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Transit Barby: Schwierige Wege einer Liebe
Transit Barby: Schwierige Wege einer Liebe
Transit Barby: Schwierige Wege einer Liebe
eBook540 Seiten7 Stunden

Transit Barby: Schwierige Wege einer Liebe

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Über dieses E-Book

Ende August 1961, zwei Wochen nach Schließung der Grenze zwischen der BRD und der DDR. Auf dem Grenzbahnhof Oebisfelde meldet sich der 19-jährige Westdeutsche Peter Köster bei den Grenzsoldaten und erklärt, in die DDR übersiedeln zu wollen, um dort mit seiner 17-jährigen Freundin Jutta, die er während eines Besuches in der DDR kennen- und lieben gelernt hatte, gemeinsam leben zu können.
Er wird in das Aufnahmeheim Schloss Barby gebracht, wo Übersiedler und Rückkehrer aus der BRD einer scharfen Prüfung durch die Stasi unterzogen werden. hier freundet er sich mit dem Studenten Christian Schirmer an, der nach Verhaftung nach Barby gebracht worden war, wo er darauf wartet, wie über ihn entschieden wird. Beide wissen nicht, ob ihre Freundinnen, zu denen sie keinen Kontakt aufnehmen dürfen, noch zu ihnen halten werden. In dieser quälenden, von Langeweile und Hoffnung geprägten Situation versuchen sie, sich gegenseitig Mut zuzusprechen.
Zu ihnen gesellt sich das Mädchen Anne Kessler, die sich alsbald heftig in den 17-jährigen westdeutschen Schüler Michael Gräfe verliebt, der als glühender Anhänger der kommunistischen Ideen mithelfen will, diese in der DDR zu realisieren.
Nach Verhören durch die Stasi droht Peter Kösters Übersiedlungsplan schließlich jedoch zu scheitern, da man in seinem Gepäck eine Schreckschusspistole mit Munition gefunden hat.
Die Geschehnisse im Schloss Barby spitzen sich zu, als Michael Gräfe eines Tages überraschenderweise in den Westen zurückgeschickt wird, worauf Anne Kessler versucht, sich das Leben zu nehmen. Zur gleichen Zeit wird unerwartet schnell über Peter Kösters Antrag entschieden.
SpracheDeutsch
HerausgeberTWENTYSIX
Erscheinungsdatum7. Apr. 2017
ISBN9783740773328
Transit Barby: Schwierige Wege einer Liebe
Autor

Rolf Fricke

Rolf Fricke wurde in Lemgo geboren und arbeitete zunchst als Angestellter einer Finanzbehörde und eines kommunalen Verkehrsunternehmens. Nachdem er auf dem zweiten Bildungsweg sein Abitur gemacht hatte, studierte er in Dresden und Berlin Physik. Nach dem Diplom arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter in einem Forschungsinstitut in Berlin, nach Promotion und Habilitation schließlich als Leiter einer Forschungsgruppe. Sein erster Roman "Transit Barby" wurde bei einem Wettbewerb einer Schweizer Kulturstiftung 2016 in Zürich mit einem zweiten Preis ausgezeichnet.

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    Buchvorschau

    Transit Barby - Rolf Fricke

    Kapitel

    1. Er müsse warten, hatten die Soldaten ihm befohlen, und waren gegangen. So stand er also nackt und reglos, wie abgestellt, in diesem kahlen, trostlos wirkenden Raum und wartete, endlos lange schon, wie ihm schien. Die Luft war stickig und roch nach geöltem Fußboden und kaltem Zigarettenrauch. Außer einem brüchig wirkenden großen Tisch und zwei einfachen Holzstühlen gab es kein weiteres Mobiliar. Die Wände waren brusthoch mit dunkel lackiertem Holz verkleidet. Darüber, bis zur Decke, war die Wand mit Tapete beklebt, deren Farbe unter dem jahrelangen Ansturm von Tabakqualm vergilbt war. Ihr Muster war selbst im Licht der einzigen Neon-Lampe nicht mehr zu erkennen. Die Lampe leuchtete den großen Raum nur dürftig aus. An den Wänden hingen einige Bilder. Aus der Entfernung waren Landschaften zu erkennen. Der Raum musste einmal der Warteraum des Bahnhofs gewesen sein.

    Es war schon nach Mitternacht. Der Interzonenzug war längst abgefahren. Der Bahnsteig war weiterhin voll erleuchtet. Durch die schweren Vorhänge der Fenster trat kaum ein Lichtschimmer in den Raum. Die absolute Stille wirkte gespenstisch, so dass er sich kaum zu bewegen wagte. Die beiden Grenzsoldaten hatten nur seine Ausweise mitgenommen. Sein Gepäck, ein Koffer und ein Rucksack, stand noch ungeöffnet neben dem Tisch.

    Die Hitze des Tages steckte noch im Haus, aber seine Müdigkeit, die sich wie eine dünne Schicht auf die Haut gelegt hatte, ließ ihn dennoch frösteln. Seine Kleidung hing noch so über einem der Stühle, wie er sie hatte ausziehen müssen - die Jeans zuerst und zum Schluss die Unterhose. Die Schuhe standen neben dem Stuhl. Alle Teile waren während seines Entkleidens sorgfältig von den Soldaten untersucht worden. Was sie gesucht hatten, wusste er nicht. Wahrscheinlich war es nur Routine. Einzig die Socken hatte er nicht ausziehen müssen. Er wusste nicht, ob sie deren Überprüfung vergessen hatten. Vielleicht hatten sie ihm auch nicht zumuten wollen, mit nackten Füßen auf dem verschmutzten Fußboden ausharren zu müssen.

