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Das Jahr, das bis heute andauert: Ein Gespräch mit Klaus Siblewski
Das Jahr, das bis heute andauert: Ein Gespräch mit Klaus Siblewski
Das Jahr, das bis heute andauert: Ein Gespräch mit Klaus Siblewski
eBook269 Seiten3 Stunden

Das Jahr, das bis heute andauert: Ein Gespräch mit Klaus Siblewski

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Über dieses E-Book

Eigentlich wollte Franz Hohler nur ein Jahr lang ausprobieren, ob seine Kunst Anklang findet. Entstanden ist ein ganzes Lebenswerk. Seit dem ersten Bühnenerfolg 1965 hat er nicht mehr aufgehört, seine eigenen Ideen zu verwirklichen: als Liedermacher und Kabarettist ebenso wie als Autor von Kinderbüchern, Theaterstücken, Romanen, Erzählungen und Gedichten. Nun blickt Hohler zurück. Im Gespräch mit Klaus Siblewski gewährt er überraschende Einblicke in sein Schaffen, nimmt seine Leserinnen und Leser mit an die Orte und in die Geschichten, in denen er daheim ist. Er erzählt, wie seine Neugier ihm das Leben rettete, wieso General Guisan einst ein Rivale war und weshalb er sich für einen Performance-Künstler avant la lettre hält. Und er erklärt, wie die Tschipo-Kinderbücher, das »bärndütsche Gschichtli« und seine Romane entstanden sind. Von erlebten und erfundenen Geschichten handelt dieser Band, der Hohler als fabulierenden Menschenfreund voller Witz und feinsinnigem Humor zeigt.
SpracheDeutsch
HerausgeberKampa Verlag
Erscheinungsdatum23. Feb. 2023
ISBN9783311703969
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    Buchvorschau

    Das Jahr, das bis heute andauert - Franz Hohler

    »An Scheitern habe ich nicht gedacht«

    Herkommen

    Lass uns mit deiner Familie beginnen, mit deinem Vater, der Mutter. Wer waren sie?

    Mein Vater war Lehrer, meine Mutter war Lehrerin. Sie haben sich im Solothurner Lehrerseminar kennengelernt. Es muss die große Liebe gewesen sein. Beim Aufräumen nach dem Tod der beiden habe ich ihre Liebesbriefe gefunden. Die habe ich aber schnell wieder weggelegt. Ich kam mir wie ein Voyeur vor, selbst bei flüchtigem Lesen.

    Diese Briefe haben die Eltern sich wann geschrieben?

    Nach dem Lehrerseminar, in dem sie sich kennengelernt hatten. Dann beendeten sie ihre Ausbildung als frischgebackene Lehrkräfte, verließen das Seminar und waren an verschiedenen Orten tätig. Meine Mutter war auf dem Brunnersberg, sie hatte dort eine Stelle gefunden. Mein Vater hatte keine feste Stelle.

    Wurden Lehrpersonen damals nicht gebraucht?

    Doch, aber es war eine schwierige Zeit, die Jahre um 1935, das war die Zeit der Arbeitslosigkeit. Mein Vater bewarb sich für ein Stipendium, erhielt es und konnte mit dem Geld für ein halbes Jahr nach Paris gehen. Die Hälfte des Stipendiums musste er zurückzahlen. Er hatte es von der Firma Bally in Schönenwerd erhalten, dort, wo er aufgewachsen war. Bally war der König in diesem Dorf. Das ganze Dorf Schönenwerd hatte bei Bally gearbeitet, schon der Vater meines Vaters war Webermeister in der Bandfabrik Bally gewesen.

    Und in dieser Zeit schrieben sich deine Eltern also Liebesbriefe?

    Ja, aber weniger Briefe, vor allem viele Postkarten. Das war billiger, und geschrieben haben sie diese Postkarten meistens in Stenografie, damit der Postbote sie nicht lesen konnte – wie sie annahmen. Da ich der Stenografie mächtig bin, konnte ich sie lesen, habe aber dieses Lesen nicht lange durchgehalten.

    Dein Vater kam aus Paris zurück, und die Zeit des getrennten Lebens deiner Eltern endete, richtig?

    Ja. Mein Vater bekam eine Stelle in Seewen im Kanton Solothurn. Meine Eltern zogen dorthin, der Krieg war damals schon ausgebrochen. Mein Vater musste dann ins Militär. Er wurde eingezogen, später jedoch als andere Soldaten. Er war wegen einer Krankheit zuerst für dienstuntauglich erklärt worden, wurde dann doch eingezogen und erhielt eine schnelle Ausbildung bei den Flak-Soldaten. Während Vaters Zeit beim Militär hat meine Mutter für ihn seine Lehrerstelle in Seewen übernommen – als seine Stellvertreterin. Sie haben beide gerne und engagiert unterrichtet.

