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Lebensfreude jetzt!: In 30 Tagen zu neuer Lust am Leben
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eBook263 Seiten2 Stunden

Lebensfreude jetzt!: In 30 Tagen zu neuer Lust am Leben

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Über dieses E-Book

- Mehr Lebendigkeit und Fröhlichkeit, wo Erstarrung und Stillstand dominieren
- Mehr Fließen und Ruhe, wo Hyperaktivität und innere Leere herrschen
30 Tage genügen, um dieses Ziel zu erreichen, wenn man sich auf die Geschichten und Botschaften, die Ines Draxl vermittelt, mit Geist und Seele einlässt.
Übertriebener Perfektionismus, die Angst zu scheitern, negative Gedankenmuster, mangelndes Selbstvertrauen etc.: Damit machen sich viele Menschen das Leben schwer. In 30 wunderbar einfühlsamen Geschichten geht Ines Draxl diese und viele weitere Konfliktthemen an. Jeder Geschichte folgt eine Botschaft, eine pragmatische Anleitung zur Selbsthilfe. Dieses Buch spricht Geist und Seele an. Lebensfreude und Lebenslust: Das kann gelingen - jetzt!
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum7. Mai 2014
ISBN9783701505715
Lebensfreude jetzt!: In 30 Tagen zu neuer Lust am Leben

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    Buchvorschau

    Lebensfreude jetzt! - Ines Draxl

    1. Tag

    Es kommt oft anders – und das ist gut so

    Der Schlüssel des Herrn Hofrat

    Es war einmal ein älterer Herr, dem die Tatsache, dass er eigentlich bereits ein älterer Herr war, gar nicht aufgefallen war bis zu dem Zeitpunkt, als sich sein Leben zu verändern begann. Nachdem die Tage viele Jahre hindurch in gehorsam gleichbleibender Unauffälligkeit dahingegangen waren wie die Beine eines geduldigen, seit Jahren friedlich resignierten Kutschpferdes, tat sich auf einmal von einem Moment auf den anderen ein Hindernis auf. Die krisenuntauglichen Pferde scheuten und des Hofrats Lebenskutsche wurde völlig aus der Bahn geworfen. Was war geschehen?

    „Gasgebrechen, war die lakonische Auskunft bei der Hausverwaltung. In einem kurzen Telefonat erfuhr der ältere Herr das Ausmaß des „Gebrechens und den Umfang der nötig gewordenen Sanierungsarbeiten im ganzen Haus. Im Winter in einer Altbauwohnung im Hochparterre, ohne Heizung, mit kaltem Wasser, wenn überhaupt? Er begann zu zittern, und nicht nur wegen der beginnenden Kälte in seinem Vorzimmer. Er würde sich für beinahe einen Monat eine andere Bleibe suchen müssen. Erschöpft sank er auf die alte Holztruhe im Vorraum nieder, in der er Fotografien, Postkarten und alte Dokumente seiner Großeltern aufbewahrte. Ob es die kalte, harte Sitzunterlage war, die seine Gedanken in stets noch trostlosere Bahnen führte, oder ob es einfach die über viele Jahre eingeübte Gleichmäßigkeit im Denken war, ist schwer zu sagen, jedenfalls fuhren seine Gedanken, einmal auf ängstliche Geleise gestellt, auf diesen weiter. Kaum hatte er die Vorstellung akzeptieren müssen, seine Wohnung temporär zu verlassen, tauchte unverzüglich ein neues Schreckensbild auf. Er würde ja tagsüber im Büro und somit nicht anwesend sein, wenn die Arbeiter in seiner Wohnung wären. Wie also sein Eigentum, seine Privatsphäre schützen? Schnell wurde ihm klar, er würde die Möbel aus dem Vorraum ins Wohnzimmer schieben müssen und die alte Doppelflügeltür zum Wohnzimmer versperren. Der Gedanke schien dann doch recht tröstlich, dass damit gleich auch der Zugang zum Schlafzimmer mitversperrt war, da dieses nur über das Wohnzimmer zugänglich war. Die Eindringlinge würden somit nur Küche, Bad und Vorraum betreten können. Ein kleines Aufatmen strich über seine gedrückten Lungen und er erhob sich von der Truhe, um in ihrer Tiefe nach einem Schuhkarton zu suchen, in dem er diverse Gegenstände seiner Großeltern aufbewahrte. Tatsächlich fand er ein Stoffsäckchen mit gut 20 alten Schlüsseln. Doch welche Türen, Schränke, Gangtoiletten, Keller- und Dachbodenabteile auch immer diese Schlüssel einst gesperrt haben mochten, keiner, kein einziger von ihnen sperrte die Wohnzimmertür des verzagten Hofrats. Die Zeit drängte, er musste ins Büro, er ergriff also den Schlüssel, der noch am ehesten gepasst hatte, zeichnete den Umriss des Schlosses auf ein Blatt Papier und ging.