    In diesen Socken steckte sein letztes Geld.

    Die Zeit wurde ihm lang. Sie hatten ihm nicht erlaubt, seine Sachen wieder anzuziehen. Und so kam er sich, vollständig nackt, mit Socken an den Füßen und auf irgendetwas Unbestimmtes wartend, lächerlich vor. Auch dann, als er, nur um sich zu bewegen, zur Wand ging und nacheinander die Bilder betrachtete, veränderte sich dieses Gefühl nicht. Es waren Aquarelle, bunte Landschaften, die ihm nichts sagten, und ihn auch nicht von seiner misslichen Lage ablenkten. Aber eigentlich wollte er auch keine Ablenkung. Er wollte nur, dass ihm endlich jemand sagte, was weiter mit ihm geschehen würde.

    Darüber hinaus verspürte er schon seit einiger Zeit einen beständigen Druck auf seiner Blase. Und je mehr er daran dachte, desto stärker wurde dieser.

    Dann, das Warten schien ihm unerträglich lange gedauert zu haben, kamen die beiden Soldaten zurück. Erst jetzt bemerkte er, dass sie kaum älter waren, als er selbst. Es war wohl die Uniform gewesen, die sie hatte älter erscheinen lassen. Sie waren von stark unterschiedlicher Statur, groß und untersetzt der eine, während der andere, fast einen Kopf kleiner, eher wie ein Schüler wirkte. Ihre grau-grüne Uniform erinnerte ihn an die Uniformen der Wehrmacht, wie er sie in Kriegsfilmen gesehen hatte. In Dienstgraden kannte er sich nicht gut aus. Er wusste aber, dass man als Soldat erst dann etwas darstellte, wenn man Sterne auf den Schulterstücken hatte. Diese beiden hatten keine Sterne. Der Große musste sich mit einem Balken begnügen, beim Kleinen umrahmte zusätzlich ein breiter silberner Streifen die Schulterklappen.

    Schließlich standen sie schweigend vor ihm. Der Kleine öffnete einen Ausweis und blätterte mit unbewegtem Gesicht die wenigen Seiten hin und her. Dann richtete er seinen Blick abwechselnd prüfend auf das Ausweisphoto und das Gesicht seines Gegenüber, als müsse er sich nochmals von der Identität dessen überzeugen, was er da sah.

    „Sie heißen Peter Köster?"

    „Ja."

    „Und sie wollen in die DDR übersiedeln?"

    Der Kleine fragte in einem unbeteiligten, dienstlichen Ton. Sein Gesicht zeigte keine Regung, seine Augen verrieten jedoch volle Aufmerksamkeit. Peter Köster, um jeden Zweifel an seiner Absicht von vornherein auszuschließen, antwortete schnell und entschlossen:

    „Ja, für immer."

    Die beiden schauten sich vielsagend an. Dann wies der Große auf den Koffer:

    „Dann öffnen sie mal ihren Koffer."

    „Kann ich mich vorher vielleicht wieder anziehen? Mir ist nämlich kalt."

    Der Kleine nickte unbeteiligt, als habe er gar nicht bemerkt, dass Peter Köster noch immer nackt vor ihm stand. Dieser nahm seine Sachen vom Stuhl, zog sich an und genoss die wohlige Wärme, die sich sogleich auf seiner Haut ausbreitete.

    Während er seinen Gürtel sorgfältig festzog, dachte er schon an die bevorstehende Kontrolle. Eigentlich hatte er keine Dinge im Gepäck, die Anstoß erregen sollten. Aber von früheren Besuchen in der DDR wusste er, dass es dafür eine undefinierte Grauzone gab. Es hing oft von den Kontrolleuren ab, ob Sachen beanstandet wurden oder nicht.

    Er hob den Koffer auf und legte ihn auf den Tisch. Er war prall gepackt, und es kostete ihn einige Kraft, den Riemen zu lösen. Die beiden kleinen Kofferschlösser hatte er zusätzlich verschlossen, obwohl er wusste, dass diese leicht auch ohne Schlüssel zu öffnen waren.

    Während er den Koffer aufschloss und den Deckel aufklappte, vermied er es, die Uniformierten anzusehen. Er wusste, dass sie ihn beobachteten, wollte aber vermeiden, dass sie seine Unsicherheit bemerkten, eine Unsicherheit, die sich bei ihm alleine aus der Unwissenheit über die Dinge speiste, die vor ihm lagen.

    Mit unbeteiligter Miene begann der Kleine jetzt, nacheinander jedes Kleidungsstück aus dem Koffer zu nehmen. Nachdem er es kurz angeschaut hatte, reichte er es ohne Kommentar an seinen Kollegen weiter. Der schüttelte jedes Teil einzeln, als wolle er es entstauben. Danach knüllte er es sorgfältig mit beiden Fäusten zusammen, hier und da suchend nachfühlend, und legte es schließlich im Kofferdeckel ab, wo sich alsbald ein ungeordneten Haufen auftürmte. So wurde nach und nach Schicht für Schicht seiner Sachen ausgepackt, ohne dass dabei auch nur ein einziges Wort gesprochen wurde.

