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Stachel im Fleisch: Eine Faustische Reise
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Stachel im Fleisch: Eine Faustische Reise
eBook600 Seiten8 Stunden

Stachel im Fleisch: Eine Faustische Reise

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Über dieses E-Book

Dieser Roman ist eine Erzählung über den Tod, die Liebe und die Vergänglichkeit. Aufgebaut aus vier Teilen, deren einzelne Kapitel sich wie Mosaiksteine zu einem ausdrucksstarken Gemälde einer faustischen Lebensreise zusammenfügen. Der Anatom und Wissenschaftler Paul Dehmel stolpert wie Don Quichotte durchs Leben. Kaum dem Sektionssaal entronnen (Buch I), fällt ihn sein Alltagsleben an, mit einer großen Liebe (Buch II), die unerfüllt bleibt, einer Reise, die in einem Desaster endet, und Erinnerungen, die ihn nicht zur Ruhe kommen lassen (Buch III und Buch IV). Seine Odyssee, die eine Hälfte des letzten Jahrhunderts umfasst, ist in einer poetischen Sprache geschrieben, die den Leser zum Lachen und zum Weinen bringt. Das paulinische Dilemma vom >Stachel im Fleisch< wird auf eindrucksvolle Weise variiert.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum20. Feb. 2021
ISBN9783753180274
Stachel im Fleisch: Eine Faustische Reise

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    Buchvorschau

    Stachel im Fleisch - rolf dermietzel

    Inhalt

    Inhalt

    Das Buch, der Autor und das Manuskript

    Prolog

    Buch I - Abschiedsrituale

    Kapitel 1

    Kapitel 2

    Kapitel 3

    Kapitel 4

    Kapitel 5

    Kapitel 6

    Kapitel 7

    Kapitel 8

    Kapitel 9

    Kapitel 10

    Kapitel 11

    Kapitel 12

    Kapitel 13

    Kapitel 14

    Kapitel 15

    Kapitel 16

    Kapitel 17

    Kapitel 18

    Kapitel 19

    Kapitel 20

    Kapitel 21

    Kapitel 22

    Kapitel 23

    Buch II - Ana

    Kapitel 1

    Kapitel 2

    Kapitel 3

    Kapitel 4

    Kapitel 5

    Kapitel 6

    Kapitel 7

    Kapitel 8

    Kapitel 9

    Kapitel 10

    Kapitel 11

    Kapitel 12

    Kapitel 13

    Kapitel 14

    Kapitel 15

    Kapitel 16

    Kapitel 17

    Kapitel 18

    Kapitel 19

    Kapitel 20

    Buch III - Paradies Now

    Kapitel 1

    Kapitel 2

    Kapitel 3

    Kapitel 4

    Kapitel 5

    Kapitel 6

    Kapitel 7

    Kapitel 8

    Kapitel 9

    Kapitel 10

    Kapitel 11

    Kapitel 12

    Kapitel 13

    Kapitel 14

    Kapitel 15

    Kapitel 16

    Kapitel 17

    Kapitel 18

    Buch IV - Reise nach Gödöllö

    Kapitel 1

    Kapitel 2

    Kapitel 3

    Kapitel 4

    Kapitel 5

    Kapitel 6

    Kapitel 7

    Kapitel 8

    Kapitel 9

    Kapitel 10      Ende

    Dank

    ****

    Das Buch, der Autor und das Manuskript

    Das Buch: Dieser Roman ist eine Erzählung über den Tod, die Liebe und die Vergänglichkeit. Aufgebaut aus vier Teilen, deren einzelne Kapitel sich wie Mosaiksteine zu einem ausdrucksstarken Gemälde einer faustischen Lebensreise zusammenfügen. Der Anatom und Wissenschaftler Paul Dehmel stolpert wie Don Quichotte durchs Leben. Kaum dem Sektionssaal entronnen (Buch I), fällt ihn sein Alltagsleben an, mit einer großen Liebe (Buch II), die unerfüllt bleibt, einer Reise, die in einem Desaster endet, und Erinnerungen, die ihn nicht zur Ruhe kommen lassen (Buch III und Buch IV). Seine Odyssee, die eine Hälfte des letzten Jahrhunderts umfasst, ist in einer poetischen Sprache geschrieben, die den Leser zum Lachen und zum Weinen bringt. Das paulinische Dilemma vom >Stachel im Fleisch< wird auf eindrucksvolle Weise variiert.

    Der Autor: Rolf Dermietzel, geboren 1943 in Wittenberg, arbeitete als Professor an verschiedenen deutschen (Essen, Regensburg, Bochum) und ausländischen Universitäten, unter anderem am California Institute of Technology (Pasadena) und am Albert Einstein College of Medicine (New York). Neben zahlreichen Fachpublikationen sind von ihm Aufsätze und Gedichte in verschiedenen Sammelbänden und Anthologien erschienen.

    Das Manuskript: Die Erstauflage erschien im Jahr 2000 im Bochumer Universitätsverlag. Die Zweitauflage im Jahr 2001, ebenda. Die hier vorliegende dritte Auflage ist eine überarbeitete Fassung des ursprünglichen Manuskriptes. Wesentlich Änderungen wurden im Rahmen der digitalen Präsentation vorgenommen, in der das Konzept der thematischen Aufteilung in vier Bücher verwirklicht wurde. Die Form des eBooks erlaubte darüber hinaus Querverweise einzufügen, die durch die Einbindung der globalen Enzyklopädien wie >Wikipedia<, >Google Earth< und Youtube< für den Lesenden eine audiovisuelle Metaebene erschaffen (AVeBook), in der sowohl optische als auch akustische Elemente eine eindrucksvolle Erweiterung der Leseerfahrung ermöglichen. Da auf den verschiedenen Plattformen Aktualisierungen der digitalen Einträge vorgenommen werden, kann die inhaltliche Wiedergabe über die Zeit unterschiedlich sein oder es können Leer-Links auftreten. Eine Haftung für die Inhalte der Links kann im Rahmen der Publikation nicht übernommen werden, da wir sie uns nicht zu eigen machen, sondern nur auf den Stand zum Zeitpunkt der Publikation hinweisen. Um die jeweiligen Plattformen aufrufen zu können, sollten die Apps von Wikipedia, Google-Earth (Google-Map) und YouTube installiert sein.

