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War Chant 2: Eroberer
War Chant 2: Eroberer
War Chant 2: Eroberer
eBook357 Seiten5 Stunden

War Chant 2: Eroberer

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Über dieses E-Book

Nach der Eroberung durch die Kukurun, sind zwar die Sieger von Odyssey vertrieben, doch dafür herrscht nun unangefochten der War Chant.
Harbinger lebt als Sklavin ohne Erinnerung unter ihnen und fügt sich in ihr Schicksal bis zu dem Tag an dem sie Crawford wiedertrifft, den letzten Sieger von Odyssey.
Schnell beschließen sie, dass es nur einen Weg geben kann: Runter von dieser Insel. Doch ohne Hilfe erscheint das aussichtslos. Verfeindete Rebellengruppen liefern sich erbitterte Kämpfe mit den Eroberern und Harbinger und Crawford werden in einen Krieg verwickelt, den sie eigentlich schon vor langer Zeit verloren haben.

Der zweite Teil der dystopischen Reihe von Nika S. Daveron.
SpracheDeutsch
HerausgeberAmrûn Verlag
Erscheinungsdatum8. Juli 2017
ISBN9783958695764
War Chant 2: Eroberer

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    Buchvorschau

    War Chant 2 - Nika S. Daveron

    War Chant II

    Eroberer

    Nika S. Daveron

    © 2017 Amrûn Verlag

    Jürgen Eglseer, Traunstein

    Covergestaltung: Christian Günther

    Lektorat & Korrektorat: Jessica Idczak

    Alle Rechte vorbehalten

    ISBN – 978-3-95869-561-0

    Besuchen Sie unsere Webseite:

    http://amrun-verlag.de

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    Inhaltsverzeichnis

    War Chant 2: Eroberer

    Impressum

    Eroberer - Teil 1

    Eroberer - Teil 2

    Eroberung.

    Nach der Eroberung begann eine neue Zeitrechnung auf Odyssey. Das Jahr 1 nach der Eroberung, 1 ndE. So heißt die Zeitrechnung jetzt. Odyssey wird nicht mehr von den Siegern beherrscht, sondern von den Eroberern. In ihrer Sprache: Kukurun. Die meisten Bewohner von Odyssey sprechen ihre Sprache nicht, aber sie haben Dolmetscher, damit sie ihren Sklaven Befehle geben können.

    Sie begannen damit, die Überlebenden zusammenzutreiben und zu kennzeichnen. Wir sind nun Eigentum. Ich folge meinem Herrn, wann immer er Begleitung benötigt, doch der Dolmetscher ist der einzige, der das Wort an mich richtet. Akemi heißt mein Herr und er ist ein wichtiger Mann, er trägt die buntesten Papageienfedern, die ich je gesehen habe. Je bunter sich ein Kukurun kleidet, desto wichtiger ist er. Die Sklaven tragen nur Grau, Weiß oder Schwarz, je nach Dienst, den sie verrichten. Ich bin Haussklavin und deswegen trage ich Weiß. Die, die auf den Straßen arbeiten, tragen Grau. Und die Menschen, die wirklich gefährlichen Dinge auf Odyssey tun, Schwarz.

    Akemi gab mir den Namen Turmalina und brandmarkte mich mit seinem Zeichen, einer roten Hand mit fehlendem Ringfinger. Wenn ein Sklave nicht spurt, trennt Akemi ihm den Ringfinger ab. So können sie ihren Dienst noch verrichten, erleiden aber dennoch unsägliche Schmerzen.

    Mein Herr lebt im Bunker, dem ehemaligen Senat der Sieger, unweit von den Trümmern des Käfigs, dessen Stahlstreben wie stumme Mahnmale in der Mitte von Odyssey aufragen. Mitten drin: der War Chant, Kriegsmaschine und Gott der Kukurun. Sie zwangen jeden vor ihm auf die Knie.

    Sie richteten den Käfig für ihn her, denn die Eroberer wollten nicht auf ihr Vergnügen verzichten. Es war nicht einfach für sie, weil der eigentliche Käfig sich nicht ersetzen ließ. So große Stahlstreben gab es auf Odyssey nicht mehr. Doch sie richteten die Tribünen her, soweit es ihnen möglich war, und auch Teile der Katakomben.