    „Ach, sieh mal einer an!"

    Die Stimme des Kleineren klang lebhaft überrascht, als er seinen Kameraden auf einen kleinen Stapel Schallplatten aufmerksam machte, die zwischen den Wäschestücken lagen. Es waren Peter Kösters aktuelle Lieblingsplatten, überwiegend kleine Single-Scheiben aus den letzten zwei Jahren: Fats Domino, Elvis Presley, Cliff Richards, Everly Brothers und einige andere.

    Insbesondere die Hüllen, auf denen Photos der Sänger zu sehen waren, wurden ausführlich betrachtet. Es war offensichtlich, dass ihnen die Stars nicht unbekannt waren.

    Ohne Beachtung blieb eine Langspielplatte mit dem 1. Klavierkonzert von Tschaikowky.

    Es dauerte einige Zeit, bis sie alle Platten genau inspiziert und sorgsam neben dem Koffer abgelegt hatten.

    „Die müssen wir noch genauer überprüfen", erklärte der Kleine mit leichtem Grinsen, was Peter Köster befürchtete ließ, dass er sie nie wiedersehen würde.

    Die beiden Soldaten hatten die Inspektion des Koffers fortgesetzt, fanden aber nichts, was ihre Aufmerksamkeit erregt hätte.

    Der Koffer war jetzt leer. Der Versuch, irgendwo unter dem Futter noch ein Geheimfach zu entdecken, erwies sich als erfolglos. Peter Köster durfte nun seine Kleidungsstücke wieder zusammenlegen und im Koffer verstauen. Obwohl die Schallplatten fehlten, hatte er beim Zudrücken des Deckels einige Mühe.

    Die beiden Soldaten schauten teilnahmslos zu, bis er fertig war.

    Als endlich die Kofferschlösser wieder zuschnappten, befahl der Kleine, der offensichtlich das Kommando hatte:

    „Jetzt der Rucksack."

    Der Rucksack war aus festem, aber bereits verschlissenem, khaki-grünem Tuch. Er hatte mehrere kleine Außentaschen, die mit Lederriemchen verschlossen waren. An diesen Taschen waren Städtewappen aus Stoff aufgenäht: Köln, Verdun, Paris, Kopenhagen, Malmö, Stockholm - Souvenirs seiner Tramper-Reisen.

    Der Rucksack war wie der Koffer prall gefüllt, die Riemchen waren alle im letzten Loch befestigt. In der mittleren, großen Außentasche hatten sich auch Personalausweis und Reisepass befunden, die er schon bei seiner Ankunft hatte abgeben müssen. Weitere Dokumente und Papiere, wie Photos seiner Eltern und Geschwister, Briefe seiner Freundin, sowie verschiedene Zeugnisse und andere Papiere musste er jetzt auf den Tisch legen. Der Kleine legte alle diese Sachen in ein kleines Plastekörbchen und erklärte unmissverständlich, dass er diese Dinge erst zwecks einer ‚genaueren Prüfung‘ dem verantwortlichen Genossen vorlegen müsse. Peter Köster war überrascht und unangenehm berührt, denn die Vorstellung, dass dieser verantwortliche Genosse die Liebesbriefe seiner Freundin lesen würde, gefiel ihm nicht.

    Die Überprüfung von Gepäck gehörte offensichtlich zur Routine der beiden Soldaten. Sie zeigten keine Ungeduld und erwarteten von ihm eine ähnliche Einstellung. Kleidungsstücke wurden in gleicher Weise wie zuvor ausgeschüttelt und, auf der Suche nach eingenähten Dingen, noch einmal mit beiden Händen abgetastet. Dinge, die zwischen den Wäschestücken lagen, wurden beiseite gelegt.

    So verlief die Kontrolle des Rucksacks zunächst in geschäftiger Stille, bis der Kleine plötzlich eine überraschten Ruf ausstieß:

    „Da schau her. Was haben wir denn hier?"

    Triumphierend schaute er Peter Köster an und hielt ihm einen Chrom-glänzenden Gegenstand entgegen. Es war eine Pistole, die er zwischen Peter Kösters Unterhemden gefunden hatte.

    Der Kleine schien keine Antwort von Peter Köster zu erwarten, zu offenkundig und klar war das, was er da gefunden hatte. Er betrachtete die Pistole kurz, und reichte sie dann mit frohlockendem Gesichtsausdruck seinem Kameraden.

    Der Große behandelte sie mit großer Vorsicht und vermied es, den Lauf auf einen der Anwesenden zu richten. Nach einer kurzen Sichtung reichte er die Waffe wortlos an seinen Vorgesetzten zurück, der die Inspektion stumm, aber interessiert, wiederholte. Beide wirkten irritiert und unsicher. Ihren angespannten Gesichtern war anzusehen, dass sie krampfhaft überlegten, was sie als nächstes tun sollten. Dann, nach kurzem Überlegen, wandte sich der Kleine entschlossen an Peter Köster:

    „Haben sie dafür auch Munition?"