    In der Mittagspause eilte er ungeduldig zu einem Altwarengeschäft, an dem er schon so oft vorbeigegangen war. Tatsächlich legte ihm der Besitzer des Ladens ein Tablett mit alten Schlüsseln vor, reagierte jedoch unwillig auf seines Kunden Erklärungen und Vergleiche mit dem mitgebrachten Schlüssel und meinte, auf diese Art werde man nie etwas finden. Doch die Hoffnung des Hofrats richtete sich schon bald auf einen der ihm vorgelegten Schlüssel, der seinem mitgebrachten in der Tat sehr ähnelte, doch an einer Stelle einen längeren Zahn hatte, der verheißungsvoll genau an der richtigen Stelle zu sitzen schien. Es entspann sich ein etwas zähes Gespräch zwischen Kunde und Verkäufer, jeder beharrte auf seiner Position, doch dann geschah etwas Unerwartetes. Der Besitzer des Geschäftes dachte an sein Mittagessen im nahe gelegenen Wirtshaus, wo er am Morgen schon den Tagesteller gelesen hatte. Während er den dampfenden Knödel in seiner Vorstellung mit der Gabel zerteilte und in die sämige Soße schob, verschoben sich auch seine Prioritäten und er sagte ungeduldig: „Wissen S’ was, ich schenk’ Ihnen den Schlüssel. Der Hofrat reagierte verdutzt, also gar nicht, und verfiel in Schweigen. Und da geschah es, die ganze Sache wurde dem Altwarenhändler zu dumm und er sagte recht laut: „Nimm dein’ Schlüssel und geh!

    Der Hofrat stolperte aus dem Geschäft hinaus in die kalte Wintersonne, in jeder Hand einen Schlüssel und in jeder Gehirnhälfte einen Aufruhr. In seinem Kopf hämmerte der Gedanke, wieso ihm dieser Satz so eigentümlich vertraut war. Ein Sonnenstrahl brach sich in der Auslage eines Geschäftes, traf das linke Auge des Hofrats und dieser dachte, wie lange ihm schon nicht mehr aufgefallen war, dass es auch im Winter so hell sein kann. Er beschloss, seine Mittagspause noch ein wenig auszudehnen und schlug das erste Mal seit vielen Jahren den erstbesten Weg ein, ohne Überlegung, wo genau dieser ihn hinführen würde. Er ging durch die Altstadt, die Stimmen der Menschen kamen ihm laut vor, der Himmel sehr blau, er versuchte den Geruch der Luft zu definieren und irgendwann tat er einfach gar nichts mehr. Er kam schließlich an der Stelle vorbei, an der die Fiaker auf Touristen warten, und während er vorüberging, wendete ihm ein Pferd den Kopf zu und scharrte mit dem linken Vorderhuf. Der Hofrat erschrak, und dennoch war es kein unangenehmes Erschrecken. Er fühlte sich auf einmal, als würde das Leben selbst in Gestalt dieses Tieres ihn anbetteln, dass er es endlich wieder sehen möge. Er schob die Schlüssel, die er immer noch mit seinen schon ganz kalten Händen umklammert hielt, in seine Manteltaschen und fand dabei in der rechten Tasche einen Apfel, den er am Morgen beim Verlassen seiner Wohnung als Frühstücksersatz mitgenommen hatte. Es gelang ihm mit einiger Mühe, den Apfel zu zerbrechen und er hielt dem Tier, wie er es vor Ewigkeiten als Kind gelernt hatte, die erste Apfelhälfte ruhig auf der flachen Hand entgegen. Als er bereits die zweite Hälfte nach erneutem Hufscharren darbot und die samtweichen, warmen Nüstern des Pferdes sie geschickt entgegennahmen, fiel ihm plötzlich ein: „Die Bibel, mein Gott, die Bibel!", und er musste sehr lachen. Das Pferd warf den Kopf in die Höhe, vielleicht erschrak es über sein Lachen, vielleicht lachte es aber auch mit ihm.