    ****

    Prolog

    Ich traf Paul D. bei meinem ersten Besuch im Aufenthaltsraum der offenen Station der Psychiatrischen Klinik. An mich war die Bitte herangetragen worden, ein Gutachten über ihn zu erstellen. Offenbar sollte seine Schuldfähigkeit festgestellt werden, da im Verlauf der Untersuchungen Unstimmigkeiten aufgetreten waren, die sich auch nach mehrmaliger Befragung seiner Person nicht abklären ließen. So fand man zum Beispiel die Eingangstür im Bereich der Morgue (franz. Leichenschauhaus) verschlossen, obwohl Paul D. behauptet hatte, gemeinsam mit Ana S. den Raum betreten zu haben. Die Stationsschwester zeigte mir einen Mann, der in ein Buch vertieft zu sein schien. Durch die Glastür, die den Raum vom Flur abtrennte, konnte ich ihn für eine Weile beobachten. Er trug gewöhnliche Straßenkleidung und war erheblich kleiner, als ich erwartet hatte. Das Auffälligste an ihm war ein unbestimmtes Lächeln, das sich auch nicht beim Umblättern der Seiten veränderte. Die sich in Paul Dehmels Gesicht widerspiegelnde naive Ungläubigkeit, schien aus einer anderen biographischen Epoche seiner Person zu stammen und stand in merkwürdigem Gegensatz zu seiner Physiognomie, die auf einen eher ernsthaften Menschen schließen ließ. Vielleicht lag es auch an dem Buch, das er gerade las, und dessen Titel ich nicht erkennen konnte. Er trug einen kurz geschnittenen Vollbart, in den sich von den Schläfen her graue Strähnen einflochten. Die etwas buschigen Augenbrauen konvergierten zu einem umgekehrten >V<, über dem eine hohe Stirn dominierte, die noch durch einen lichten Haaransatz betont wurde. Seine Hautfarbe war blass, was sicherlich auf den Krankenhausaufenthalt zurückzuführen war. Als ich eintrat, hob er den Kopf. Sein Blick fiel auf mich wie Streulicht, das durch ein verschmutztes Fenster fällt. Es gelang mir nicht, seinen Blick zu fixieren, obwohl er mir nicht auszuweichen schien. Vollends erstaunte ich, als er mich in einer formalistischen, höflichen Sprache anredete, die auf den ersten Blick keinen Bezug zur Realität erkennen ließ. Das klang dann ungefähr so: »Ich bitte vielmals um Verzeihung, mich nicht auf Sie vorbereitet zu haben. Auch bedarf es einer langen Reise, um hier anzukommen. Im Allgemeinen ist meine Befindlichkeit gut. Das Buch in meinen Händen dient nicht nur der Erbauung, sondern auch dem Erkennen. Von dem genieße ich hier Außerordentliches.« Dann wurden plötzlich die überdrehten Redewendungen von Kaskaden nicht zusammenhängender Satzfetzen unterbrochen, die wie ein Schneegestöber auf mich niederrieselten. Im Verlauf meiner Literaturrecherchen zum Gutachten über Paul D. stieß ich auf den Krankheitsbegriff der >Schizophasie<. Hierbei handelt es sich um ein Krankheitsbild, das sich bei sensiblen Menschen aufgrund einer Reihe von Schicksalsschlägen entwickeln kann, und bei dem sich eine Art sprachliches Nirwana ausbildet, hinter das sich die Betroffenen zurückzuziehen scheinen, um sich vor der Realität zu schützen. Nach Monaten zähen Bemühens machte ich den ersten Versuch, mein Gutachten zu formulieren, um Paul D. darin Schuldunfähigkeit zuzugestehen. Ich hatte einige Seiten zu Papier gebracht. Müde von der Schreibarbeit und dem Nachdenken über seine Person schaltete ich den Fernseher ein. Wieder einmal zogen die Bilder der Marktplätze vorbei mit den geschwärzten Hausruinen, auf denen die Kameras statt des fröhlichen Lärms der Händler das blutige Elend des Krieges eingefangen hatten. Als ich zum Schreibtisch zurückkehrte, weigerte sich meine Feder weiter zu schreiben. Sie wollte die Trivialität eines trockenen Gutachtens bei soviel Gewalt und Zerstörung nicht mehr zu Papier bringen. Stattdessen machte sie sich auf den Weg, Paul Dehmels. Geschichte nach zu zeichnen. Über die Vielzahl der Sitzungen hatte ich gelernt, aus den Übertreibungen und poetischen Bildern Pauls., die jedem Kapitel als Metagramme; (hier als eine aus dem jeweils nachfolgenden Kapitel extrahierte poetische Inhaltsangabe definiert, die sich aus Pauls. Aussagen herleiten) vorgeschaltet sind. Bei dem, was ich niederlegte, halfen mir die Mitteilungen sämtlicher im weiteren Verlauf auftretender noch lebender Personen, meine eigenen Erfahrungen und eine wohldosierte Portion Phantasie. Hier spricht meine Feder. Hier ist Paul Dehmels Geschichte.

    ****

    Buch I - Abschiedsrituale

    Handelnde Personen:

    Paul Dehmel: Wissenschaftler und Anatom, Hauptfigur des Romans

    Barbara: Seine Frau

    Katharina: Seine Tochter

    Alex: Ein Assistent, Freund und Mitarbeiter

    Schwester Martha: Eine Nonne

    Ekkehardt Schwarzz: Ein älterer Kollege

    Grünewaldt: Ein Präparator

    Kapitel 1

    kreatürliches schallern/ abschiedszeremonie/ wohlwollen bis zum geht nicht mehr/ tierisches über die wiesen/ hand anlegen an die weißwurst/ perspektiven/ trautes heim/

    Paul kannte das Gefühl des Abschiednehmens genau. Monate vorher hatte er seine Übungen anlaufen lassen. Das Durchspielen der einzelnen Schritte bis nach draußen. Vorsichtig zuerst, im sicheren Bewusstsein wieder zurückkehren zu können. Er hatte sich diese Übungen auferlegt und führte sie jeden Abend durch, wenn er allein zu Hause war. Nicht weiter als bis zur Haustür gingen in der ersten Zeit seine Ausflüge. Dabei nahm er sich selbst an die Hand und redete wohlwollend auf sich ein. So mit sich beschäftigt, fand er sich zuweilen, nachdem er den kleinen Hausflur überwunden hatte, dem grob gezimmerten Holz der Eingangstür ausgesetzt. Die verdeckte Flurbeleuchtung verbreitete ein mildes Licht und tauchte den Flur in eine friedliche Dämmerung. Er fragte sich, warum er sich diese Reise zumuten wollte, und ob er denn wirklich den warmen Steinboden mit der Farbe von Dijoner Senf, die selbst abgebeizten Stühle, den handgefertigten Kneipentisch, diese mit zähem Bemühen zusammengetragene Behaglichkeit, verlassen wollte. Eine, aus Katalogen geblätterte Idee, von einem wohl geordneten Zuhause hatte er nie besessen.

    Die Details, die ihn umgaben, waren allesamt zusammengetragen. Spontan, dem Tageszufall überlassen, hatten er und Barbara Möbelstücke gesammelt, von denen sie glaubten, dass sie zu ihnen passten. Jedes Teil war ein Stück ihrer Vergangenheit, die ihnen so fest gefügt zu sein schien, wie die solide Handarbeit der Eingangstür, die einmal einem Bauernkotten als Windfang gedient hatte.

    Da war die Perspektive des Hauseinganges: links, die auf die Wand gemalte Hausnummer, rechts das schwarz gebeizte Schnapskästlein, den Paul eigenhändig zu einem Briefkasten umfunktioniert hatte. Warum wollte er die allmählich eroberten Bilder an den Wänden verlassen, die nun schon so vertraut waren, dass er sie nur noch durch die Augen von Fremden wahrnehmen konnte?

    »Was für eine liebliche Landschaft. Wer hat das Bild gemalt? « In solchen Momenten wurden ihm die Bilder gegenwärtig: die mit flinker Hand hingeworfene Sommerwiese. Paul riecht das Grün der Weiden, von denen er seine nackten Füße benetzt weiß. Er atmet den Duft des frisch gemähten Grases ein. Spürt den kühlen Wind, der das Gras wendet, wie die Seiten eines Buches. Die flimmernde Sommerhitze verschlägt ihm den Atem. Satt und voll gefressen von der Glut des Tages steht sie über der Wiese, feucht wie im Pansen der trägen Kühe, die sich im Schatten der Weiden zum Nachkäuen niedergelassen haben.