    „Ja, die muss auch hier im Rucksack sein", antwortete dieser und begann, ohne eine Aufforderung abzuwarten, mit zitternden Händen in dem noch halb gefülltem Rucksack zu wühlen. Er wusste, wo er suchen musste.

    „Hier ist sie."

    Mit diesen Worten legte er eine kleine Pappschachtel auf den Tisch.

    Er merkte, dass sein Mund in den letzten Sekunden trocken geworden war. Plötzlich konnte er sich gar nicht mehr recht erklären, wie er auf die Idee gekommen war, die Pistole und die Munition mitzunehmen.

    Die Schachtel war noch fast voll und enthielt etwa 20 Patronen. Im Gegensatz zu scharfen Patronen waren die kurzen Hülsen an ihrer Spitze vierseitig zusammengekniffen.

    „Haben sie auch scharfe Munition?"

    „Wieso scharfe Munition? fragte Peter Köster entgeistert zurück. „Das ist doch eine Schreckschusspistole.

    Auf den ersten Blick war das in der Tat nicht zu erkennen, denn es war eine täuschend echte Imitation aus Metall, die, wie eine echte Pistole, auch schwer in der Hand lag.

    Die beiden Uniformierten stutzten, dann wich die Anspannung aus ihren Gesichtern. Fast wirkten sie erleichtert.

    „Wie wird die geladen?" fragte der Kleine und reichte Peter Köster unbefangen die Pistole.

    Es war einfach. Das Magazin befand sich im Griff und ließ sich leicht mit bis zu sechs Patronen bestücken. Peter Köster drückte das volle Magazin wieder in den Griff, was einen metallisch-satten Laut verursachte. Er legte einen kleinen Sicherungshebel um und reichte die Pistole wieder an den Kleinen zurück:

    „Jetzt können sie schießen. Also nur knallen, verbesserte er sich schnell. „Vorne aus dem Lauf kommt dann zwar eine kleine Stichflamme, die ist aber harmlos, fügte er fast entschuldigend hinzu.

    Die beiden Soldaten hatten Peter Köster zwar interessiert beim Laden der Pistole zugesehen, aber dem Kleinen schien inzwischen bewusst geworden zu sein, dass er an diesem Ort die sozialistische Staatsmacht repräsentierte. Demonstrativ legte er die Pistole vor sich auf den Tisch.

    „Jetzt nicht, entschied er amtlich kurz. „Erklären sie uns lieber mal, woher sie diese Waffe haben und zu welchem Zweck sie diese in die DDR einschmuggeln wollten.

    Peter Köster beschlich ein unbehagliches Gefühl. 'Waffe' und 'in die DDR einschmuggeln', was sollte das? Was wollten die von ihm? Das Ding da war doch nur ein besseres Spielzeug und keine Waffe. Und einschmuggeln wollte er es schon gar nicht.

    Mit kurzen, etwas holprigen Worten versuchte er zu erklären, dass diese Waffe ja keine Waffe, sondern nur eine Schreckschusspistole sei und man sie deshalb in jedem Waffengeschäft ohne Waffenschein kaufen könne, vorausgesetzt, man war mindestens 16 Jahre alt.

    „Es ist mehr so ein Spielzeug, und sie als Fachleute, versuchte er zu schmeicheln, „haben ja sicher sofort gesehen, dass diese Schreckschusspistole vorne zwar eine enge Öffnung, aber keinen gezogenen Lauf hat, durch den eine Kugel passen würde. Also, schießen kann man damit wirklich nicht. Das ist wirklich keine Waffe, glauben sie mir .

    Wortreich bemühte er sich, die Angelegenheit als im Grunde genommen ganz normal darzustellen. Er erklärte, dass eine Patrone nur 5 Pfennig koste, ein Silvester-Knaller aber 10 Pfennig, dass er mit der Schreckschusspistole folglich viel sparsamer und schneller und auch lauter knallen könne. Ja, und natürlich habe er sich damit auch irgendwie etwas sicherer gefühlt.

    Während dieser Erklärungen hatte er besorgt die Gesichter der beiden Uniformierten beobachtet. War er überzeugend gewesen? Würden sie ihm das abnehmen? Bestimmt würden sie ein Protokoll schreiben müssen. Und ihm dämmerte, was es bedeuten könnte, wenn darin Sätze stehen würden, wie: 'Der Antragsteller Peter Köster reiste mit einer nicht angemeldeten Waffe in die DDR ein,' oder '...war bei seiner Überprüfung im Besitz einer Waffe'.

    Er hätte sich die Haare raufen können angesichts von soviel Blödheit, seiner eigenen Blödheit. Sollte das hier schon die Endstation sein?

    Er spürte, wie sich sein Magen verkrampfte. Wenn er Glück hatte, dann hielten ihn die Soldaten nur für ein bisschen einfältig. Sollten sie, im Moment war ihm alles egal. Einfältig, dumm oder naiv, damit würde er leben können. Nur die Annahme, dass er eine Waffe hätte einschmuggeln wollen, die durfte sich auf keinen Fall bei den beiden festsetzen.

    Aber der Kleine hakte hartnäckig noch einmal nach:

    „Was sie in Westdeutschland mit der Waffe gemacht haben, interessiert uns nicht. Wozu aber wollten sie die Waffe in der DDR einsetzen?"

    Peter Köster zuckte erneut zusammen. Die Worte 'Waffe und 'einsetzen‘ hörten sich bedrohlich an. Er versuchte ruhig zu bleiben.

