz fand. Die Wände hier in der Leipziger Wohnung hatten eine sagenhafte Höhe von 3,30 Meter und alleine im Flur gab es eine Wand in der Länge von 2,60 Meter. Für ihn und die Verhältnisse, aus denen er kam: unendliche Stapelflächen für Bücher.

    In seiner letzten (und bisher einzigen) Stuttgarter Wohnung war das Fassungsvermögen für Bücher bald nach Einzug erschöpft gewesen, und er musste sich andere Schichtungsmodelle überlegen.Vor den Regalen ließen sich Bücher ablegen und aufeinandertürmen. In der ersten Zeit achtete er noch auf die Anfangsbuchstaben der Namen der Autoren. Er wollte sich an die alphabetische Reihung der Bücher nach den Familiennamen der Autoren in den Regalen halten und stellte die neuen Bücher ungefähr in die Zonen der Anfangsbuchstaben ihrer Autoren. Später gaben die Formate der Bücher den Ausschlag, für sie musste ein Platz gefunden werden, wo sich einer bot. Und noch später verwandelte er die gesamte Wohnung in ein Bücherlager. In der Küche schraubte er Bretter an die Wände. Krimis und Bücher mit erkennbarem Spannungselement, dachte er, wären dort gut aufgehoben. Während er eine Minestrone kochte, könnte er Krimis lesen, aber erstens las er keine Krimis (warf sie auch nicht weg), zweitens hatte er in der Küche nie die Muße zum Lesen von Büchern gleichgültig welcher Sorte (selbst Kochbücher betrachtete er dort nur von außen, blätterte aber nie in die Bände hinein) und drittens waren bald keine Krimis mehr in der Küche zu finden, selbst wenn er welche gesucht hätte, weil auch Romane und Sachbücher in die Küche wanderten. Selbst unter sein Bett hatte er kleine Büchertürme geschoben. Sie verliehen dem Bett Stabilität, aus welchen Büchern diese Stapel aber bestanden, wusste er nicht (mehr) und hoffte, dass ihn nie jemand danach fragen würde. Diese Frage zu stellen, untersagte er auch sich selber.

    Eine Woche war mit Messen, Sägen, Dübeln, Schrauben vergangen. Ein letztes Mal musste er beim Bau der Regale den Kopf über sich schütteln. Er betrachtete die Schrauben in seinen Händen, mit denen er Seitenträger in den Wänden befestigen wollte. Länge und Dicke der Schrauben waren von Ausmaßen, mit denen er das Mauerwerk sprengen und spielend in die nächste Wohnung gelangen konnte. Er ging durch die Wohnung und schaute, welche Wände an eine Nachbarwohnung angrenzten, und kam auf zwei. Er überlegte kurz. Wenn er seinen Regalen mit passenderen Schrauben Halt geben wollte, dann hätte er nochmals in den Heimwerkermarkt fahren müssen. In seinem Leben würde er aber nie mehr einen derartigen Markt besuchen, das hatte er sich geschworen. (Neues Projekt: Säge und Buch. Wie das Talent für Praktisches die Lesefähigkeit zerstört.) Diesen Schwur hielt er aufrecht. Er würde es mit seinen Schrauben riskieren. Außerdem war bei nur zwei Wänden die Gefahr nicht so groß, dass die Nachbarn von den Durchbrüchen (falls es dazu kam) etwas bemerkten und protestierten. Auf Kleinigkeiten dieser Art wollte er ohnehin keine Rücksicht mehr nehmen.