    »Was für ein ausdrucksstarkes Bild!« Er nimmt das Summen der Fliegen über den samtigen Schnauzen der Rinder wahr. Den trägen Schlag der Schwänze vor die prallen Bäuche, und dann hört er ihr langgezogenes Muhen, das so kreatürlich über die Wiese schallt, als hätte es ein gnädiger Gott just in diesem Moment erschaffen.

    »Was für ein schöner Rahmen, der Farbton des Holzes passt genau zur Aussage des Bildes.« Diese schiefen Ermunterungen der Betrachter überhörte Paul, hatte er doch die Holzrahmen in einem Baumarkt erstanden und war bisher noch nicht dazu gekommen, sie zu streichen. »Wie bleiche Weißwürste sehen die Leisten aus«, hatte Barbara einmal zu ihm gesagt.

    Und dann die vielen Blautöne, die er im Haus verstreut hatte. Wie konnte er sie mitnehmen? »Blau ist deine Farbe.« Barbara suchte die Hemden und Pullover für ihn aus. »Das bringt deine Augen zum Leuchten. Wie schön für dich.«

    Er begriff nicht, dass das Schiefergrau seiner Augen auch einen anderen Farbton annehmen konnte als diesen Schimmer von Asphalt, von dem er wusste, dass er ihn von seiner Mutter geerbt hatte. Nur fehlte ihm der interessante braune Fleck in der linken Iris, der sie immer so geheimnisvoll hatte aussehen lassen. Einige tiefblau lasierte Fliesen hatte er am Übergang vom Abtritt der Haustür in den Flur geschmuggelt. Zwei blaue, gläserne Bierkrüge standen in der Fensterbank, und ein dunkelblauer, leinener Buchrücken war so in das Bücherregal platziert, dass sein Blick, suchte er die Buchreihen ab, nicht vor diesem Farbhindernis ausweichen konnte. Das waren Instinkthandlungen gewesen, unbewusste Handreichungen, die er ausgeführt hatte, um seinen Augen ein paar magische Fixpunkte zu gönnen. Wohlfühlen wollte er sich, wenn er zu Hause war, und dafür, so hatte er einmal in der Anwesenheit von Alex philosophiert, brauche er Dinge um sich, die aus seinem Inneren stammen. Damit meinte er wohl in seiner etwas verschrobenen Philosophie, dass sie auf seinem Mist gewachsen sein sollten als zufällige Schnäppchen auf einem Flohmarkt oder hinter der Ladentheke eines Trödelhändlers.

    Kapitel 2

    bilder hinter den bildern/ rückzugsgefechte/ unangemeldet/ am hellichten tag/ der erinnerung ausgesetzt/

    Wenn Paul eine Eigenschaft neben all den Mittelmäßigkeit, die ihn umgarnten, besaß, dann war es ein akribisches Gedächtnis für bildliche Eindrücke und Farben. Es wäre übertrieben, dies eine Begabung zu nennen, auch wenn er immer wieder seine Mitmenschen damit verblüffte, dass er sich lang zurückliegende, bildhafte Vorgänge mit geradezu fotografischer Genauigkeit willkürlich in Erinnerung rufen konnte. Eine Fähigkeit, die er wie einen verborgenen Schatz hütete, ohne darauf großartig aufmerksam zu machen. Es soll jedoch nicht verschwiegen werden, dass er auch Kapital aus seinen Fähigkeiten zu schlagen verstand. Das Blättern im Bilderarchiv seiner Vergangenheit verhalf ihm, ein lichtes Maß an Kontinuität in seine Biographie zu bringen, ohne die er sich in dem Getümmel von Ereignissen, die sein Leben heimsuchen werden, rettungslos verloren gefühlt hätte. Man kann sagen, dass die Sonne der Erinnerung über ihm nie unterging. So konnte er sich in Krisenzeiten in einen Schattenwinkel zurückziehen und Seite für Seite die Eintragungen seiner Vergangenheit im Schein der Erinnerungen betrachten, was ihm in der Regel ermöglichte, ein besseres Verständnis für die Gegenwart zu gewinnen. Während er diesen Mechanismus bisher ohne Verletzungen überstanden hatte, mehrten sich seit seinem Entschluss, die Reise anzutreten, die Zwischenfälle. Immer wieder kam ihm die Möglichkeit des friedvollen Betrachtens abhanden, und er fühlte sich ungeschützt den Gefühlen ausgesetzt, die die Bilder begleiteten. Schmerzhaft gebärdeten sie sich und hinterließen in ihm Spuren tiefer Erschütterung. Mehr noch, sie begannen ihr Eigenleben zu führen, ließen sich nicht mehr ohne weiteres abstellen und verfolgten ihn bis in die Traumstunden hinein. Ja, ihre Selbständigkeit ging soweit, dass sie unangemeldet am helllichten Tag verrückt spielten, und es Paul immer schwerer fiel, zwischen Wirklichkeit und Schein, zwischen Erinnertem und der Gegenwart zu unterscheiden. So führte er ein merkwürdiges Doppelleben, in dem sich Gestern und Heute, Phantasie und Realität zu einem untrennbaren Gewebe verwoben. Es musste etwas mit seiner bevorstehenden Reise zu tun haben.

    Kapitel 3

    honigfarbene tage/ eine reise ist eine reise/ barbara lässt mich allein/ verlängerter familienausflug/ der alte freund wut/ kümmern/ verkümmern/ esau auf ballerinen füßen/ alex/ im schatten des allgäuers/ notwendigkeiten/ springerstiefel sind auch schuhwerk/ hypotheken voller aberglauben/ bärtiger samariter/

    An diesem Abend suchte er die Ruhe unter dem Tisch. Er kauerte auf dem Steinboden, um den lang gestreckten Raum des Wohnzimmers aus halb geschlossenen Augenlidern heraus zu betrachten. Die Konturen der Möbel versanken im Halbdunkel. Als würde er sie mit den Augen eines Analphabeten mustern, der sich bemüht, die ersten Buchstaben sinnvoll aneinander zu reihen, wanderte sein Blick über die Gegenstände. Jedes Stück, im Bewusstsein es zurücklassen zu müssen, gewann seine Geschichte wieder, die auch seine eigene war. Für eine Weile verharrte er bei den Dingen und hoffte, dass sie ihn annehmen würden. Nichts schien ihm in diesem hellen Moment unbedeutend. Im Abschiednehmen erkannte er erst ihr eigentliches Wesen. Jetzt war er bereit, diese honigfarbene Inszenierung, wenn auch nur für eine Weile, wie er zu glauben meinte, zu verlassen.

    Eigentlich war er davon ausgegangen, dass die ganze Familie mitgehen würde. Er hatte sich den Auslandsaufenthalt wie einen verlängerten Familienausflug vorgestellt. Er wollte Barbara und Katharina die Augen öffnen, ihnen als Führer dienen; die Welt zeigen, wie sie sich ihm mitgeteilt hatte, auf seinen Kongressreisen: New York, San Franzisco, Los Angeles und immer wieder Kalifornien. Exotische Formeln von Ferne und städtischem Abenteuer.