    Weil es nur so wenig Überlebende auf Odyssey gab, gingen ihre Bauvorhaben viel zu langsam voran und wir lebten alle noch immer auf derselben Müllinsel, die es vorher gewesen war. So erzählte man es mir zumindest.

    Akemi, auch wenn er nicht mit mir direkt sprach, sagte einmal zu seinem Dolmetscher, er habe mich schon während der ersten Invasion der Eroberer nach Aquarius mitgenommen und mich anschließend zur zweiten wieder mit nach Odyssey gebracht.

    Daran kann ich mich jedoch nicht erinnern. Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist, vielleicht war ich zu klein, um mich daran zu erinnern. Vielleicht stimmt es auch gar nicht. Aber wen kümmert es?

    So lebte ich in Akemis Gefolge im Bunker, einem hässlichen Klotz aus Stein, und war dankbar, dass er kein Interesse an mir zeigte, sondern an einer kleinen Sklavin namens Taruma, die ständig das Bett mit ihm teilen musste. Taruma hätte hübsch sein können, wenn sie nicht nur aus Haut und Knochen bestanden hätte, doch die Kukurun sahen es nicht gern, wenn ihre Sklaven satt waren. Nur hungrige Sklaven waren gute Sklaven.

    Ich verrichtete meine Arbeit in der Küche, räumte den hohen Herrschaften ihre Sachen hinterher und sprach kein Wort. Niemals. Ich war stumm. Ob stumm geboren oder nicht, wusste ich nicht. Aber selbst wenn ich mir Mühe gab, aus meiner Kehle kam nie mehr als ein Krächzen. Daran hatten sich die meisten Sklaven schon gewöhnt, obwohl sich einige Vorwitzige öfter einen Spaß daraus machten, mir Fragen zu stellen, die ich nicht mit einem Nicken oder Kopfschütteln beantworten konnte. Wenn sie das taten, hätte ich sie am liebsten erwürgt, doch Sklaven, die aufeinander losgingen, standen schneller unter Arrest, als sie auch nur »Ich war es nicht« sagen konnten – und ich konnte nicht einmal das.

    Wir mussten Lämmer sein. Lämmer unter Wölfen. Sanftmütig, gehorsam und wenn nötig, dienten wir auch als Nahrungsmittel. Ich wusste, dass die Kukurun Menschenfleisch nicht verschmähten.

    Zum ersten Mal kam ich mit dieser Tradition in Berührung, als ich durch die zertrümmerten Straßen von Soyuz schlich, mit dem Auftrag, einen Fischer herbeizuholen. Der hohe Herr brauchte jemanden, der die Fische ausnehmen konnte, die man in seine Küche brachte. Ich trug ein Papier mit mir herum, das den Befehl meines Herrn beinhaltete und das ich selbst nicht lesen konnte.

    Aus der Ferne hörte ich die allgegenwärtige Musik des War Chants, der eine irre Mischung aus Riesenspieluhr und Kriegsmaschine darstellte. Wann immer er aktiv war, dudelte er seine scheußliche Melodie, die überall auf der Insel zu hören war. Ein frischer Wind verriet mir, dass die Insel sich momentan irgendwo im Norden befand – es war nur sehr selten so kalt. Ich zog meinen weißen Umhang enger um mich und machte größere Schritte.

    Irgendwo zwischen den Trümmern roch ich es: gebratenes Fleisch. Mir lief das Wasser im Mund zusammen. Wie lang hatte ich so etwas nicht mehr gerochen? Abrupt blieb ich stehen und wollte den Ort der Versuchung lokalisieren. Vielleicht konnte ich jemandem etwas von dem Braten abkaufen? Ich besaß ein paar eigene Muscheln und verwahrte sie immer in meinem Kittel.

    Mit Muscheln konnte man hier zwar nur bei Menschen aus Odyssey etwas kaufen, aber es reichte, um sich hin und wieder einen Leckerbissen zu gönnen. Was das betraf, waren die Eroberer kulant. Eigene Muscheln, die man sich dazuverdiente, durfte man auch ausgeben. Sie hatten ein merkwürdiges Gemisch aus drakonischen Strafen und lockeren Regeln, die man übertreten durfte, wenn einem danach war. Damit hielten sie die Sklaven ruhig. Die Ungewissheit war es, wodurch sich kaum jemand irgendetwas traute, denn man wusste nie, ob das Vergehen nun als Nichtigkeit oder als unverzeihliche Straftat behandelt wurde.