    Du bist aber in Olten und nicht in Seewen groß geworden.

    Das stimmt nicht ganz. Erst nach dem Krieg fand mein Vater eine Stelle in Olten. Ich habe von 1943, bis ich vier Jahre alt war, in Seewen gelebt, erst danach in Olten. Aber wirklich groß geworden bin ich in Olten.

    Wie war Olten damals?

    Olten war eine Kleinstadt und ist es heute noch, aber eine Kleinstadt mit Theater, Kino, einem Orchester – wenn auch einem Laienorchester. Es gab eine Dramatische Gesellschaft in Olten. Und was wichtig für mich war: Ich kam mit urbaner Kultur in Berührung.

    Kam Kultur auch in deinem Elternhaus vor, oder gab es das nur in der Stadt?

    Mein Elternhaus war für mich immer ein Ort, in dem Kultur gelebt wurde. Mein Vater war aktives Mitglied der Dramatischen Gesellschaft und spielte viele Jahre lang Theater. Er war auch jahrzehntelang Redaktor der Theaterzeitung. Darin hat er über Gastspiele am Oltner Theater geschrieben, die ursprünglich im Städtebundtheater Solothurn-Biel oder in den Stadttheatern von Bern oder Basel gezeigt wurden. Die Bürgergemeinde gab zu all diesen Aufführungen ein Heft heraus, in dem die Stücke beschrieben wurden. Auch zu den Konzerten des Stadtorchesters oder der Orchester, die nach Olten eingeladen wurden, entstand jeweils ein Heft. Für diese Hefte schrieb und redigierte er. Er war in einem Sinne aktiv, wie das frühere Lehrergenerationen waren. Dazu gehörte auch, dass er sich beispielsweise in der »Liga gegen Tuberkulose« engagierte. Es gab damals noch mehr Lungenerkrankungen als heute, und mein Vater war eine Zeit lang Präsident dieser Liga. Einige Jahre präsidierte er auch die christkatholische Kirchgemeinde in Olten.

    Bisher hast du hauptsächlich von deinem Vater gesprochen. Wie hast du deine Mutter erlebt?

    Meine Mutter hat sehr gut Geige gespielt. Sie war Mitglied des Stadtorchesters in Olten und spielte jahrzehntelang in diesem Orchester. Ich habe als Gymnasiast auch in diesem Orchester gespielt. Sie war genauso aktiv wie mein Vater. Sie hat sehr viel Unterricht gegeben. Und das in einer Zeit, als es alles andere als selbstverständlich war, dass Frauen vor Klassen standen.

    Welche Art von Stellen hat sie übernommen?

    Sie übernahm mehrmals sogenannte Verweserstellen, das heißt, sie vertrat ein ganzes Jahr lang einen Lehrer, der sich weiterbildete oder seinen Militärdienst leistete. Dessen Stelle hatte sie dann auf Zeit inne. Ich ging einmal selbst ein halbes Jahr zu ihr in die Schule. Beim Aufräumen fand ich übrigens einen geharnischten Brief von ihr, den sie an die Erziehungsdirektion geschickt hatte, die ihr für eine Vertretung einen zu niedrigen Lohn angeboten hatte.

    Und du, warst du tagsüber alleine und bist ohne Eltern groß geworden, oder sind deine Eltern jeweils zur gleichen Zeit wie du aus der Schule nach Hause gekommen?

    Ich habe einen Bruder, der zwei Jahre älter ist als ich. Wir kamen meistens zusammen von der Schule zurück, und wenn wir nach Hause kamen, waren die Eltern oft noch nicht da. Das war aber nicht weiter schlimm. Zu Hause mussten wir als Erstes den Herd mit dem Dampfkochtopf anschalten. Der passende Satz dazu lautete: »Wenn’s pfüüst, Deckel drauf und kleinstellen.« (»Pfüüst« ist ein Mundartausdruck und meint dieses zischende Geräusch, wenn beim Topf der Dampf entweicht.) Bei diesen Töpfen musste man früher noch ein Deckelchen herunterdrücken.

    War es für dich und deinen Bruder schlimm, dass ihr euch selber versorgen musstet?

    Nein, das war für uns selbstverständlich, wir waren geübt darin, das Essen fertig zu kochen. Das konnten wir gut akzeptieren. Wir verstanden auch, dass die Eltern Musik machen und an Sitzungen oder Theaterproben teilnehmen wollten. Kultur gehörte zu ihrem Leben. Und mein Bruder und ich haben ebenfalls sehr früh begonnen, ein Musikinstrument zu erlernen. Mein Bruder Geige, ich Cello.