    Eines Morgens, er war im Begriff das Haus auf dem Weg zur Universität zu verlassen, hatte Barbara ihm mitgeteilt, dass sie nicht mitkommen würde. Knapp und lakonisch war ihre Bemerkung ausgefallen, verdeckt zwischen zwei Bissen in das Frühstücksbrötchen. Offenbar wollte sie ihre Unsicherheit verstecken. Er hatte nur dieses »Ich-komme-nicht-mit« in den Ohren, sah sich den Kaffee hastig austrinken, aufstehen und wortlos aus dem Haus gehen. Barbaras, ».... bleib doch hier, ich will dir das näher erklären«, hatte er nicht mehr gehört. Seine Ratlosigkeit war anrührend. Keine Spur von Widerstand. Eine stumme Hilflosigkeit, die sich noch nicht einmal als Faust in der Hosentasche artikulierte. Er erinnerte sich, den ganzen Tag in einer dumpfen Verzweiflung verbracht zu haben. Als er abends nach Hause kam, stand sein Entschluss fest. Er würde die Reise antreten. Ihn überfiel sogar ein gedämpfter Anflug von Wut, die sich in ein schlichtes Weghören steigerte, bei Barbaras Versuch, sich zu erklären: Er hätte sie nicht bei seinen Plänen zu dieser Reise zu Rate gezogen. Und im Übrigen müsste er auch auf den Familienrhythmus Rücksicht nehmen, womit sie wohl die Entwicklung von Katharina, den Schulwechsel und ihre eigenen Bedürfnisse meinte. Sie sei schließlich nicht sein Anhängsel, das er so einfach mitnehmen könne, wann und wohin er wolle. Es sei jetzt an der Zeit, da er konkrete Schritte unternehme, mal über seinen Stil nachzudenken. In seiner ganzen wohlgestalteten Behaglichkeit habe er wohl vergessen, dass sich auch noch andere Lebewesen in seinem Blickfeld umhertrieben. Bei dieser Bemerkung konnte er das Gefühl von Wut herauslassen. Er empfand dies wie die Rückkehr eines längst verschollenen Freundes. Paul hatte mit der flachen Hand auf den Tisch geschlagen. »Lebewesen, die sich in meinem Blick umhertreiben.« Die Spitze hatte ihn getroffen. »Mein Leben ist nichts anderes gewesen als ein Kümmern, ein Kümmern um das Wohlergehen der Kinder, um dein Wohlergehen. Schließlich nagen wir ja nicht am Hungertuch. Ich werde diese Reise für mich in Anspruch nehmen und notfalls auch alleine fahren. «

    Barbaras Bemerkung von »…ein einziges Verkümmern«, hatte er nicht mehr wahrgenommen. Seine Wut, ihre Abweisung, die es ihm unmöglich machte, weiterzureden, hatte ihn die Treppe hinaufgetrieben. »Dein Fluchtweg«, rief sie ihm zu, »ist exakt einundzwanzig Stufen zu hoch.«

    — Jetzt war das Haus leer. Barbara war zu einer Freundin gegangen. Seit Tagen hatten sie nicht mehr über seinen Entschluss gesprochen, den kommenden Sommer in den Vereinigten Staaten zu verbringen. Barbara empfand Pauls Verhalten eher als Bestätigung, dass sie recht habe, und sie glaubte, er würde sich wohl Gedanken über einen Rückzug machen. Paul hingegen blieb ruhig, weil er weitere Auseinandersetzungen vermeiden wollte. Es war nicht die Angst, den Kürzeren zu ziehen, die ihn verstummen ließ. Es war eine physische Notwendigkeit, die es ihm erleichterte, die Abschiedszeremonien zu überstehen.

    Er lag zusammengerollt unter dem Tisch. Den Kopf flach, ohne Kissenunterstützung aufliegend, war ihm, wenn er mit dem linken Auge blinzelte, gerade ein Gesichtsfeld von der Decke bis zur Fußleiste der gegenüberliegenden Wand einsehbar. Öffnete er das rechte Auge, so sah er den steinernen Fußboden und den Allgäuer Schrank, in den er seine Stereoanlage eingebaut hatte. Durch abwechselndes Öffnen und Schließen der Augen ließ er die Bilder springen, bis er sich entschloss, für eine Weile das rechte Auge zu bevorzugen. Mit einer zielsicheren Bewegung der Augen, die an das Glattstreichen gestärkter Tuchkanten erinnerte, war er die Umrisse der ihm gegenüberliegenden Wand abgefahren.

    Eine solche Perspektive hatte er sich immer gesucht, wenn er sein Bildarchiv mobilisierte. Er stand auf öffnete die Türen des Allgäuer Schranks. Die Stereoanlage war von Alex zusammengestellt worden, der technisch versierter war als er, und dem er in seiner Abwesenheit die Arbeitsgruppe überantworten wollte. Alex war ein Freund. Paul würde niemals behaupten, dass er sein Freund war. Er mochte ihn gern, gestand sich aber keine größere Nähe zu ihm ein als ein flüchtiges Schulterklopfen beim abendlichen Abschiednehmen außerhalb der Diensträume. Und doch traf es seinen Umgang mit den Mitarbeitern. In seiner freundlich zurückhaltenden Art mochten sie ihn, immer blieb jedoch ein Rest von Distanz, die Aura der Verletzbarkeit, wenn man ihm zu nahetrat. Seine Mitarbeiter respektierten dieses Vakuum, mit dem er seine Person umgab, und durch das er sich vor Übergriffen zu schützen versuchte.

    Alex hatte auch den Allgäuer Schrank mit ihm in die Wohnung transportiert. Seine kräftige Statur vermittelte den oberflächlichen Eindruck eines gutmütigen Bernhardiners. Der rote Bart und das für den mächtigen Kopf etwas zu schüttere Haar, gaben ihm ein anthropoides Aussehen. Paul wusste, dass die Kraft, die Alex zu suggerieren pflegte, nur eine scheinbare war. Erstaunt hatte er einmal beobachtet, wie schmal Alex’ Füße und seine Sprunggelenke waren, als sie gemeinsam einen Badeausflug unternommen hatten. Alex hatte sie mit etwas zittrigen Fingern aus seinen Springerstiefeln gepellt, und als er die Socken herunterrollte, wurden ein paar Füße, die eher einer Ballerina zu gehören schienen, denn einem ausgewachsenen Mann von der Statur eines Esaus, sichtbar. Er brauchte offenbar das mächtige Schuhwerk, um die Haftung mit dem Boden nicht zu verlieren. Neben anderen exotischen Eigenschaften pflegte Alex den neurotischen Drang, seine Finger- und Fußnägel so lang wachsen zu lassen, dass sie ihm zum Hindernis wurden. Fasziniert erzählte er bei jeder sich bietenden Gelegenheit die Geschichte eines türkischen Taxifahrers, dessen Nagel am linken kleinen Finger fast zehn Zentimeter lang und wie ein Korkenzieher gedreht war, und der behauptet hatte, ihn seit zehn Jahren nicht mehr geschnitten zu haben, und dass ihn seit dieser Zeit das Glück nicht mehr verlassen habe. Er würde besser auf ihn achtgeben als auf die Unschuld seiner Tochter. Und das bedeute für einen türkischen Vater schon eine ganze Menge. An dem Tag, wo der Nagel abbreche, würde er sich umbringen, hatte er Alex gegenüber geäußert. Vielleicht glaubte Alex auch an einen Zusammenhang zwischen Fingernägel Schneiden und Unglück. Seine Mutter, deren Madonnengesicht er immer in der linken Brusttasche trug, schien ihn jedenfalls mit einer kräftigen Hypothek an Aberglauben belastet zu haben. So durfte er niemals zwischen Weihnachten und Neujahr seine Unterhosen auf eine Wäscheleine hängen, weil sich sonst jemand aus dem engeren Familienkreis umbringen würde, und schwarzen Katzen ging er grundsätzlich aus dem Weg, egal aus welcher Richtung sie kamen. Alex‘ Fähigkeiten hilfreich zu sein, waren jedenfalls unübertroffen. Sie erschöpften sich nicht im Zusammenbau einer Stereoanlage. Er war ein universell verwendbarer, handwerklich versierter Samariter, was ihn Paul liebenswert machte. Es muss wohl an Paul selbst gelegen haben, dass er über eine tastende Herzlichkeit zu Alex nicht hinauskam.