    Ich hörte Stimmen: Sie sprachen Kukurun, nicht die Sprache der Sieger, wie man unsere nannte. Mein Mut sank und ich wollte eigentlich in die entgegengesetzte Richtung davonlaufen, als ich die Kreuzung passierte, doch ich blieb stehen.

    »Komm mal rüber, Junge«, brüllte der Dolmetscher, als sie mich sahen.

    Dass ich für einen Jungen gehalten wurde, passierte mir ständig, es lag daran, dass mein Herr Akemi all seinen Sklaven die Haare abrasierte – außer natürlich seiner Bettsklavin.

    Ein paar höher gestellte Herren waren offensichtlich auch dabei, denn ich sah ein paar bunte Kleckse, die sich um ein rauchendes Feuer geschart hatten. An ihren roten Federn erkannte ich, dass sie zum Militär gehörten. Darunter befand sich ein Kopfputz aus roten Federn, der jetzt in der Abendsonne schillerte.

    Ich konnte mich schlecht widersetzen oder ihnen mitteilen, dass ich für Herrn Akemi unterwegs war, also ging ich zögerlich hinüber, während der Dolmetscher schimpfte, warum ich so langsam war.

    Aber ich war wie gelähmt. Der Anblick des frischen Fleischs weckte meinen Hunger, doch die Anwesenheit der vielen Kukurun-Soldaten machte mir Angst. »Willst du was abhaben?«, fragte der Dolmetscher mich.

    Die fünf Kukurun schnatterten aufgeregt und lachten dabei. Dann traten sie beiseite und gestatteten mir einen Blick auf eine junge Frau, die weinend im Staub lag. Ihr Körper krampfte sich zusammen. Sie schluchzte herzerweichend und ich hatte augenblicklich Mitleid mit ihr. Was würden sie ihr antun? Die Frau trug das Grau der Sklaven, doch ihren Kittel hatte man aufgerissen und ihre blanken Brüste blitzten hervor. Hatten sie sie vergewaltigt?

    Zorn kroch in mir hoch und ich starrte den Dolmetscher herausfordernd an.

    »Was is‘ nun?«, fragte er mich in akzentfreier Siegersprache. Ich mochte die Leute nicht, die als Dolmetscher fungierten. Sie benahmen sich nie besser als die Eroberer. Bei uns in der Küche wurde oft über sie gesprochen. Sie waren Abschaum, hatten schnell die Zeichen der Zeit erkannt und waren auf Seiten der Eroberer gewechselt, hatten ihnen Tür und Tor auf Odyssey geöffnet. Unsere Köchin schimpfte ständig über sie und sie zettelte mit allen Dolmetschern Streit an. Deswegen fehlte ihr auch ein Ringfinger.

    Ich deutete artig auf mein Brandzeichen, wie man es von mir verlangte, und wartete. Was hätte ich auch tun sollen? Ich konnte ja nicht sprechen.

    Der Eroberer, der mir am nächsten stand, riss mit spitzen Fingern eine Keule vom Fleisch, obwohl das Feuer irrsinnig heiß sein musste, und stopfte sich ein Stück davon in den Mund. Die Frau schluchzte noch lauter und einer der Soldaten gab ihr einen Tritt. Seine Worte verstand ich nicht. Kukurun war eine grausige Sprache, die in den Ohren schmerzte, und mein Hirn weigerte sich, sie zu verstehen.

    »Das ist ja schön«, sagte der Dolmetscher mit den Schweinsaugen und dem runden Gesicht. »Aber ich hab dich gefragt, ob du was davon willst.«

    Ich schüttelte schnell den Kopf. Irgendetwas ging hier vor sich und ich war mir sicher, dass ich etwas Grausames dafür tun müsste, vielleicht der Frau wehtun oder …

    Der Eroberer mit der Keule schwenkte das Fleisch in meine Richtung und sagte mit vollem Mund ein paar Worte zum Dolmetscher.