    Habt ihr euch dagegen zur Wehr gesetzt, neben der Schule ein Instrument erlernen zu müssen?

    Nein, überhaupt nicht. Wir sahen es bei unseren Eltern: Sie unterrichteten, musizierten, und wir haben es als eine Selbstverständlichkeit betrachtet, es wie sie zu machen und ebenfalls ein Musikinstrument zu erlernen. Schon bald konnten wir als Familie Streichquartett spielen. Meine Mutter erste Geige, mein Bruder zweite, mein Vater Bratsche und ich Cello. Wir haben es bis zur »Kleinen Nachtmusik« von Mozart gebracht.

    Und du, hast du als Kind gleich mit Cello begonnen? Du hast ein halbes Cello für Kinder bekommen, nehme ich an.

    In der zweiten Primarschulklasse hatten wir obligatorisch Blockflötenunterricht. Das hat mir gefallen, Blockflöte spiele ich bis heute sehr gerne. Dann fragten mich meine Eltern, welches Instrument ich lernen wolle. Bei uns zu Hause gab es ein Klavier und ein Cello – das meines Großvaters. Als mir diese Frage gestellt wurde, war ich zehn Jahre alt. Ohne zu zögern, habe ich gesagt: »Cello.«

    Die Geschichte dieses Cellos hast du doch einmal erzählt.

    Ja, im Prosastück »Der Vater meiner Mutter« im Buch Das Ende eines ganz normalen Tages. Mein Großvater hatte es nach einer harten Jugend als Verdingkind geschafft, einen Beruf zu erlernen und auszuüben und eine Familie zu gründen. Und als er 42 Jahre alt war, wollte er sich einen Wunsch erfüllen und Cello spielen lernen. Er ließ sich von einem angesehenen Geigenbauer ein Cello anfertigen, ging damit zu einem Cello-Lehrer und erfuhr von diesem, seine Hände seien zu klein für das Cello. Immer wenn er mir das erzählte, zeigte er mir jeweils, dass er den kleinen Finger nicht weit genug spreizen konnte. Er ging dann in einen Mandolinenklub, das Cello aber musste er noch jahrelang abzahlen. Drei Jahrzehnte lang hat es auf mich gewartet. Ich begann auf einem Dreiviertel-Instrument, aber schon bald waren meine Hände samt meinem kleinen Finger groß genug, sodass ich auf das Cello meines Großvaters wechseln konnte. Auf diesem Cello spiele ich noch heute. Und wenn ich meine Chansons sang, begleitete ich mich damit.

    Wann wurden deine Eltern geboren, welche Fächer haben sie unterrichtet, und an welcher Art von Schule haben sie gearbeitet?

    Beide wurden 1915 geboren, beide haben in der Grundschule, die in der Schweiz Primarschule heißt, unterrichtet. Mein Vater hat sich später zum Sekundarlehrer weitergebildet. Und ihre Entscheidung, das Lehrerseminar zu besuchen und keine weiterführende Ausbildung, ein Studium zum Beispiel, anzustreben, hatte mit der damaligen Zeit zu tun. Es waren die Jahre zwischen 1930 und 1935, als sie diese Ausbildung machten. In diesen Jahren war die Schweiz ein armes Land.

    Heute, mit weniger ökonomischem Druck, hätten deine Eltern eine Ausbildung zu Gymnasiallehrern angestrebt, verstehe ich das richtig?

    Ja, in der heutigen Zeit wären sie vielleicht an die Universität gegangen und hätten sich dort für ein Studium eingeschrieben. Meine Mutter hätte vielleicht Musik studiert und mein Vater etwas mit Sprachen, auch Germanistik möglicherweise. Er war ein leidenschaftlicher Leser und besaß am Ende seines Lebens eine große Bibliothek. Aber Anfang der dreißiger Jahre war es schon eine Auszeichnung, wenn man es schaffte, ins Lehrerseminar zu gehen. Das hatten sie beide geschafft.

    Hatten deine Eltern das Gefühl, sie mussten ihre Ambitionen unverdientermaßen aufgeben?

    Nein, meine Mutter war gerne Primarlehrerin, und mein Vater war ein passionierter Pädagoge. Nach seiner Ausbildung zum Sekundarlehrer unterrichtete er auch gerne auf dieser Schulstufe. Die Sekundarschule steht im Kanton Solothurn zwischen der höheren Schule, der »Bezirksschule«, und der Grundschule. Sie fängt diejenigen auf, die die höhere Schule nicht schaffen, die aber auch nicht in der Grundschule bleiben. In der Sekundarschule zu unterrichten, hat er nicht als etwas minder Wertvolles angesehen.