    „Wissen sie, ich war doch Ende letzten Jahres zu Besuch in der DDR und Silvester hat es da um Mitternacht genau so eine Knallerei gegeben, wie bei uns im Westen auch. Und da hatte ich mir so vorgestellt, dass ich mit meiner Schreckschusspistole dieses Jahr auch etwas Krach machen könnte. Mehr nicht. Mehr geht ja auch nicht," setzte er etwas trotzig hinzu.

    Hoffnungsvoll blickte er von einem zum anderen, konnte jedoch in ihren Gesichtern nur ungläubigen Spott erkennen. Noch während er redete, hatte der Kleine die Pistole wieder an sich genommen und sie ohne erkennbare Absicht abwägend von einer Hand in die andere bewegt. Dabei hatte er Peter Köster aufmerksam fixiert, ganz so, als könne er in dessen Gesicht Wahrheit und Lüge voneinander unterscheiden. Auch nachdem dieser verstummt war, fuhr er mit diesem Spiel noch eine Weile fort, ohne etwas zu sagen. Schließlich reichte er die Pistole wortlos seinem Kameraden und verkündete das Ergebnis seiner Überlegungen:

    „Also, Herr Köster, das hört sich alles nicht sehr überzeugend an. Man wird sie sicher morgen noch genauer danach befragen. Pistole und Munition werden jedenfalls beschlagnahmt."

    Sein entschiedener Tonfall ließ erkennen, dass jede weitere Diskussion sinnlos war.

    Peter Köster war niedergeschmettert. Dabei war ihm die Pistole egal, scheißegal. Aber dass er sich nun wegen diesem blöden Ding würde verteidigen müssen anstatt als ein ehrlicher, unbescholtener Antragsteller auftreten zu können, das machte ihm schwer zu schaffen. So hatte er sich seinen Einzug in die DDR nicht vorgestellt.

    Die Fortsetzung der Kontrolle empfand er fast als eine dankbare Ablenkung. Für die Soldaten war ihr Fund Ansporn, seine Sachen noch genauer zu durchsuchen, zu schütteln und zu knüllen, aber ohne erkennbaren Erfolg. Zwei Romane von Böll und Hemingway hatte er als Reiselektüre im Rucksack gehabt, die er aber auf Grund seiner inneren Anspannung nicht einmal angefasst hatte. Der Große warf nur einen kurzen Blick auf die Titel, blätterte sie ohne erkennbares Interesse oberflächlich durch, schüttelte sie noch einmal intensiv, ohne dass jedoch irgendwelche, zwischen den Blättern verborgene Papiere herausfielen, und legte sie wieder zurück auf den Tisch. Falls es diese ominöse Liste von verbotenen Büchern, von der Peter Köster gehört hatte, Bücher, die man in der DDR nicht kaufen konnte oder nicht lesen sollte, wirklich gab, dann standen diese beiden wohl nicht darauf. Jedenfalls konnte er sie wenig später zusammen mit seiner Wäsche wieder in den Rucksack packen. Hatte er beim Koffer noch versucht, seine Wäsche einigermaßen geordnet einzupacken, so stopfte er die Sachen jetzt einfach dorthin, wo er gerade eine Lücke sah. Es war nicht die Zeit für Ordnung, denn vielleicht musste er ja in wenigen Stunden erneut alles wieder auspacken, vorzeigen und erklären.

    Inzwischen war es zwei Uhr geworden, und Peter Köster war jetzt fast zwanzig Stunden auf den Beinen. Die letzten Stunden, die Ungewissheit, die Aufregungen hatten seine Müdigkeit überdeckt, jetzt aber überwältigte ihn das Bedürfnis nach Schlaf umso heftiger. Am liebsten hätte er jetzt alle seine Sachen einfach liegen gelassen und sich irgendwo zum Schlafen hingelegt. Schon letzte Nacht, noch zu Hause, hatte er sich in ermüdenden Wachträumen im Bett von einer Seite auf die andere gewälzt und kaum geschlafen. Seine Phantasie hatte immer wieder konturlose Vernehmungsräume und gesichtslose, ihn verhörende Menschen hervorgebracht. Unzählige Fragen waren in diesen Halbträumen auf ihn eingeprasselt, die er wahrheitsgemäß hatte beantworten sollen. Und wie vor einer Prüfung hatte er jedes Mal versucht, mögliche Nachfragen im Voraus zu erahnen, um dann auch dafür gleich die passenden Antworten parat zu haben. Immer wieder hatte er versucht, seine Aussagen glaubwürdiger, ja unwiderlegbar zu machen. Angst hatte er dabei nicht gehabt. Aber diesem inneren Zwang, absolut überzeugend auf seine Vernehmer zu wirken, hatte er nicht entkommen können. Es war ein quälender Prozess gewesen, der ihn völlig erschöpft und im Kopf ein Wirrwarr von Argumenten und Gegenargumenten hinterlassen hatte. Als es dann endlich Tag geworden war, hatte er sich gefühlt, wie nach einer langen Bergwanderung: müde und mit matten Gliedern. An die Pistole hatte er dabei nicht gedacht.