    »Er sagt, du sollst was nehmen, es ist genug für alle da.«

    Ich schüttelte nachdrücklicher den Kopf und zeigte nun verzweifelt auf mein Brandzeichen. Könnte ich doch nur sprechen! Ich hätte ihnen eine wortreiche Entschuldigung geliefert, warum ich nichts essen dürfte, nur um dieser Situation irgendwie zu entgehen. Ein anderer Kukurun stand nun auf, gab der am Boden liegenden Frau einen Tritt und kam herüber. Auch er schnatterte etwas. Er sah aus wie ein fetter, böser Papagei. Mit Krummsäbel und einem großen Maschinengewehr.

    »Iss!«, herrschte der Dolmetscher mich an. »Du bekommst so etwas Gutes nie wieder. Die Herren haben dich ausdrücklich dazu aufgefordert!«

    Die Frau krümmte sich auf dem Boden, ihr blondes, schmutziges Haar war voller Algen und Dreck, vermutlich Kot, so wie sie roch. Sie sah fürchterlich aus. Als wäre sie nicht mehr lebensfähig. Die meisten ihrer Zähne hatte sie verloren, das konnte ich sehen, als sie mich nun direkt anblickte.

    Ein merkwürdiges Leuchten huschte plötzlich über ihr Gesicht, als sie ihren zahnlosen Mund öffnete und sagte: »Lauf!«

    Ich wollte tun, was sie sagte, sie musste wissen, was hier geschah oder geschehen würde, doch ich konnte nicht, ich war wie erstarrt. Der Soldat hielt mir die fettige Keule abermals vor die Nase und sagte in der Siegersprache: »Iss.«

    Zögerlich nahm ich den halb abgenagten Knochen entgegen und schaute mich unsicher um. Es hatte zu regnen begonnen und das Feuer zischte aggressiv vor sich hin, während die Augen der Eroberer sich nun auf mich richteten.

    Ich war nicht so naiv zu glauben, dass sie mir einfach so eine Freundlichkeit anbieten wollten, halb erwartete ich, dass das Fleisch verdorben, oder vergiftet sein würde, doch es schmeckte angenehm und war gut gewürzt. Nur hatte ich keine Ahnung, von welchem Tier das sein sollte. Allerdings bekam ich meistens sowieso nur Hund, was wusste ich schon über Fleisch?

    Hunde gab es auf Odyssey in Massen, früher hatte es hier eine Hunderennbahn gegeben. Während der Invasion waren die Hunde von dort entkommen und hatten sich unkontrolliert vermehrt.

    »Schmeckt‘s?«, fragte der Dolmetscher.

    Ich nickte zaghaft und gab die Keule zurück, leckte mir über die Lippen und wartete, was sie sich nun einfallen ließen.

    Die Kukurun stießen sich gegenseitig gegen die Rippen und lachten abscheulich, während sie auf die Frau zeigten, deren Augen nun völlig leer waren. Sabber lief aus ihrem geöffneten Mund und plötzlich würgte sie Galle hervor, direkt auf meine weißen Stoffschuhe, die mir Akemi gerade hatte anfertigen lassen.

    Ich musste mich zusammenreißen, um es ihr nicht nachzutun.

    »Tagar«, blubberte es aus ihrem Mund.

    Ich hätte gerne gefragt, was sie damit meinte, aber als der erste Blitz plötzlich den Abendhimmel durchbrach, wurde es mir schlagartig klar. Das war ein Name. Der Name des … Kindes, das ich gerade gegessen hatte.

    In meinem Gesicht musste sich wohl Erkenntnis abgezeichnet haben, denn die Kukurun fingen an, wie auf Kommando zu lachen und zu prusten, und der Dolmetscher grinste ebenfalls über beide Ohren. Statt nun die Augen zu senken, mich zu übergeben oder mich einfach respektvoll zu entfernen, holte ich aus und schlug dem hässlichen Schweinsgesicht von Dolmetscher die Schneidezähne aus.