    Kapitel 4

    jagd auf allgäuer/ friedas dies und das/ der erschlichene luxus/ alex und sein mort douce/ butterbrezel/ nord süd gefälle sammelleidenschaften/ im milden blau der schnapsgläser/

    Vor Paul machte sich der Allgäuer breit.

    —An einem klaren, weitsichtigen Frühjahrsmorgen in Bayern war es gewesen. Alex kannte einen Händler im Inntal, von dem er wusste, dass er hunderte von Weichholz Schränken, Kredenzen, abgebeizte Küchentische und Stühle sämtlicher Stilrichtungen der letzten zwei Jahrhunderte gestapelt hatte. Wenn auch sein Lager nicht die Noblesse eines Antiquitätensalons ausstrahlte, so meinte Alex, würde Paul doch sicherlich etwas für sein Wohnzimmer zu einem vertretbaren Preis finden.

    In Bezug auf Geld waren sich beide einig. Es wurde zu hart verdient, um locker ausgegeben zu werden. Die Notwendigkeiten des Lebens mussten abgedeckt werden, ja, aber Luxus musste man sich erschleichen. Alex hatte Paul davon überzeugt, dass eine Fahrt nach Bayern mit der Aussicht, den einen oder anderen guten Fang zu machen, immer noch billiger wäre, als einem dieser Halsabschneider, die das Süd-Nordgefälle an Weichholz Möbel ausnutzten und gemeingefährliche Gewinne damit machten, das Geld in den Rachen zu werfen.

    Sie übernachteten in einer billigen Pension in der Nähe von

    Rosenheim und brachen kurz nach acht Uhr morgens auf. Paul hatte sich einen Anhänger geliehen, auf dem er die Weichholz Ernte gen’ Norden heim zu karren hoffte. Die Sicht war weit, über die in dieser Gegend eher lieblichen Bergketten des Chiemgaus hinausgehend. Nur in der Höhe des Wendelsteins verfingen sich noch ein paar Morgenwolken, die sich jedoch bald auflösten, und zurück blieb ein klarer, blau gesichtiger Himmel, dessen Transparenz einer südlichen Mär entsprungen zu sein schien.

    Paul umgab eine Mischung aus Ahnung auf einen her-aufziehenden, hochzeitlichen Frühlingstag und eine ihn selten anfallende Heiterkeit, vor der er sich nicht verschließen konnte.

    »Sekundenhimmel«, dachte Alex, und sie kurvten in den Morgen hinein, in Richtung Wasserburg. Alex hatte Paul nicht allein fahren lassen wollen. Nachdem er ihm schon den Tipp mit Wölffler gegeben hatte, wollte er auch an dem Ausflug teilhaben. Dem Auto hinterher hoppelte der kleine Anhänger. Weichholz Möbel waren gerade als besonders rustikal bis in den Norden, in dem bisher eher dunkel gebeizte Eiche vorherrschte, durchgedrungen.

    Hier und dort öffneten Trödelmärkte und Antiquitäten-Boutiquen ihre Pforten. Meistens von geschäftstüchtigen, frisch konvertierten Aussteigern betrieben, deren bärtige Köpfe die neuen Geschäfte organisierten, während ihre Freundinnen die Namen dafür hergaben: »Marys Trödelstübchen«, »Annas Antiquitäten Markt« oder auch »Dies und Das bei Frieda.«

    Das glatte Holz der abgebeizten Schränke und Kommoden mit ihren nach Wachs riechenden Oberflächen versprach Heimeligkeit und Wärme. Die Küchenkredenzen mit weißen Porzellaneinschüben, die Windsor Stühle und Runddeckeltruhen stemmten sich gegen die zunehmende ikeakeske Spanplatten und Sperrholz Kultur. Die Anstreichepoche der fünfziger Jahre war vorbei. Jetzt wurde der Lack wieder abgebeizt, um das Ursprüngliche herauszuholen.

    Alex war für Paul ein hilfreicher Gefährte. Er kannte sich in der Szene aus, war er doch selbst ein Sammler jeglichen antiquarischen Zierrats. Seine Sammelleidenschaft kannte dabei weder Zeiten noch Grenzen. Neben tibetanischen Gebetstrommeln, indischen Saiteninstrumenten, denen er vergeblich einigermaßen harmonische Klänge zu entlocken versuchte, fanden sich alte Hafner Krüge mit intakter Lasur in seltenen Türkisfarben, Schnupftabakdosen mit Elfenbeinstöpsel, rissige Blasebälge, denen längst der Wind ausgegangen war, eine Kollektion von feinst bemalten Ostereiern und Bierkrüge mit zinnernen Deckeln. Obwohl er nahezu abstinent lebte, hatte er sich eine Sammlung von Schnapsgläsern zugelegt, die in endlosen Reihen auf mehreren Borden in seiner Küche aufgestellt waren als sollten sie Front gegen jedwede Versuchung machen. Es war eine hohe Zeit der Sammelleidenschaften auch für diejenigen, deren Haushaltsbudget eher dem Stirnrunzeln eines Herings glich. Mit einem bisschen Instinkt und Ausdauer konnte man sich noch mit »Friedas Dies und Das« ausstatten, und Alex hatte das Gespür des erfolgreichen Sammlers. Wenn er in ein abbruchreifes Haus ging, dann fand er den letzten unter Mauerresten verschütteten Bugholzstuhl. Die Wertigkeit der Gegenstände maß er nicht am aktuellen Preis, sondern an der Kuriosität des Fundes. Einmal hatte er in einem leerstehenden Haus eine reich verzierte eichene Truhe gefunden. Er hatte sich die Springer Stiefel angeschnallt, um dieses Mobiliar, das gut seine zwei Zentner wog, über drei Kilometer nach Hause zu schleppen, mitten in der Nacht, vorbei an besoffenen Kumpeln, die ihn lallend fragten, warum er sich denn so kaputt schufte. Besinnungslos vor Erschöpfung muss er in seiner Wohnung angekommen sein. Als er am nächsten Morgen aufwachte, fand er sich zerschunden, mit seinem abgerissenen Lieblingsfingernagel in der Truhe wieder. Sein zukünftiges Unglück sei nun vorprogrammiert, pflegte er zu sagen, wenn er die Truhe demonstrierte. Nur der Stolz des erfolgreichen Sammlers hätte ihn davon abgehalten, seinen suizidalen Gedanken nachzugeben und sich einfach in die Truhe zu legen, den Deckel von innen zu schließen und den wohlverdienten mort douce eines unglücklichen Sammlers zu sterben. Nach monatelanger Bearbeitung mit Schleifpapier jeder Graduierung, vom grobkörnigen Korund bis zum feinsten Metallstaub und nachfolgender Einbalsamierung mit nach Lavendel duftendem Wachs, zierte nun die Truhe sein Schlafzimmer.