    Der Hofrat machte sich auf den Rückweg ins Büro. Der Gedanke, ob der Schlüssel nun tatsächlich passen würde oder nicht, war auf einmal völlig belanglos. So oder so würde sich eine Lösung finden. Er hatte mehr geschenkt bekommen an diesem Tag als nur einen alten Schlüssel.

    Er hatte den Schlüssel zu seinem Wohnzimmer gesucht und den zu seinem Herzen gefunden.

    Die Botschaft des 1. Tages

    Erweitern Sie Ihren Blickwinkel

    Geben Sie dem Leben eine Chance, Sie positiv zu überraschen

    Das Leben kann sich noch so bemühen, Ihnen interessante, schöne, herausfordernde, belebende Dinge zu servieren, wenn Sie gerade woanders hinsehen, verpuffen diese Angebote. Haben Sie Mitleid mit dem Leben, mit Ihrem Leben!

    Die wichtigste Frage lautet also: Wo sehe ich eigentlich hin?

    Sehen ist ja etwas automatisch Ablaufendes, zum Glück.

    Doch diesen automatischen Ablauf beeinflussen wir unter Umständen schon. So wie das Sehvermögen durch Verkrampfungen, Verspannungen und Müdigkeit der Augenmuskulatur schlechter wird, so schränken wir auch unsere emotionale Wahrnehmungsfähigkeit ein, wenn wir uns durch Ängste, Enttäuschungen, unerfreuliche Erfahrungen dahingehend einstellen, dass genau von diesen mehr auf uns zukommen wird. Dieser Gedanke ist Ihnen wahrscheinlich schon das eine oder andere Mal gekommen.

    Es gibt allerdings noch einen anderen Weg, seinen Blickwinkel einzuschränken, und der ist bei Weitem nicht so evident. Hier liegt die selbstgewählte Blockierung darin, von einer glücklichen Erfahrung in der Vergangenheit gefangen zu sein. Wer erwartet, dass das Gute, das ihm im Leben widerfährt, in genau derselben Gestalt daherkommt wie schon einmal, wird ewig warten. Während dieses fruchtlosen Wartens wird er die schönen Angebote des Lebens nicht als solche erkennen. Er hat sie ja nicht in seinem Erwartungsfilter.

    Es kommt im Leben immer wieder Neues auf uns zu. Ob wir dieses Neue als gut oder schlecht einstufen, hängt in hohem Ausmaß von unserer Einstellung ab.

    In dieser Erkenntnis liegt nicht nur eine tiefe Wahrheit, sie ist auch ein Tor zu neuer Freiheit.

    Im Erwachsenenleben geht es dauernd um Verantwortung. Ja, ganz genau! – Dann übernehmen Sie doch sicherheitshalber die Verantwortung für Ihr Glück. Die Verantwortung für dieses eine Leben, das Sie haben. (Ob Sie nachher noch weitere haben werden, können Sie ja nicht mit letzter Sicherheit wissen.)

    Erwachsensein, Reife, Vernunft sind nicht Synonyme für Stillstand, Dulden und Weiterwurschteln. Der Versuch, die Lebendigkeit zu reduzieren, um möglichen Schmerz zu vermeiden, bringt – neuen Schmerz.

    Sperren Sie die Augen Ihrer Seele auf, nur einen Tag stellen Sie Ihr ganzes Sein probeweise auf Empfang und sehen Sie, wie viele Dinge passieren, die Sie nicht erwartet haben. Und dann geben Sie vor sich selbst zu, was für ein hoher Anteil davon positive Überraschungen waren, wie viele „Schlüssel" Ihnen das Leben geschenkt hat.

    Es ist überaus erwachsen, sich die kindliche Freude am Leben erhalten oder zurückerobern zu wollen!

    Was meinen Sie, hat das Pferd gelacht? Genau. Jetzt haben Sie es verstanden.