    Obwohl ich erwartete, dass die Kukurun mich bald für mein Fehlverhalten zur Rechenschaft ziehen würden, geschah eine ganze Weile überhaupt nichts. Ich lebte mein Leben als Sklavin, das zwar nicht besonders ereignisreich war, aber unter den Umständen immer noch besser als gar nicht zu leben. Ich wusste, wie die Eroberer mit ihren erbeuteten Inseln umgingen.

    Umso erstaunter war ich, dass ich meinen Herrn kaum ein paar Tage später in den Käfig begleiten durfte, was mir bisher nicht erlaubt gewesen war.

    Der Käfig war eine ehemalige Arena, voll mit rotem Sand und einem Gittermuster, das nur noch zur Hälfte stand. Die Eroberer feierten hier ihre prachtvollen Feste für den War Chant und die Opferzeremonien.

    Die Opferzeremonien kannte ich sonst nur vom Hören, mein Herr hatte mich niemals mitgenommen, als wir noch auf Aquarius gelebt hatten. Doch an irgendeinem hohen Feiertag, der mir nicht geläufig war, nahm er mich mit. Nicht nur mich, nein, auch seine liebste Bettsklavin Taruma und ein molliges Mädchen aus der Küche mit schwarzer Haut. Angeblich eine Beute vom Festland. Yarna hieß sie und erzählte manchmal von hohen Bäumen, Tieren, die ich nie zuvor gesehen hatte, Steinen und Konstruktionen von Menschenhand, die bis in den Himmel wuchsen. Wir anderen hatten sie jedoch alle im Verdacht, sich bloß wichtigmachen zu wollen, schließlich wusste jeder Mensch auf dieser oder einer anderen Müllinsel, dass das Festland schon lange im Meer versunken war.

    So marschierte unsere kleine Prozession eines Abends durch die leeren Straßen. Fackelträger wiesen uns den Weg und begleiteten uns hinauf zu den Überresten des Käfigs. Darin stand, golden im Fackelschein glänzend, der War Chant. Gott und Maschine der Kukurun, eine Kriegsmaschine und eine Spieluhr. Seine schaurige Melodie konnte einem den Schlaf rauben, wenn man nachts davon geweckt wurde. Sie besagte nichts anderes, als dass Menschen starben, wann immer sie erklang.

    Mein Herr war in Begleitung einiger anderer hochgestellter Kukurun und beachtete uns kaum. Ich ging am Ende des kleinen Trosses, während Taruma mir einige Informationen über die Hohen Herren gab.

    »Der rechts ist ein Knabenliebhaber. Aber nur ganz junge.«

    Ich schüttelte mich. Ekelhaft. Ich verstand nicht, was jemand in seinem Alter, der Kukurun war bereits ergraut, mit kleinen Jungen im Sinn hatte.

    »Und der andere steht auf ganz ekelhafte Sachen.« Sie kicherte hinter vorgehaltener Hand. »Ich sage nur so viel: Glitschige Fischinnereien spielen dabei eine große Rolle.«

    Ich winkte ab. Aber Taruma schien das nicht zu stören. Wenn man stumm ist, fühlen sich die Leute meistens genötigt, die Stille füllen zu müssen.

    »Ich bin wirklich froh, dass mein Hoher Herr ein ganz normaler Mann ist. Gut, er mag gerne mehrere Mädchen auf einmal, aber …«

    »Psst,« zischte Yarna. »Die Herren hören dich.«

    Schon allein die Tatsache, dass Yarna problemlos unsere Sprache und die der Kukurun sprechen konnte, war für mich ein Zeichen, dass ihre Festlandlüge keinerlei Grundlage hatte. Wieso hätten sie dort unsere Sprache sprechen sollen? Wahrscheinlich war sie nur eine Kukurun, die ihre Freiheit verloren hatte. Auch das gab es im merkwürdigen Konstrukt der Schichten im System der Kukurun und es war nicht selten, dass einer von ihnen aufgrund von Schulden oder Verbrechen seine Freiheit verlor.

    Wir erreichten den Eingang des Käfigs, ein halb zerfallener Torbogen, der vor Ruinen aus Metall stand. Dahinter gab es Tribünen, die, obwohl ich es nicht sehen konnte, dicht gefüllt sein mussten. Die Stimmen der Besucher drangen bis zu uns auf der Straße herunter. Anscheinend war es ein sehr großes Fest.