    Inzwischen hatte er alle Sachen wieder im Rucksack verstaut. Mit viel Kraftanstrengung hatte er auch alle Riemchen wieder festzurren können. Nun stand er tatenlos da und wartete gemeinsam mit dem Großen schweigend auf dessen Kameraden. Dieser hatte vor einigen Minuten ohne etwas zu sagen den Raum verlassen. Als er nach wenigen Augenblicken zurückkehrte, wirkte er aufgeräumt und irgendwie erleichtert.

    „Es ist zur Zeit kein verantwortlicher Genosse im Haus, begann er und blickte dabei prüfend auf seine Uhr. „Aber in einigen Stunden, so gegen neun Uhr, wird ein Genosse hierher kommen. Der wird dann mit ihnen die erforderlichen Formalitäten besprechen. Und dem können sie dann auch Fragen stellen, fügte er hinzu. „Bis dahin können sie sich ausruhen. Nehmen sie ihr Gepäck; ich werde ihnen jetzt den Raum zeigen, in dem sie sich bis dahin aufhalten können."

    Er wartete bis Peter Köster Koffer und Rucksack aufgenommen hatte. Es waren nur wenige Schritte durch einen kurzen Korridor. Er öffnete eine Tür, machte Licht und bedeutete Peter Köster, in das Zimmer einzutreten.

    „Brauchen sie noch irgend etwas oder müssen sie noch aufs Klo?"

    Peter Köster nickte. Der Große wies ihm den Weg und wartete in der Nähe der Klotür bis Peter Köster fertig war. Als sie zurückkehrten, stand der Kleine stand wartend vor der Zimmertür .

    „Wenn sie etwas benötigen, dann können sie hier klingeln."

    Er zeigte auf eine einfache Klingel neben dem inneren Türrahmen. Dann wandte er sich ab, die Tür schnappte ins Schloss, und Peter Köster hörte, wie sich die beiden Soldaten mit schweren Stiefelschritten auf dem Korridor entfernten.

    Im gleichen Moment, den uniformierten Rücken des Soldaten noch vor Augen, registrierte Peter Köster blitzlichtartig, dass die Tür auf der Innenseite keine Klinke hatte. Die Stelle, wo sich normalerweise Klinke und Schloss einer Tür befinden, war durch eine glatte, aufgeschraubte Metallplatte vollständig überdeckt worden. Versuchsweise drückte er gegen die Tür, aber sie ließ sich nicht öffnen. Ein irritierendes, unangenehmes Gefühl kroch ihm den Rücken hoch.

    Ahnungsvoll wandte er seinen Blick zum Fenster. Gegen das Dunkel der Nacht erkannte er im Lichte der Deckenleuchte die hell angeleuchteten Gitterstäbe.

    War er jetzt eingesperrt, verhaftet? Oder was bedeutete das?

    Unwillkürlich musste er an das große Plakat denken, das er auf dem Bahnsteig gesehen hatte:

    „Willkommen in der Deutschen Demokratischen Republik"

    Hier, auf dem Grenzbahnhof Oebisfelde, mussten alle Interzonenzüge anhalten. Und alle aus Richtung Westen einfahrenden Reisenden wurden mit diesen Worten begrüßt, auch er. Und er hatte sich angesprochen gefühlt, hatte das wörtlich genommen. Zwei Stunden war das erst her. Und jetzt saß er in diesem verschlossenen Raum mit vergitterten Fenstern, der das Flair einer Gefängniszelle ausstrahlte.

    Enttäuscht ließ er sich auf einen den Stühle fallen und betrachtete sein Nachtquartier etwas genauer.

    Die Einrichtung des Zimmer war dürftig und alles andere als gemütlich. Der Fußboden war mit buntem, jedoch arg zerkratztem Linoleum ausgelegt. Wie in einem Wartezimmer waren an den Wänden etwa zehn ungepolsterte Holzstühle aufgereiht. Auch hier hingen an den Wänden Bilder mit Landschaften. Die Mitte des Zimmers wurde durch einen großen, rechteckigen Tisch bestimmt. Darauf stand, wie er mit Freude feststellte, eine große Flasche Mineralwasser mit einem Glas.

    Nachdem er sich ein Glas eingegossen und gierig in einem Zug geleert hatte, überflogen seine Augen resigniert das Zimmer nach einer Schlafgelegenheit. Füße und Beine fühlten sich geschwollen an, sein Körper sehnte sich danach, endlich die horizontale Lage einnehmen zu können, aber wo und wie? Der Verlockung, sich einfach auf den dreckigen Fußboden zu legen, wollte er jedoch nicht nachgeben. Entschlossen stellte er schnell einen Stuhl an den Tisch, setzte sich und legte beide Arme als Unterlage auf die Tischplatte. Dann neigte er seinen Oberkörper nach vorne und bettete seinen Kopf auf die Arme. Sofort verspürte er eine große körperliche Erleichterung. Ein wohltuendes, warmes Kribbeln durchströmte seine Glieder, und der Körper bekam eine Schwere, die ihn verwunderte. Er spürte, wie seine Gedanken schnell diffuser wurden, wie sie begannen, sich von seinem Körper zu trennen, um dorthin zu schweben, wo das Unbewusste erholsam seine Macht ausübt.