    »Das beste Behältnis für meine schmutzige Wäsche«, pflegte Alex mit der ihm eigenen Untertreibung zu sagen.

    Sie erreichten Wasserburg. Am Inn gelegen, der hier noch einmal wild vor sich hin rauscht, an Häusern vorbei, die man sonst nur auf Model-Brettern für Spekulatius-Plätzchen zu finden glaubt. Sie kutschierten durch ein funktionierendes Stadttor, in dessen dunkler Wölbung noch das Hufklappern und Gewieher von Jahrhunderten widerhallten. Die Stadt lag friedlich da, als wollte sie sich den Bauch in der Morgensonne wärmen.

    Paul überkam das Bedürfnis, die Autos wegzuschieben und die Antennen von den Dächern zu knicken, um den Eindruck von Zeitlosigkeit zu vervollständigen. Die wenigen Menschen auf den Straßen waren mit Alltagsverrichtungen beschäftigt. Einkaufende Frauen, Kinder, die zur Schule gingen, alte Männer auf einer Bank. Die Sonne musste sie wohl ans Licht gelockt haben. Dazwischen ein Mädchen auf einem Fahrrad, eine Milchkanne kutschierend.

    »Wenn ich auch nur eine falsche Bewegung mache, dann kippt das Bild aus dem Gleichgewicht«, sinnierte Paul und blieb ganz ruhig sitzen, ohne zu atmen. Er fuhr langsamer, um sich dem Eindruck von Frieden hinzugeben. Hinter ihm holperte der Anhänger über den Graubasalt.

    »Brems mal«, sagte Alex. »Wir gehen noch in diese Bäckerei und kaufen ein paar frische Brezeln. «

    Und dann standen sie in dem Bäckerladen, dessen Regale voll frischer Brotlaibe waren: Kastenförmige, lieblich runde, schlanke, derb krustige Doppelbacks. Zart Gelbes, neben den braunrissigen, mehlbestäubten Rädern der Bauernbrote. Körbe mit duftenden Semmeln, Kaiserwecken, Finschgauern, Rundlingen, Kornspitzen, Körnlingen, Kümmelwecken, Sesamwecken, ausgeklappten Käsestangen, Passauer, Napoleonsecken und Nussbeugerl, die Oberfläche mit Eigelb lasiert. Duftende Rosinenstuten, Kolatschen, Springerle, noch um diese Jahreszeit selbstgefertigte Rum- und Mozartkugeln. Alex ließ sich eine frische Brezel mit Butter bestreichen. Der Duft des Brotes trieb Paul das Wasser in den Mund.

    Kapitel 5

    stalinorgeln im kamin/ bolzenschussgeräte/ leukoria und der witte berg/ ein laib brot brechen/ das schmerzhafte lächeln des ernährers/ auf die nase kippen/

    Paul war wohl vier Jahre alt, und es war ein Wasserburg-Tag. Frühe Sonne, die durch die Gitterstäbe fiel, auf seinem Weg die Lutherstraße hinunter zum Kindergarten. Jeden dritten Schatten musste er auslassen. Das war ein Befehl! Das war so beschlossen! Sonst würde etwas Schreckliches passieren! Mindestens tot sein, wäre die Folge, wenn er auch nur auf einen der Schatten treten würde. Hinter den Gitterstäben lag das städtische Gymnasium. Der Schulhof war noch in frühe Dämmerung getaucht. Der Ziegelsteinmauer am Ende des schmiedeeisernen Zaunes hatte eine Granate die steinerne Krone zerfetzt. Der Krieg war noch sehr nahe.

    »Wenn du genau hinhörst, dann kannst du die Stalinorgeln jaulen hören«, hatte seine Großmutter ihm gesagt. Dabei meinte sie wohl den Wind im toten Kamin des Hauses. »Die zielen genau auf die Stickstoffwerke in Piesteritz, und wenn die getroffen werden, dann kracht es auch hier gewaltig.«

    Manchmal war die Großmutter verwirrt, denn der Krieg war schon zwei Jahre vorbei, und was da draußen krachte, waren die Sprengsätze in den Bunkerresten, die von Zeit zu Zeit gezündet wurden, um die dicksten Brocken aus dem Weg zu räumen. Platt hatten sie den Bunker hinter dem Augusteum auf den Rasen gesetzt. Als sei ihm die Luft ausgegangen, lag der Betonklotz des ehemaligen Stadtbunkers, die gewaltigen Betonplatten von sich gestreckt, auf der Erde. Für Jahre wurde er zum Witten Berg, zwischen dem elbnahen Anger und der Leukorea, einst der Stolz deutscher Universitäten. Die Turnhalle hinter dem Schulhof war von einer Fliegerbombe getroffen worden. Durch ihr Dach konnte Paul den Himmel sehen. Dort, wo einmal die Ringe zum Turnen befestigt waren, klaffte ein Loch, und Schwalben fanden ihren Weg im blitzschnellen Flug zur nächsten Wand. Zwischen den Sprossenleitern hatten sie ihre Nester geklebt.

    Ein modriger Geruch hing in der Halle. Eine Mischung aus feuchtem Kalk und schimmeligen Wänden. Statt Barren und Pferd und den Sprungkästen standen Kisten voller alter Schulhefte und Klassenbücher im Geräteraum. Eilig hatte man sie hierhergeschafft, die schweißtreibenden Utensilien, die ein Gymnasium produziert, und achtlos in die Ecke gestellt. Viele der Hefte lagen auf dem Fußboden zerstreut, der einmal mit massivem Stabparkett belegt war. Die Parkettstäbe waren längst verfeuert. Jetzt lag der nackte Estrich mit seinen durch Regen und Hitze gezeichneten Mustern offen.

    Paul war auf seinem Weg in den Kindergarten in die Turnhalle geschlichen und hatte sich über die Hefte hergemacht. Tatsächlich fand er unter den Stößen von verschimmelnden Kladden ein Heft seines Bruders. Auch wenn er noch nicht schreiben und lesen konnte, so erkannte er doch dessen Namen: »Gerhardt Dehmel«, stand auf dem weißen Aufkleber des Umschlages. Der Schriftzug sah aus wie die Silhouette der Stadt vom Schlossberg aus. Die zwei spitzen Türme der Stadtkirche, zwischen denen die Dachgiebel der zerzausten Häuser hingen wie das aufgeblasene Gefieder der Kolkraben in den Elbauen, wenn der kalte Wind aus Osten blies. Und Dehmel stand ebenfalls, von seiner Großmutter in Sütterlin Schrift geschrieben, auf dem Klingelschild ihrer Wohnungstür in der Lutherstraße.