    Ich wartete, bis mein Herr sich von den anderen Kukurun getrennt hatte und uns herbeiwinkte.

    Lediglich ein zweiter Mann begleitete uns. Er trug elegante grüne Federn am Gürtel und im Haar. Seine Haut war weiß bemalt.

    »Mitkommen«, brummte er. Es war selten, dass überhaupt ein Eroberer unsere Sprache konnte.

    Ich folgte dem kleinen Trupp durch das Tor, wo wir bereits von weiß verschleierten Dienerinnen in eine Loge gelotst wurden. Mein Herr hatte viel Einfluss auf Odyssey, er besaß sogar eine Privatloge, wo bereits ein Festmahl aufgefahren wurde. Einziger Nachteil: Man saß sehr tief, sodass man zum War Chant aufsehen musste, der nun mit einem Ruck zum Leben erwachte.

    Mein Hoher Herr nahm auf einer Liege Platz und forderte Taruma auf, sich auf den einzigen Stuhl in der Loge zu setzen. Yarna und ich blieben an der Brüstung stehen und schauten hinunter in den roten Sand. Wie er sich wohl anfühlen mochte? Ich hatte noch nie Sand berührt.

    Die Fackeln im Käfig wurden erstickt und ließ seinen Kopf rotieren, begleitet vom Chor der begeisterten Eroberer, die seinen Namen skandierten. Mich ließ dieses Ding nur erschaudern. Mir wäre nicht im Traum eingefallen, ihn zu bejubeln, solange mich niemand dazu zwang.

    Ein Kukurun mit einem Kopfputz aus roten Federn, reckte die Faust aus seiner Loge und brüllte ein paar Worte.

    Aus einem weiteren Tor, das in ein noch intaktes Gebäude führte, wurden zwei Gefangene geführt. Bei einem von ihnen stockte mir der Atem: Es handelte sich um einen kaum zehnjährigen Jungen. Er war klein und dürr, hatte schwarzes Haar und dunkle Haut. Der andere war ein Sieger, das erkannte ich an seinem Ledermantel und der Mütze, die er falsch herum trug. Vielleicht war er auch kein Sieger und sie hatten ihn nur in eine Siegermontur gesteckt.

    Ich wusste, wie die aussahen, mein Hoher Herr hatte meine Anwesenheit befohlen, als er einige von ihnen aus ihren Häusern vertrieben hatte. Der Dolmetscher hatte mir versichert, dass es die letzten von Odyssey waren.

    Wieder laute Rufe von Seiten der Kukurun, dann drehte sich der War Chant gemächlich zu seinen Opfern um. Ob ihn jemand steuerte, konnte ich nicht sagen, ich hatte gehört, dass er eine eigene Intelligenz besaß. Ob das aber wirklich so war, konnte ich natürlich nicht nachprüfen.

    Der vermeintliche Sieger rannte los, in Richtung der hohen Metallgitter des ehemaligen Käfigs. Auf der anderen Seite hielten die verschleierten Kämpfer der Kukurun Wache und sorgten dafür, dass niemand einfach so ihre Arena verließ. Der Mann rannte schnell, der Junge hingegen blieb einfach stehen. Ich konnte sein Gesicht zwar nicht sehen, doch ich war mir sicher, dass er Todesangst hatte.

    Ich konnte noch im letzten Moment die Augen schließen, als ein Jubelschrei durch die Kukurun ging. Ich öffnete meine Augen erst nach einer ganzen Weile wieder. Der Junge war fort. Nachdem der War Chant sich wieder in Bewegung setzte, erkannte ich den matschigen Fleck im Sand des Käfigs, der aus Knochenresten, Fleisch und Gedärmen bestand. In einer einzigen Sekunde hatte der War Chant sich das erste Leben geholt, das man ihm versprochen hatte. Und ich hatte keine Zweifel daran, dass er sich auch noch das zweite holen würde.

    Über die Treppe kam der Eroberer, der unsere Sprache beherrschte, zu uns herauf und vertrieb Taruma von ihrem Stuhl, was mein Herr missbilligend mit ansah. Rasch holte er seine Lieblingssklavin zu sich auf die Liege, wo er an ihren Brüsten herumfingerte, während er Yarna fortschickte. Sie verschwand daraufhin und ich beneidete sie im Stillen dafür. Etwas zu tun zu haben, bedeutete auch, woanders hinsehen zu dürfen.