    Für eine kurze Zeit fühlte sich Peter Köster völlig unbeschwert. Sinn oder Unsinn seines Handelns verloren ihre Bedeutung und lösten sich wie in Nebel auf. Schon vermeinte er in das große schwarze Loch des Schlafes zu fallen als er einen schnell stärker werdenden, stechenden Schmerz in der Hüfte, dann auch im Rücken und den Armen registrierte. Er brachte seinen Oberkörper wieder in die Senkrechte, reckte sich einige Male nach allen Seiten und überlegte.

    Ihm war jetzt völlig klar, dass er in dieser Stellung nicht würde einschlafen können. Und wenn doch, dann würde er wahrscheinlich wieder irgendwann aufwachen und sich am ganzen Körper so geschunden fühlen, als habe er die ganze Nacht körperliche Schwerstarbeit geleistet. Und das wäre gar nicht gut, denn er wollte erholt und frisch sein, wenn der 'verantwortliche Genosse' am Morgen mit ihm sprechen wollte.

    Kurzerhand stand er wieder auf. Er öffnete Rucksack und Koffer und entnahm alle dicken Kleidungsstücke, die er besaß. Diese legte er sorgfältig verteilt auf mehrere, nebeneinander an der Wand stehenden Stühle. Eine zweite Reihe Stühle stellte er spiegelverkehrt daneben. So, sein Bett war fertig. Er zog seine Schuhe aus, stieg auf die Stühle, legte sich lang auf den Rücken, deckte sich mit seinem Parka zu und schloss die Augen.

    Es war kein Bett, aber nach all den Strapazen, die er bis zu diesem Augenblick hinter sich gebracht hatte, erschien ihm sein Lager fast schon bequem. Und so war er optimistisch, dass er nun endlich einschlafen würde.

    Bei den meisten Menschen ist die körperliche Müdigkeit eine sichere Voraussetzung, um schnell einschlafen zu können, nicht aber bei Peter Köster. Verpasste er den richtigen Moment, seine Gedanken abzustellen, dann konnte es sein, dass er sich stundenlang völlig übermüdet im Bett herumwälzte in der quälenden Hoffnung, endlich den Absturz in den Schlaf zu erreichen. Ausgerechnet dann, wenn es um ihn herum ruhig war und er sich hätte entspannen können, gerade dann machten sich seine Gedanken häufig selbstständig. Und dann wurde der gesamte Tagesablauf noch einmal rekapituliert, alles Geschehene wurde neu geordnet, neu bewertet und daraufhin geprüft, ob sich für ihn daraus neue Anforderungen ergäben. Und das alles ohne einen Plan, ohne sein Zutun, ja gegen seinen Willen. Manchmal glaubte er, dass seine grauen Zellen ausgerechnet dann besonders aktiv wurden, wenn er schlafen wollte. Und bis jetzt hatte er auch noch kein Mittel dagegen gefunden. Schlaftabletten hatte er noch nicht ausprobiert.

    So lag er auf seinem Behelfsbett, eigentlich zufrieden damit, erschöpft und todmüde, die Augenlider schwer und ihre Ränder empfindlich fühlend, und konnte nicht einschlafen. Und ohne Hoffnung auf ein schnelles Ende dieses Zustandes ließ er ergeben seinen Gedanken freien Lauf.

    In den letzten Tagen hatte er immer nach vorne gedacht, immer überlegt, was er als Nächstes tun musste. Jutta, ja, immer war es der Gedanke an sie gewesen, der ihn angetrieben hatte, ihm die Kraft gegeben hatte, die nötigen Vorbereitungen zu treffen und diesen letzten, entscheidenden Schritt auf sich zu nehmen. Wann würde er sie wiedersehen? Wohin würde man ihn jetzt wohl bringen? Und wie lange würde das alles dauern? Wieder wanderten seine Gedanken zu Jutta, er meinte ihre Stimme zu hören und vor seinen inneren Augen sah er, wie sie ihm zulächelte.

    Aber dann sah er auch seine Mutter, wie sie sich mit rot verweinten Augen wenige Stunden vor seiner Abreise, still und in sich gekehrt, mit seiner Wäsche befasst hatte. Sie hatte nicht mehr versucht, ihn von seinem Vorhaben abzubringen. Vor Tagen noch, als er ihr von dem ihr unbekannten Mädchen Jutta in Benzlau erzählt hatte, hatte sie noch versucht, ihn umzustimmen. ‚Du bist doch erst neunzehn, du findest doch auch hier ein Mädchen!‘. So hatte sie verzweifelt, ja beschwörend versucht, ihn zum Bleiben zu bekehren. Immer wieder hatte sie neue Argumente gesucht, um ihn vom Widersinn seiner Absicht zu überzeugen. Nach Stunden schwankender, immer wieder auflodernder Hoffnungen hatte sie schließlich resigniert. Hilflos, fast demütig, hatte sie sich gefügt und ihn lange umarmt: ‚Sag mir Bescheid, wenn es soweit ist, damit ich dir beim Packen helfen kann‘.