    Nachdem keine Schrauben mehr vor ihm lagen, jubelte er. Die Nachbarn (taubstumm, tot, beide auf dem Weg nach Stuttgart?) verhielten sich auffällig still. Jetzt war ein kleines Fest angesagt. Champagner (zu teuer, leider), Sekt? Sekt sollte es sein. Er zog sich seine Jacke an, stürmte die Treppen hinunter (bisher war ihm nicht aufgefallen, dass dort ein schöner, kaum abgetretener Sisalläufer lag), rannte durch den Treppenflur hinaus auf die Straße, blieb dort abrupt stehen. Er musste kurz überlegen, wo gab es hier Sekt zu kaufen? In einem Supermarkt (Weinhandlungen waren zu teuer). Wo ein Supermarkt seine Pforten fünfzehn Stunden täglich geöffnet hielt, wusste er: erst nach rechts, dann wieder rechts, an der nächsten Kreuzung die Karl-Liebknecht-Straße (an die Straßennamen musste er sich erst gewöhnen) nach links (glücklicherweise nicht in Richtung Baumärkte). In dem Supermarkt musste er erst durch eine kleine Schleuse mit Blumen rechts und links, dann an den Kassen vorbei nach links und schon stand er in der ihm liebsten Abteilung des Supermarkts: Flaschen jedweder Größe und gefüllt mit gelegentlich sogar wohlschmeckenden Inhalten (aber darauf kam es nicht an) standen ordentlich aufgereiht vor ihm.

    Das Fest war kurz. Er stürzte das erste Glas Sekt hinunter. Er liebte dieses erste Glas, lauwarm, kalt – das machte keinen entscheidenden Unterschied. Jedes weitere Glas schmeckte abgestandener und fader als das davor. Immerhin hatte er den Umzug von Stuttgart nach Leipzig geschafft. Er hatte sich und sein Leben vom Südwesten Deutschlands in den Nordosten transferiert, und diese Überführung war geglückt. Wann, wenn nicht jetzt, durfte er sich eine etwas ausgelassenere Stimmung erlauben?

    Aus der Wohnung in Stuttgart wäre er nie ausgezogen, warum auch. Er besaß zwei Räume zum Leben (ein Bekannter, er schrieb seit dem Ende des Studiums ebenfalls Kritiken, lebte im Souterrain), eine Miniaturküche und ein Duschtoilettenbad. Angaben zu den Größenverhältnissen der Räume, insbesondere zu Küche und Bad, verboten sich (immerhin konnte er in Küche und Bad aufrecht stehen). Für ihn war diese Zweizimmerwohnung in der Stuttgarter Innenstadt ein Luxus, den er der Arbeit als Rezensent abtrotzte. Die Wohnung lag ruhig, er konnte seine Arbeit von einem Zimmer in das andere verlagern. Neu eintreffende Fahnen und Bücher las er gerne im Sessel, der im Zimmer mit seinem Bett stand. Auf den kleinen runden Tisch neben dem Sessel konnte er abends ein Glas stellen und dieses Glas mit Rotwein befüllen. Seine Lust zum Teetrinken war dann verbraucht, und ein Wechsel in den Getränkesorten dringend angezeigt. Weswegen hätte er aus dieser Wohnung ausziehen sollen? Der Bücher wegen oder weil er an seinem Schreibtisch auch bei grellstem Sonnenschein nur mit einer eingeschalteten Lampe arbeiten konnte? Diese Gründe waren für ihn keine. Sie zeugten von einem Luxusdenken, das er nicht besaß und sich mit größtem Mutwillen auch nicht zulegen konnte.

    Trotzdem musste er aus der Wohnung ausziehen. In seiner Sponti-Phase zu Anfang des Studiums hätte er gesagt: Das internationale Finanzkapital hätte sich gegen ihn verschworen. Etwas nüchterner betrachtet, stellten sich die Verhältnisse ähnlich, wie er als Sponti gedacht hatte, dar. Er konnte die Miete nicht mehr bezahlen. Die Mieten der Wohnungen in Stuttgart hatten im Allgemeinen ein existenzvernichtendes Niveau erreicht (davon hörte er immer wieder), und die Miete speziell in seinem Fall mittlerweile auch. Er hatte sich, als er die letzte Mieterhöhung per Brief mitgeteilt bekam, in der Wohnung umgesehen und sich gefragt, wer auf dieser Welt auch nur ein einziges Argument für eine Mieterhöhung dieser in Sepiabraun versinkenden Hasenställe finden konnte. Ihm fiel niemand ein, außer den Vertretern des internationalen Finanzkapitals.