    Während ich mich bemühte, meinen Blick auf die halb eingestürzte Tribüne gegenüber zu richten, bemerkte ich zunächst nicht, dass in meiner Loge nur noch geflüstert wurde. Als wollten sie nicht, dass ich etwas mitbekam. Wie lächerlich, wem hätte ich es erzählen sollen?

    Ein Aufschrei ging durch das Publikum, dann stampfte der War Chant beinahe gemütlich mit gedämpfter Melodie in die Mitte des Runds und ließ den Rumpf rotieren.

    Ich sah gerade noch, wie er eine blutige Klinge zurückzog, dann gab es plötzlich einen Tumult auf den oberen Reihen. Laute Buhrufe durchzogen die Nacht und es wurde sogar Müll in den Sand geworfen.

    Mein Herr sprang auf und beriet sich schnatternd mit dem anderen Kukurun. Jetzt war sogar Tarumas Busen vergessen, den sie nun auch hastig wieder bedeckte und ängstlich zurückwich.

    Schnaufend kehrte Yarna mit einem Krug zurück. Wahrscheinlich Wein oder Schnaps. Die Kukurun bauten sowohl Getreide als auch Wein an.

    Mit einer Verbeugung reichte sie dem Hohen Herrn den Krug, doch der schlug ihn ihr aus der Hand.

    Er packte Yarna am Kragen und schleifte sie an mir vorbei zur Brüstung. Ich sah die Panik in ihren Augen, wollte erst meine Hand nach ihr ausstrecken, doch meine innere Stimme hielt mich zurück. Mein Herr brüllte lauter als die wütende Meute, die daraufhin verstummte. Anschließend skandierten sie seinen Namen, als er Yarna mit erstaunlicher Kraft über die Brüstung warf. Obwohl wir nicht hoch saßen, hörte ich doch das unheilvolle Knacken, und als ich hinunterschaute, bemerkte ich, dass ihr Arm in einem fürchterlichen Winkel abstand.

    Weinend kroch Yarna durch den Arenasand und flehte in der Sprache der Kukurun um Vergebung. Doch statt Gnade walten zu lassen, wurden plötzlich mehr und mehr Sklaven in die Arena geschleift. Manche Eroberer taten es wie mein Hoher Herr und warfen ihre Sklaven einfach kopfüber aus den Logen. Ich sah einen, dem sofort das Genick brach. Andere schleppten sie persönlich bis hinunter in den Sand.

    Erschrocken trat ich von der Brüstung zurück, als die Musik des War Chants aufjaulte, doch der zweite Kukurun, der Gast meines Herrn, packte mich am Genick und schob mich nach vorn. Halb erwartete ich, dass er mich ebenfalls hinunterwerfen würde, doch er sagte nur: »Anschauen.«

    So musste ich mir den gesamten Rachefeldzug des War Chants an den Menschen ansehen. Wie er sie verbrannte, zerbrach, zersägte und ganz zum Schluss Yarnas Schädel unter seinem riesigen Fuß zermalmte. Applaus brandete von den Tribünen auf. Erst dann lockerte der Kukurun den Griff um meinen Nacken. »Hättest du sein können, Sklavin!«

    Als ich zurücktrat, sah mein Herr mich auf merkwürdige Weise an. Er sagte zwei Worte zu dem anderen Kukurun und der klärte mich auf: »Böse Sklavin.«

    Ich erstarrte. Er wusste es also …

    Ich bezahlte für meinen Frevel, wenn auch nicht in dem Maße, als hätte ich einen Eroberer geschlagen. Odysseys Einwohner waren so gut wie vogelfrei und auch die Dolmetscher hatten da einen nur wenig besseren Stand, auch wenn sie gerne so taten. Ich wurde entsprechend meines Vergehens weggesperrt und drei Tage in einer dunklen Kammer gelassen. Morgens warf man mir einen Schwamm in die nasse Zelle, damit ich nicht verdurstete, und ansonsten kam niemand. Und Akemi sprach, nachdem er mich hervorgeholt hatte – natürlich mit ein paar mahnenden Worten seines Dolmetschers, nie wieder darüber. Doch ansonsten geschah nichts. Wenn man mal davon absah, dass Schweinsgesicht von diesem Tag an auf der Lauer lag, um mich zu erwischen. Das erzählte mir jedenfalls Budysa, eine Küchensklavin, die als eine der wenigen manchmal mit mir sprach. Niemand hatte Lust darauf, sein Gespräch einseitig zu bestreiten, aber Budysa hörte sich sowieso am liebsten selbst reden und hatte kein Problem mit mir.