    2. Tag

    Grenzen, Grenzen, Grenzen!

    Die Zwillingsbrüder

    Es war einmal ein eineiiges Zwillingspaar, zwei kleine Buben. Wer sie sah, war von ihnen bezaubert. Stets umgab sie wie ein Fleck Sonnenschein ihre Fröhlichkeit. Wenn sie ihre Köpfe zusammensteckten und flüsterten, war ihr bald darauf folgendes Gelächter so hell wie ihr blondes Haar und so klar wie ihre wasserblauen Augen.

    Von ihrer ungetrübten, unerschütterlichen Verbundenheit miteinander ging ein besonderer Zauber aus. Obwohl sie einander glichen wie ein Ei dem anderen, war es doch möglich, sie voneinander zu unterscheiden, wenn man sie einmal besser kannte. Derjenige Bruder, der als zweiter auf die Welt gekommen war, hatte ein kleines Grübchen in der Wange, nur in einer, nämlich der linken. Man musste schon recht genau hinsehen und es musste zumindest der Anflug von einem Lächeln auf seinem kleinen Gesicht stehen, aber dann konnte man ihn eindeutig von seinem Bruder unterscheiden. Wollten die beiden ihre Umwelt zum Narren halten, bemühten sie sich, todernste Mienen aufzusetzen, um die Entstehung des verräterischen Grübchens zu unterbinden. Es waren die Lieblingsminuten ihrer Mutter, die Kinder zu beobachten, wenn Besuch kam. Da standen die zwei gleich aussehenden Buben nebeneinander, die Köpfe gleich hoch gehalten, die Stirn beide in völlig gleich aussehende Falten gelegt, in dem angestrengten Versuch, die Lippen und damit die untere Gesichtshälfte stabil zu halten. Wenn sie den Kampf gegen ein aufsteigendes Grinsen zu verlieren begannen, begegneten sie dieser Situation durch eine rasche, synchron ausgeführte Linksdrehung, sodass der nun erst recht verdutzte Besucher nur die unverfänglichen rechten Gesichtshälften zu sehen bekam.

    Es gab auch eine kleine Legende zur Entstehung des Grübchens im Gesicht des zweitgeborenen Zwillingsbruders. Es ließ sich nie klären, ob die Ereignisse tatsächlich so stattgefunden hatten, doch alle Beteiligten schworen, dass es genau so gewesen war: Als der erschöpften Mutter nach Entbindung das zweite Kind in den Arm gelegt wurde, löste sich eine ganz besonders große Freudenträne aus ihren Wimpern und fiel auf das Gesicht des Neugeborenen. Die Hebamme – so geht die Geschichte – sah dies und sagte: „An dieser Stelle wird man dich nun immer erkennen."

    Das Verwirrspiel mit der Umgebung verlor für die Brüder allmählich an Bedeutung, als ihre ersten Schuljahre vorüber waren, sie das Gymnasium besuchten und stets erwachsener wurden. Doch ihre gegenseitige Verbundenheit war unverändert stark zu spüren, selbst noch in der Hochschulzeit, als sie sich, wiewohl an derselben Fakultät, doch für unterschiedliche Studienrichtungen entschieden.

    Beide waren immer gute Schüler gewesen und so erreichten sie auch ihren Studienabschluss ohne besondere Schwierigkeiten und zu gleicher Zeit. Was niemand bemerkt hatte, war ein in der Tat nach außen nicht sichtbarer Tempoverlust im Studienfortgang des zweiten Bruders, der sich während der Studienjahre immer wieder in der Situation sah, Mitstudierenden helfend viel Zeit zu widmen, selbst aber gelegentlich zu wenig Durchsetzungsvermögen im Umgang mit den universitären Strukturen an den Tag legte. Was niemand wusste, war, dass ihm der erste Bruder in der Endphase des Studiums geholfen hatte, andernfalls hätte der jüngere Zwilling wohl zumindest ein Semester mehr für seinen Studienabschluss benötigt.

    Beiden Brüdern gelang rasch der Einstieg ins Berufsleben und sie schienen auch in diesem Lebensabschnitt so gut zurechtzukommen, wie es ihre Umgebung stets von ihnen erwartet hatte. Kaum ein Jahr später allerdings wurde dem älteren Zwilling angeboten, beruflich für einige Zeit nach Asien zu gehen und nach gründlicher Überlegung und vielen Gesprächen mit seinem Bruder nahm er diese Herausforderung an.