    Welche Fächer hat er unterrichtet?

    Die sprachlichen Fächer, Deutsch, Französisch, aber auch das Fach Geschichte. In den mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern wurde er nicht eingesetzt.

    Wie war sein Unterrichtsstil? Kannst du dazu etwas sagen – du warst ja nie sein Schüler, oder?

    Nein, das war ich nicht, aber ich habe ihn zwei, drei Mal in seiner Klasse besucht und mit den Schülern und Schülerinnen Sprachspiele gemacht. Mein Vater war offen für diese eher künstlerischen Themen im Fach Deutsch. Er hat gerne auch Gedichte gelesen und darüber diskutiert, etwa über »Manche freilich müssen drunten sterben« von Hofmannsthal, was ja nicht die leichteste Kost ist. Ich habe ihn auch einmal auf einer Schulreise auf den Säntis als einer seiner Helfer begleitet.

    Wolltest du denn auch Lehrer werden?

    Die Schule als Berufsfeld hat mich interessiert. Zu der Zeit allerdings, als ich meinen Vater in der Schule besuchte, hatte ich bereits ausgeschlossen, selber Lehrer werden zu wollen.

    Wie alt warst du zu jener Zeit, und warum wolltest du nicht Lehrer werden?

    24 oder 25. Ich war damals bereits mit Erfolg aufgetreten und wollte weiter auf der Bühne stehen und meine Texte schreiben.

    Das Leben in der Schweiz

    Du hast von den dreißiger Jahren in der Schweiz gesprochen. Du selber bist 1943 geboren worden, während des Zweiten Weltkriegs. Wie war das Leben in der Schweiz in dieser Zeit, welche Folgen hatte der Krieg?

    Ich weiß von beidem nur durch die Erzählungen meiner Eltern und meiner Großeltern. Sie sprachen oft über ihr Leben und die Verhältnisse, die sie vorfanden. Mein Großvater väterlicherseits ist in einer Familie aufgewachsen, die einen kleinen Bauernhof bewirtschaftete. Diesen Hof konnte nur eines der Kinder übernehmen, die anderen mussten den Hof verlassen und sich eine Beschäftigung suchen. Mein Großvater erbte nicht den Hof, er hatte dafür eine Ausbildung zum Weber gemacht und hat dann sein Leben lang als Meister in verschiedenen Fabriken gearbeitet, zuerst in Deutschland, in Säckingen. Sein Heimatort war Zuzgen, was nahe an der deutschen Grenze liegt. Um nach Säckingen, heute Bad Säckingen, zu kommen, hatte er einen Weg von anderthalb Stunden zurückzulegen. Morgens um sechs Uhr begann die Arbeit, dann musste er in Säckingen sein. Abends lief er die anderthalb Stunden wieder zurück nach Zuzgen. Alleine diese täglichen Fußmärsche kann man sich heute kaum mehr vorstellen. Danach bekam er eine Stelle in einer kleineren Textilfabrik in der Nähe von Olten, musste jedoch fast sein ganzes Vermögen einbringen, damit er dort arbeiten konnte. Und du ahnst es – es ging nicht gut aus. Der Betreiber dieser Fabrik war übrigens der Großvater des Schweizer Schriftstellers und meines Freundes Christian Haller. Dessen Großvater führte die Fabrik in die Insolvenz. Mein Großvater verlor nicht nur sein Geld, das er in den Betrieb gesteckt hatte, sondern auch seinen Job.

    Weiß Christian Haller davon?

    Ja. Als Christian Haller ein Preis für seinen Roman Das schwarze Eisen (2004) verliehen wurde, in dem er auch vom Untergang der Fabrik erzählt, in der mein Großvater gearbeitet hatte, bin ich beim Empfang nach der Preisverleihung zu ihm gegangen, habe ihm zuerst gratuliert und dann im Scherz gesagt, er müsste mir eigentlich einen Teil des Preisgeldes geben.

    Wie hat er reagiert? Hat er dir etwas vom Preisgeld abgegeben?

    Ach wo, ich hatte das ja nur im Scherz gesagt. Er war aber sehr erstaunt, dass ich von diesen Vorgängen etwas wusste. Er hat mir erzählt, er habe lange nach Details dieser Geschichte gesucht, sei ins Wirtschaftsarchiv des Kantons Solothurn gegangen und habe dort nichts herausgefunden. Auf die Idee, mich zu fragen, war er selbstverständlich nicht gekommen.