    »Wirklich, Turmalina«, sagte sie, kurz nachdem man mich aus der Zelle geholt und in die Küche geschickt hatte. »Der Kerl sucht nach dir. Sieht fürchterlich aus, die ganze Fresse verschmiert, die Lippen aufgeplatzt und alle Vorderzähne ausgeschlagen. Ich habe selten so gelacht wie heute Morgen, wo ich ihn direkt vor dem Bunker angetroffen habe.«

    Als sie mein zweifelndes Gesicht bemerkte, fügte sie hinzu: »Dir passiert schon nichts. Der Hohe Herr Akemi musste dich nur bestrafen, weil du das Eigentum von einem Eroberer beschädigt hast. Sonst nichts. Das ist, als hättest du einem von den Bunker-Kukuruns den Teppich verschmutzt. Wenn der Dolmetscher dich anfasst, werden Akemis Sklaven dich beschützen, darauf kannst du Gift nehmen.«

    Gerne hätte ich ihr von dieser ekelhaften Szene in der Gasse erzählt, um sie zu warnen, aber das ging ja nicht. Und sicher war ich mir auch nicht, was die Sklaven tun würden, wenn mich Schweinsgesicht wirklich jagen sollte. Allerdings konnte ich mich ja anscheinend auf meine Faust verlassen. Mit einem einzigen Schlag vier Zähne zu erwischen und eine Lippe zum Aufplatzen bringen, war ja immerhin auch etwas. Ich blickte auf meine schmutzigen Hände hinab und schüttelte mich. Als könnte ich Schweinsgesichts Spucke noch daran riechen. Ich brauchte dringend ein Bad.

    »Wirst du heute Abend noch irgendwo gebraucht?«, fragte Budysa mich.

    Ich schüttelte den Kopf.

    »Dann geh ins Bett. Ich kann den Käse auch ohne dich schneiden.«

    Ich nickte ihr zu und stand auf. Woher hatte sie nur den Käse? Die Eroberer hatten viele Dinge mitgebracht, die man hier kaum kannte. Käse … Ich erinnerte mich zwar nicht an meine Mutter als Person, aber an ihre Worte: »Käse gibt es nur an hohen Feiertagen, Kleines. Wenn du dir einen davon wegnimmst, werde ich böse. Hast du das verstanden?«

    Ich musste sehr klein gewesen sein, als sie das zu mir sagte, denn ich nahm an, dass meine Mutter wohl nicht jahrelang mit mir gesprochen hätte, als wäre ich ein dummes Kleinkind. Obwohl ich nicht sehr viele Erinnerungen an die Zeit vor den Eroberern hatte, zwei Szenen waren mir stets präsent: Ein Junge, der auf einer Veranda saß und mich anlächelte, und ein Mann. Wer der Junge war, wusste ich nicht. Aber wenn ich an ihn dachte, fühlte ich mich geborgen. Aber nicht glücklich.

    Glücklich machte mich die andere Szene: eine Stimme. Eine Berührung. Ein Mann. Er nahm mich in seine Arme und ich fühlte mich … beschützt. Frei.

    Seltsam, dass die Gefühle voneinander getrennt waren. Geborgen fühlte ich mich bei dem Mann nämlich nicht. Nur bei dem Jungen. Vermutlich war ich einfach nur verrückt. Oder man hatte solche Träume ganz automatisch, wenn man Sklave wurde.

    Ich schleppte mich müde und ausgezehrt in mein Bett und schlief lange und traumlos. Als ich am nächsten Morgen erwachte, war niemand da, der mich abholte. Normalerweise stand bereits

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