    Die Brüder hielten trotz der großen räumlichen Distanz Kontakt so gut es nur irgendwie ging, doch der jüngere litt unter der Trennung. Und diesmal war bald auch den Menschen, die ihn kannten und liebten klar, dass etwas nicht stimmte. Er verlor langsam seine Fröhlichkeit und seinen Schwung, er wechselte nach unerfreulichen Vorkommnissen den Arbeitsplatz. Doch auch an seiner neuen Arbeitsstelle fühlte er sich bald nicht so recht wohl. Er arbeitete sehr viele Stunden, gab seine ganze Kraft und dennoch hatte er nach einigen Monaten keine gute Basis in seinem beruflichen Umfeld. Er klagte über Mangel an Respekt, unfaire Bedingungen, ungerechte Behandlung und zuletzt natürlich über seine zunehmende Erschöpfung. Als er aufhörte zu klagen und einen nicht mehr aufhaltbaren Rückzug in erstarrte Traurigkeit und tiefe Einsamkeit antrat, bekam seine Mutter große Angst. Sie begriff, dass ihr jüngerer Zwilling nie gelernt hatte, seiner Umwelt Grenzen zu setzen. Sie machte sich bittere Vorwürfe, diese Verwundbarkeit in ihm nicht gesehen zu haben, weil sie all die Jahre durch die Symbiose mit dem Bruder nicht zutage getreten war.

    Zehn Tage nach einem verzweifelten Telefonat seiner Mutter kehrte der ältere Zwillingsbruder aus Asien zurück. Er sagte: „Es gibt viele gute Jobs, aber ich habe nur einen Bruder." Und er begann unverzüglich, sich um seinen Bruder zu kümmern, so wie damals im letzten Studiensemester. Doch diesmal hatte er gelernt, nicht die Arbeit für den anderen zu tun, sondern diesen selbst wachsen zu lassen. Dieser Vorgang dauerte freilich viel länger. Sie übten und übten, sie sprachen miteinander, sie weinten miteinander, sie stritten das erste Mal, sie holten Hilfe von Ärzten und lebensklugen Menschen ein. Alle bestätigten ihnen, wie wichtig es ist, seine eigenen Grenzen zu verteidigen, um nicht in völlige Erschöpfung zu geraten und zum Dank auch noch den Respekt der anderen zu verlieren.

    Der jüngere Bruder begriff, zuerst mit dem Verstand, später auch mit dem Herzen, dass er einfach nie nach außen Grenzen hatte setzen müssen, weil dies der Bruder für ihn getan hatte, ohne dass einem von ihnen beiden dies aufgefallen wäre. So war unbemerkt eine Lücke stets weiter gewachsen.

    Es vergingen einige Wochen und der jüngere Bruder kehrte langsam aus seiner Traurigkeit zurück. Schließlich meinte er von sich aus, die Krise wäre vorüber. Der ältere war ein wenig skeptisch und traute der Sache noch nicht so ganz.

    Doch schließlich, fast ein halbes Jahr später, geriet der ältere Bruder in eine peinliche Situation. Er war der ehemaligen Klavierlehrerin, einer sehr strengen, auf Formen bedachten alten Dame nach Jahren durch Zufall auf der Straße begegnet und sie hatte daraufhin die Brüder für den darauf folgenden Sonntagnachmittag zum Kaffee eingeladen. Wie ein folgsamer kleiner Junge hatte er zugesagt, obwohl er gar nicht wollte. Sein Unbewusstes aber war nicht so folgsam und ließ ihn die Begegnung einfach völlig vergessen.

    Am Abend des besagten Sonntags rief seine Mutter an und erzählte, sie habe einen Anruf von der Klavierlehrerin bekommen, die sich über die Ungezogenheit ihrer ehemaligen Schüler beschwert habe. Er erschrak ganz gehörig und wusste sofort, eine Entschuldigung bei der alten Dame war unerlässlich. Er griff zum Telefon, da stieg in ihm ganz plötzlich ein altes Gefühl wieder hoch, und er sah sich

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