Der Greif von Xanthia: Erzählung
Von Katja Brandis
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Buchvorschau
Der Greif von Xanthia - Katja Brandis
1. Kapitel
Es gab Tage, da fehlte Nor sogar die Kraft, die Sonne zu begrüßen. Wenn die Dunkelheit wich und ein goldener Schimmer die Bergspitzen überzog, stellte er sich in Position und spreizte die Flügel, so wie es Sitte war. Doch kaum hatte sich Jar’khar, das Licht der Seele, über den Horizont erhoben, sank Nor wieder in sich zusammen, um sich mit angezogenen Flügeln auf den Sims seines Horsts zu kauern. Nicht mal Jar’khar schaffte es, seine Seele zu erhellen.
Manchmal war er kurz davor, Steine zu fressen. Sie einfach mit dem Schnabel aufzunehmen und hinunterzuwürgen, bis sein Körper so schwer wäre wie die Felsen auf denen er hockte. Vielleicht wäre es eine gerechte Strafe, dass er dann nicht mehr würde fliegen können und stattdessen in die Tiefe hinabstürzen. Bisher war er noch nicht entschlossen genug gewesen, diesen Weg zu wählen, doch der Gedanke daran verließ ihn nie. Die Schuld, die Nor auf sich geladen hatte, wog schwerer als jeder Stein.
Ein scharfer, kalter Wind fegte um die kahlen Gipfel und zauste die Federn seiner Flügel. Doch Nor bemerkte es kaum, zu versunken war er in seine Gedanken. Auch für den eisblauen Himmel, der sich über ihm wölbte, hatte er keinen Blick übrig. Eigentlich hätte er zur Jagd fliegen müssen, er hatte schon seit zwei Wochen keine Beute mehr gemacht, aber der Hunger war nur ein fernes Unwohlsein ohne jede Bedeutung.
Erst ein seltsames Kratzen ließ ihn aufmerken. Es war ein Geräusch, das nicht hierhergehörte. Da war es wieder und dazu ein metallischer Laut, als pralle Eisen auf Eisen. Seine feinen Sinne vernahmen eigenartige Töne, fast klangen sie wie Worte.
Menschliche Worte!
In einer einzigen geschmeidigen Bewegung war er auf den Beinen. Die Federn an seinem Kopf hatten sich gesträubt und er hielt den halb geöffneten Schnabel drohend erhoben. War es Zufall, dass Menschen ausgerechnet diesen Berg erkletterten, auf den er sich zurückgezogen hatte – oder suchten sie nach ihm, wollten ihn in Ketten zurückbringen? Die Wut belebte Nor und er spürte, wie das Blut heiß durch seinen Körper kreiste. Noch war er stark. Wehe dem Elenden, der ihn herausforderte! Niemals, niemals würde er dulden, dass sie ihn straften.
Eine Art Spinne aus Metall, mit spitzen Haken versehen, flog auf das Felsplateau, kratzte über Stein und Eis, verhakte sich in einer Felsspalte. Keuchend wuchtete sich eine dick gewandete Gestalt über die Kante des Plateaus, kroch schwerfällig voran, richtete sich auf. Es war ein junger Mann, erkannte Nor. Anscheinend unbewaffnet, er trug weder Schwert noch Speer. War er allein? Oder folgte gleich noch eine Kompanie Soldaten? Nein, das hätte er sicher gehört.
Wieder leise Worte. Ja, da waren noch Menschen, anscheinend zwei. Aber sie machten keine Anstalten, ebenfalls zu ihm hochzuklettern.
Nor breitete die mächtigen schwarzgoldenen Flügel aus und warf den Kopf zurück. Scharf und klar schnitt sein Ruf durch die frostige Luft. Wer diese Warnung nicht beachtete, war selbst schuld.
Wenn er wollte, konnte Nor diese jämmerliche Gestalt in den Abgrund fegen – und der junge Mann wusste es, steif und verkrampft stand er am äußersten Rand des Plateaus. Er trug ein dickes Wams aus Kehano-Fell und seine Pelzmütze verbarg einen Teil seines Gesichts. Aber Nor erkannte wache blaue Augen und ein eckiges Gesicht mit blasser Haut, hohen Wangenknochen und einem spitzem Kinn.
„Was willst du hier?", forderte Nor ihn schroff heraus. Die Sprache Xanthias war seiner Zunge fremd geworden und es fühlte sich ungewohnt an, zu sprechen. Wie lange war es überhaupt her, dass er einem Menschen begegnet war?
Der junge Mann schluckte, suchte nach Worten. Sein Blick wanderte über das kleine Plateau, über die Rinnen im Gestein, die von Nors Krallen stammten, über den Haufen gebleichter Berghirsch-Knochen, über die leere Kuhle im Stein, in der kein einziges Juwel mehr ruhte und