    Danach hatte er es mit Trotz (getarnt als das Inanspruchnehmen ihm zustehender Rechte) versucht. Dieser Trotz nahm folgende Gestalt an: Er hatte gehört, er könne sich Vergleichsmieten besorgen, und mit diesen Summen zur Wohnungsbaugesellschaft gehen und von ihr fordern, die Miete wieder zu senken. Bei dieser Überlegung blieb es aber. Ihm war es ein Rätsel, wo er diese Vergleichsmieten finden sollte (im Nachbarhaus klingeln und fragen: Könnten Sie mir einmal die Höhe Ihrer Mietzahlungen sagen?, und im Anschluss daran zur Wohnungsbaugesellschaft gehen und ihr sagen, also mein Nachbar vom Haus gegenüber zahlt eine viel niedrigere Miete?) Dieses Vorgehen schien ihm wenig aussichtsreich zu sein.

    Den Aufstand zu proben, dazu war er auch nicht geschaffen. Klar war nur, die Miete überschritt sein Budget.

    Für kurze Zeit versuchte er dieser Einsicht auszuweichen und den Beleidigten zu geben. Er beschallte, sagte er sich ein ums andere Mal, maßgebliche Teile der Bundesrepublik Deutschland mit seinen Überlegungen zur Literatur. Ein Kenner wie er musste doch in die Lage versetzt werden (von wem?), eine aus Abstellkammern aneinandergeschichtete Zweizimmerwohnung in der Stuttgarter Innenstadt zu finanzieren. Das stand ihm zu, und wenn er auf eine Weise alimentiert wurde, dass er diese Behausung nicht bezahlen konnte, war das ein Skandal. Das musste die Wohnungsbaugesellschaft einsehen und daraus die Konsequenzen ziehen – die darin bestanden: Hier zu wohnen, war ein Verdienst (wahrscheinlich sogar ein Recht – er konnte im Augenblick den Schweregrad seiner Wohnberechtigung nicht exakt fassen), das ihm der Vermieter zugestehen musste. Alles andere war ein Beleg, wie literaturvergessen, kulturlos und mit größter Bildungsarmut geschlagen diese Gesellschaft war. Auf diese Weise konnte er sich bestens in Rage reden. Er fühlte sich dann von einem ungeheuren, jedes Gegenargument zermahlenden Gerechtigkeitsempfinden durchströmt.

    Wenn er allerdings wieder etwas nüchterner wurde und vor allem, wenn er an einem Bankomaten vorbeiging und dort den Stand seines Kontos hätte abrufen können, stellte er fest: Er konnte sich noch so insbrünstig zu den Gerechtesten aller Gerechten zählen und die Vermieter Deutschlands aus der Hölle verjagen, weil sie es nicht einmal wert waren, dort ihre Sünden abzubüßen – aus seiner Wohnung musste er ausziehen.

    Nach einer Veranstaltung im Stuttgarter Literaturhaus war er Zeuge des Geplauders zwischen Kollegen geworden. Im italienischen Restaurant unter dem Literaturhaus hatte einer von ihnen von Leipzig geschwärmt. Ihn hatte das erstaunt. Dieser Kollege lebte in Stuttgart genauso lange wie er. Sie waren sich sogar während des Studiums bei den Germanisten über den Weg gelaufen. In Leipzig gäbe es Altbauwohnungen von einer derart beeindruckenden Altbauwohnungshaftigkeit (Zimmergrößen, Raumhöhen, Stuckreichtum und knarrendes Parkett, wohin man schaute), Stuttgart könne da nicht mithalten. Trotz ihrer Pracht seien diese Wohnungen zu bezahlen. Eine

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