    Wie ging es dann weiter mit deinem Großvater?

    Er ging zu Bally in Schönenwerd. Die Ballys stellten damals nicht nur Schuhe her, sie produzierten auch gewebte Bänder. Das war sogar das Erste, was sie in ihrem Unternehmen herstellten. Diese Bänder müssen beliebt und sehr gefragte Artikel gewesen sein. Noch heute gibt es diese kleinen Stoffrechtecke, die im Hemd festgenäht werden, und auf denen steht, dass man es nur mit 30 oder mit 60 Grad waschen soll. Früher waren Stoffstreifen mit bunten Mustern als Schmuck offenbar gut gehende Artikel.

    Wie hoch war der Verdienst in einer Fabrik wie jener der Ballys?

    Der Lohn war äußerst bescheiden, hart an der Grenze des Existenzminimums.

    Und dieser geringe Verdienst erklärt, warum dein Vater ins Lehrerseminar gegangen ist und nicht studierte?

    Ja, für meinen Vater kam ein Studium nicht infrage, weil das Geld dazu nicht vorhanden war.

    Hast du deinen Großvater noch kennengelernt?

    Ja, beide Großeltern habe ich gut gekannt. Mein Großvater väterlicherseits hat mich auch in die Fabrik mitgenommen. Er wollte mir zeigen, wie seine Welt aussah, die Webstühle und die Produktion. Er erklärte seine Arbeit. Ich weiß noch: Die italienischen Arbeiterinnen haben ihm fröhlich zugelacht, und er selber war auch ein fröhlicher Mensch und konnte gut mit dem umgehen, was er hatte.

    Und deine Großmutter?

    Die Mutter meines Vaters war eine humorvolle Person – mit einer stark satirischen Ader. Sie hat etwa Verse für die Unterhaltungsabende des Frauenturnvereins geschrieben. Sie konnte damals um die Jahrhundertwende keine Ausbildung nach der Schule machen. Sie hätte bestimmt Lehrerin werden oder vielleicht studieren können, wahrscheinlicher wäre es gewesen, dass sie Primarlehrerin geworden wäre. Ein Studium für junge Frauen war Anfang des 20. Jahrhunderts praktisch ausgeschlossen.

    Dein Großvater war Webermeister. Was machte deine Großmutter?

    Nach der Schule war sie ein Jahr nach Zürich als Haushaltshilfe gegangen. Nach diesem Jahr ging sie zurück nach Sisseln und hat auch in der Weberei in Säckingen gearbeitet. Dort hat sie meinen Großvater kennengelernt.

    Darüber hast du auch geschrieben.

    Im Prosatext »Importzölle« im Band Fahrplanmäßiger Aufenthalt bin ich der frühen Geschichte dieser Großmutter nachgegangen. Ich hatte mich gefragt, warum die Fabrik in Deutschland lag, die Ballys wohnten nämlich in der Schweiz. Dann habe ich herausgefunden, weshalb sie ihre Produktion nach Deutschland verlagert hatten: Deutschland hatte hohe Importzölle auf Textilien aus der Schweiz erhoben. Die Ballys haben gemacht, was alle Unternehmer in einer solchen Situation tun: Sie haben ihre Produktion nach Säckingen ins Ausland verlegt. Dort mussten sie keine Zölle mehr auf ihre Waren bezahlen. Ich habe meine Existenz also diesen Importzöllen zu verdanken. In dem kleinen Prosastück habe ich dann geschrieben: »In dieser Fabrik hat mein Großvater als junger Grenzgänger (…) gearbeitet, und nicht nur er, sondern auch meine Großmutter, und dort lernten sie sich kennen. (…) und bei dem Gedanken, dass weder ich noch meine Söhne und unsere Enkelkinder auf dieser Welt wären, hätte Deutschland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts diese Importzölle auf Bänder nicht erhoben, werde ich von einem leichten Schwindel erfasst.«

    Das war ein gegen die Schweiz gerichteter Protektionismus.

    Ja. Und wenn ich heute Nachrichten höre oder lese, muss ich manchmal an meine Geschichte denken. Importzölle werden ja immer noch als ein politisches Instrument eingesetzt. Donald Trump hat mit Importzöllen oder mit deren Androhung seine Ziele durchzusetzen versucht. Als ich das hörte, dachte ich: Wer weiß, vielleicht werden jetzt neue Familien gegründet, weil zwei Menschen ihr Land wegen der Arbeit verlassen müssen und sich dann im Ausland kennenlernen.

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