    Paul erinnerte sich noch an die geringe Begeisterung seines Bruders, als er das Heft mit nach Hause brachte. Beim nächsten Mal würde er bestimmt vom Hausmeister erwischt werden, hatte er ihm angedroht, und der kenne keine Gnade. - Was Gnade bedeutet, wusste er noch nicht, doch Paul dämmerte es, dass keine Gnade zu kennen, etwas sehr Fürchterliches sein musste. Fast so fürchterlich wie die Angst, die er verspürt hatte, als der Fleischermeister Eberhardt, in dessen Haus sie wohnten, ihn mit dem Bolzenschuss Gerät bedrohte hatte. Zufällig war er abends in den Hinterhof gekommen, wo Eberhardts Schlacht

    küche lag. Es war schon dämmerig gewesen, aber im Hintergrund konnte Paul den Mann in seiner weißen Hose und der blutbefleckten Schürze erkennen. Er wollte ihn noch grüßen, denn seine Mutter hatte ihn zu einem braven Jungen mit einem Klämmerchen im Haar erzogen, da brüllte Eberhardt von der Schlachtküche herüber. »Wenn du weitergehst, dann erschieße ich dich«, und hielt das Bolzenschuss Gerät wie einen erigierten Penis vor seinen Bauch. Vielleicht war er betrunken, vielleicht wollte er sich auch nur einen Spaß machen. Einen richtigen Fleischermeister Spaß. Paul rannte in seiner Verzweiflung in die nächste offene Tür. Es war der Eingang zur Waschküche. Er hielt sich dort versteckt, bis es ganz dunkel wurde. Von Angst geschüttelt, ging sein Atem so schnell wie das Zittern des kleinen Vogels, den er in der Hand gehalten hatte, als er aus seinem Nest gefallen war. Das Blut hörte Paul in seinen Ohren pulsieren, und mit jedem Schlag seines rasenden Herzens fühlte er sich dem Tod näher: »Sie trinken das Blut von frisch geschlachteten Schweinen«, hörte er die Mutter sagen.

    Paul sah die Gestalt des pausbäckigen Gesellen vor sich, wie er unter dem aufgeschlitzten Schwein stand, und mit weit offenem Mund das warme Blut, das aus dem kopfunter hängenden Tier rann, in sich hineinlaufen ließ. »Nur deshalb ist er so riesig geworden«, hatte der Kerl der Mutter gesagt. »Mit vierzehn Jahren habe ich damit angefangen. « Und dann hatte er ihr seinen rechten Bizeps gezeigt, den er an und abschwellen ließ wie einen Luftballon.

    Erst als in der Waschküche das Licht erlosch, wagte sich Paul wieder auf den Hof und stürzte die Flurtreppe hinauf. Er hämmerte mit seinen Fäusten an die Glasfront der Korridortür. Als die Mutter ihm öffnete, und er unter Tränen versuchte, ihr die Geschichte zu erzählen. wollte sie ihm so recht nicht glauben.

    — An diesem Morgen setzte Paul seinen Weg zum Kindergarten ohne den Umweg über die Turnhalle fort.

    Viel war von den Häusern hinter dem Gymnasium nicht mehr übriggeblieben. Ein Haufen aus geborstenen Mauern, zackige Steinhügel, aus denen rostige Eisenträger wie die Rippen aus einem ausgeweideten Tierkadaver ragten. Zum Teil waren noch stockwerkhohe Mauern an denen entblößte Räume hingen zu sehen als hätte man sie ihrer Intimität beraubt. Ihr Innerstes gaben sie den neugierigen Blicken der Vorübergehenden preis.

    Im zweiten Stock eines Hauses, das Pauls Blick bei jedem morgendlichen Gang zum Kindergarten magnetisch anzog, war das Badezimmer freigelegt. Der Toilettentopf schwebte bodenlos über dem Abgrund; noch intakt, so als wartete er darauf, jeden Moment besetzt zu werden. Die Badewanne hing an ihrem Abflussrohr. Der Wind versetzte sie zuweilen in ein quietschendes Schwingen. Obwohl sie jeden Moment abzustürzen drohte, nisteten Vögel in der Seifenablage. Die ehemals weißen Fliesen hatte in den zwei Jahren, die der Krieg vorbei war, ein grüner Algenfilz überzogen. Meistens blieb Paul eine Weile vor dem wie ein Adventsbild aufgeklapptem Badezimmer stehen. Er wartete darauf, dass die Badewanne krachend herunterfallen würde, oder der nie gesehene Bewohner des Hauses wenigstens auf dem Toilettentopf Platz nehmen würde.

    Heute war er in Eile!

    Ihnen war angekündigt worden, dass etwas Besonderes bevorstünde. Es sollte eine Überraschung geben. Natürlich warf diese Ankündigung die ganze morgendliche Kindergartenroutine über den Haufen. Niemand wollte das Morgengebet sprechen. Niemand singen. Der Kanon geriet zu einem einzigen lärmenden Durcheinander heller Kinderstimmen.

    Um zehn Uhr gaben es die Schwestern auf, mit den Kindern noch irgendein Spiel durchzuführen, das auch nur ein Quäntchen an Konzentration erfordert hätte. Schwester Martha, die Paul wegen ihres riesigen Knotens auf dem Kopf liebte, weil er die stetige Hoffnung hegte, sich einmal in diesem warmen Nest niederlassen zu können, und die von allen respektvoll gerufen wurde, führte die Kinder in den Hof. Sie wurden aufgefordert, sich in einen Kreis zu stellen, an die Hände zu fassen und die Augen zu schließen. Kein Kind folgte der Aufforderung, aber dann drohte sie, dass sonst die Überraschung ausbleiben würde, und da schlossen sie lieber die Augen. Martha trat an jedes Kind heran und bat es, die Arme vorzustrecken. Als Paul sie dies tat, die Augen noch immer verschlossen, spürte er ein schweres, raues, kastenförmiges Etwas in seinen Armen und der Geruch von Brot stieg ihm in die Nase. Er öffnete die Augen wieder und fand ein graues Kommissbrot auf seine Arme gelegt, aus schwerem, Sauerteig gebacken. Auch wenn der Laib eher einem ausgelaugten Stück Treibholz ähnelte, sein Geruch war doch unverkennbar der von Brot.

    Der Kindergarten war schnell beendet. Paul rannte die Luther Straße zurück. Er fand das Haus, den ihm wohl bekannten Klingelknopf. Seine Mutter erwartete ihn. Paul war ungeheuer stolz. Schließlich brachte er ein ganzes Brot mit nach Hause. Groß und stark war er, ein richtiger Mann, der seine Familie ernähren konnte. Sprach sie nicht immer davon, dass sie ja schließlich eine ganze Familie durchbringen musste, wenn sie von einer ihrer Hamsterfahrten nach Hause kam, glücklich über ein Stück Speck, sechs Eier, eingetauscht gegen den Satz eines Zwiebelmuster Porzellans. »Bis Vater nach Hause kommt, muss ich euch ernähren. Wenn er erst einmal hier ist, wird es uns allen besser gehen.«

    Ihre Freude über die unentbehrlichen, mit viel Geduld und Zähigkeit erstandenen Lebensmittel war niemals frei von Trauer um einen Abwesenden, den sie Vater nannte, und dessen Bild auf einem kleinen Tischchen im Wohnzimmer stand. Ein schmales Gesicht, mit einer Nickelbrille, die es noch schmaler wirken ließ. Offenbar trug dieser Mann eine Uniform, die ihm ein merkwürdig steifes Aussehen verlieh, so als würde das Kragenetikett am Hals scheuern. Paul fand, dass sie zu viel Aufhebens um diesen Mann machte, der für einen so Unentbehrlichen eigentlich zu schmerzvoll über die Tischkante blickte. Er nannte ihn seit langem schon nur noch den Ernährer. Darunter konnte er sich etwas vorstellen: Einen Menschen, die Taschen voller Kartoffeln, Brot, Rüben, Zwiebeln und dann und wann auch ein Stückchen Butter. Paul hatte schon fast die Hoffnung aufgegeben, dass endlich Freude aufkommen würde, wenn er aus dem Kindergarten kam, ohne dieses stetige Wehen von Trauer. »Diesmal ist es so weit. Ich bin der Ernährer! « sprach er, bevor sich die Haustür öffnete, zu sich selbst. Für einen Moment fühlte er sich angenommen, als sie ihn in die Arme nahm und begrüßte. »Du bist ein richtig großer Junge«, sagte sie. »Damit werden wir gut eine Woche über die Runden kommen. «

    Und dann: »Vater wäre stolz auf dich. «

    Paul blickte in das schmerzhaft lächelnde Gesicht auf dem Schreibtischchen. Am liebsten hätte er es genommen und auf die Nase gekippt. »Ich bin der Ernährer«, dachte er. »Ich will, dass du auf mich stolz bist. « Das Brot wollte er nicht hergeben. Erst der Vorschlag, es gleich anzuschneiden, damit es nicht trocken würde, löste seinen Krampf.

    Kapitel 6

    hohlgeleckte laugenbrezel/ madonna im/ strahlenkranz/ gebenedeite/ die unsterblichkeit des todes/ jo moi a schoiner toach/

    Alex kaute genüsslich an seiner Brezel als sie den Bäckerladen verließen und murmelte zwischen zwei Bissen: »Ein Laugenbrezel mit frischer Butter ist das Sinnlichste, was sich ein Gaumen an solch einem Morgen vorstellen kann. Wölffler hat erst ab elf Uhr geöffnet. Es bleibt noch etwas Zeit. « Sie gingen zu einer nahen gelegenen Kapelle, die am Ortsausgang lag. Alex musste sich tief bücken, um durch die niedrige Tür zu kommen. Sein massiger Körper füllte fast vollkommen die Türöffnung aus. Drei Stufen, von der Zeit hohlgeleckt wie hölzerne Brotmulden, führten in das Innere hinab. Dann standen sie unvermittelt in dem kleinen Kirchenschiff, das nur von einem gebrochenen Licht erhellt wurde. Die morgendlichen Sonnenstrahlen fielen durch gelbe Bleiglasfenster und gaben dem Raum einen vergilbten Glanz, wie er auf alten Fotografien zu sehen ist. Zeitlos schienen hier der Morgen in die Abenddämmerung überzugehen, Tage und Nächte zu wechseln wie die gedämpften Atemzüge einer abseitigen Welt, die nur noch in den fernen an- und abschwellenden Straßengeräuschen gegenwärtig blieb. Für bajuwarische Verhältnisse wirkte das Innere der Kapelle verblüffend karg. Bis auf eine Madonna im Strahlenkranz, die über dem mit einem weißen Leinentuch bedeckten Altar hing, und deren Krone den einzigen Goldschmuck des Raumes ausmachte, fehlte jeglicher barocke Zierrat, den Paul immer als Ausdruck der satten, sinnesfreudigen Frömmigkeit dieses Landstriches empfunden hatte. Als wollte sich die Stille, die sie umgab, in einem langgezogenen Ton enthäuten, fiel in ihr Schweigen ein rhythmischer Gesang ein, den er als >Ave-Maria< erkannte, und der von den ersten Bankreihen herkam. Sechs alte Frauen saßen dort. Die Oberkörper ließen sie im Einklang mit der Gebetsformel schwingen. Sie hatten sich zu einem archaischen Chor zusammengefunden: »Maria, gebenedeite Mutter Gottes, gebenedeite, gebenedeite …«.

    Die Worte hoben ab, schwebten über den dunklen Bänken und füllten den Raum im Rhythmus der pendelnden Körper aus, die Eins zu werden schienen im Gebet. Die physischen Grenzen ihrer faltigen Leiblichkeit waren aufgehoben, als hätten sie sich aufgelöst in dem alles umfassenden Gesang, der die gekalkten Wände, die Bleiglasfenster, die Mutter Gottes im Strahlenkranz und Paul und Alex umschlossen. »So könnten sie hinübergehen, und der Übergang wäre ein leiser Seufzer am Ende ihres >Ave-Maria< «, dachte Paul.

    Er blieb mit Alex im Hintergrund der Kapelle stehen. Beide fürchteten mit jedem Schritt, die Heiligkeit des Augenblicks zu zerstören. Die Bannung, die sie umfing, hielt noch an, nachdem sie die Kapelle wieder verlassen hatten. Als habe es ihnen die Stimme verschlagen, schwiegen sie für eine Weile. Dann setzte Alex an: »Es klang wie das Surren meiner tibetanischen Gebetstrommel.« Paul versuchte, sich aus der Stimmung zu befreien und räusperte sich. »Du hast recht. Ich musste an die Unsterblichkeit des Todes denken.« Beide hatten das Gefühl, das Richtige mit den falschen Worten zu sagen. Als sie mit ihrem Wagen den Ort verließen und an der Kapelle vorbeifuhren, wurde gerade die Tür aufgestoßen, und eines der alten Weiber, das Kopftuch über den grauen Haaransatz geschoben, blinzelte rotgesichtig in die Sonne. »Jo, moi a schoiner Toach«, oder so etwas Ähnliches meinte Paul vernommen zu haben.

    Kapitel 7

    elephantenhäute/ maroder kloster/ enzian in den hirnwindungen/ grimmscher blödsinn/ rrrrrrs und oiiiiiiiis und ssssss/ gottesarme wie blutwürste/ pferdeäpfel sammeln/ ein weib ist kein schiff/ das verwaiste schaf/ in romanischen bögen pinkeln/

    Wölfflers Haus lag etwas abseits von der Straße. Eine sonderbare Mischung aus neubayrischem Bauernhaus Imitat und handgewerkelter Schrebergartenlaube, dekoriert mit zahllosen Überresten aus abgebrochenen Stadeln und Almhütten. Tonnenschwere Steintröge aus Viehtränken gehievt, zerfallenen Kuhställen entrissen, protzten neben den zerborstenen Stümpfen romanischer Säulen, die wohl aus einem maroden Kloster oder einem sanierungsbedürftigen Kirchenschiff entwendet worden waren.

    Ein Grabstein, die Inschrift von der Zeit gelöscht, hatte sich unter einen Leiterwagen verirrt. Kutschen, deren Lackleder Bezüge von den Fährnissen der Jahre zerschunden waren wie die sonnengegerbten Häute der alten Frauen in der Kapelle, standen friedlich zur letzten Ausfahrt vereint in einer offenen Stallung. Ein Sammelsurium von Bruchstücken, Angedeutetem, Abgebrochenem, Umgestürztem, Platziertem und Deplatziertem war wahllos von einer herkulischen Sammelwut zusammengetragen worden, dessen Sinn allein in der Befriedigung der Obsession zu bestehen schien, alles auch nur etwas vom Alter aufgeraute entführen zu müssen. Das Sammelsurium war ja gefunden, abgeschwatzt, verhandelt, abgeluchst, ausgebuddelt, versteckt und klammheimlich wegtransportiert worden. Seilwinden, Traktoren, Sattelschlepper mit hunderten von Pferdestärken waren notwendig gewesen, um einige der tonnenschweren Stücke auch nur einige Zentimeter weit zu bewegen. »Der Mann muss ein Genie im Aufspüren, Feilschen

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