    Vorgestern, gleich morgens nach dem Frühstück, war dieser Augenblick dann gekommen. Noch während er sich jetzt daran erinnerte, vermeinte er den Kloß zu verspüren, den er dabei im Hals gehabt hatte. Seine Mutter hatte schweigend einen Stuhl genommen und sich an den Küchentisch gesetzt. Dort hatte sie für eine Weile reglos gesessen, ihren Rücken leicht nach vorne gekrümmt, während ihr die Tränen über das Gesicht gelaufen und auf die Schürze getropft waren. Vielleicht hatte sie im Geheimen immer noch gehofft, dass irgend etwas passieren könnte, was ihn zur Einsicht bringen würde. Dann hatte sie sich müde erhoben. ‚Du musst mir deine Sachen geben,‘ hatte sie mit tonloser Stimme zu ihm gesagt und war aus dem Zimmer gegangen. Etwas später hatte sie bereits ihr Bügelbrett aufgestellt und begonnen, seine Garderobe zu bügeln. Ohne Unterschied, egal ob gerade erst frisch gewaschen oder schon einmal gebügelt, alles hatte sie sorgfältig geglättet und dann zusammengelegt. Es war, als habe sie sich an dieser Arbeit, an diesem für lange Zeit vielleicht letzten Liebesdienst für ihren jüngsten Sohn, festgehalten.

    Seine Mutter, gütig und voller Vertrauen, so hatte sie ihn gehen lassen.

    Sein Vater hatte seine Pläne ohne Zögern sofort missbilligt.

    ‚Letzten Sonntag erst ist die Zonengrenze dicht gemacht worden und ausgerechnet jetzt willst du dort hin? Wenn du mal volljährig bist, und bis dahin sind es ja fast noch zwei Jahre, kannst du machen, was du willst. So lange aber bestimme ich. Und meine Genehmigung für diese Schnapsidee kriegst du nicht.‘ Das waren seine Worte gewesen, wörtlich. Und das war als endgültig zu verstehen gewesen, denn Peter hatte aus Erfahrung gewusst, dass jeder Versuch, seinen Vater umzustimmen, sinnlos gewesen wäre. Er war ein kluger, aber autoritärer Dickkopf, der Argumenten, die nicht in seinem Kopf erdacht waren, nur selten zugänglich war.

    Seine Mutter hatte dieses Machtwort ihres Mannes wohl vorausgeahnt. Aber sich gegen ihn aufzulehnen, dazu hätten ihr die Kraft und der Mut gefehlt. Wahrscheinlich hätte das den Konflikt auch nur noch verschlimmert. So war es immer gewesen, sein Vater hatte alleine bestimmt, was in der Familie getan wurde und was nicht.

    Von diesem Augenblick an hatten er und seine Mutter gewusst, dass er sein Elternhaus heimlich verlassen würde.

    Dennoch hatte er nicht ohne ein versöhnliches Wort an seinen Vater weggehen wollen. So hatte er sich hingesetzt und einen Abschiedsbrief geschrieben. Anderes als das, was er ihm mündlich schon alles gesagt hatte, war ihm auch beim Schreiben nicht eingefallen. Schließlich hatte er noch Worte des Bedauerns über seinen heimlichen Abschied, der ja eigentlich mehr eine Flucht war, hinzugefügt. Entschuldigt hatte er sich nicht. Große Sorgen hatte er gehabt, dass sich seine Eltern wegen seiner heimlich Abreise entzweien könnten.

    Den Brief hatte er an einer Stelle deponiert, wo ihn sein Vater erst am nächsten Morgen finden würde.

    Das letzte gemeinsame Abendessen mit seinem ahnungslosen Vaters war für ihn, seine Mutter und seine eingeweihte jüngere Schwester, eine Tortur gewesen. Zum Glück schien sein Vater gedanklich mit anderen Dingen beschäftigt gewesen zu sein und hatte deshalb die gedrückte Stimmung nicht wahrgenommen. Vielmehr war er gleich nach dem Essen in die gute Stube gegangen, um dort ungestört Unterlagen seines Sportvereins durchzusehen.

    Wenn er jetzt, müde, aber unfähig, Schlaf zu finden, an den Abschied von seiner Mutter dachte, fühlte sich Peter Köster auf beklemmende Weise hilflos schuldig.

    Wieder und wieder hatte sie ihn beim heimlichen Abschied inbrünstig umarmt, sein Gesicht in ihre Hände genommen und ihn immer wieder auf Stirn und Wangen geküsst. Zum Schluss hatte sie seinen Kopf mit beiden Händen umfasst und ihn auf Armlänge von sich weg gehalten. Ihre verweinten Augen hatten intensiv sein Gesicht betrachtet. Es war, als habe sie Augen, Nase, Mund, ja jedes winzige Detail seines Gesichts, in ihrem Gedächtnis abspeichern wollen. 'Bleib mir gesund, mein Junge. Und sieh zu, dass du gleich Arbeit kriegst. Und schreib gleich'. Dabei hatte sie ihre Tränen nicht mehr zurückhalten können.

    Auch seine drei Jahre jüngere Schwester hatte etwas geschluchzt. Wahrscheinlich hatte sie aber seinen Entschluss eher in einem romantisch verklärten Licht gesehen.

    Er hatte seinen Koffer und den schon arg ramponiert aussehenden Reiserucksack leise vor der Haustür abgestellt. Seine Mutter hatte ihn zum letzten Mal umarmt, und leise war ein 'Mach mir keinen Kummer' über ihre Lippen gekommen. Das war ihre Art, ihn zu ermahnen, ein anständiger Mensch zu bleiben. Dann war er zur Bushaltestelle geeilt. Er hatte große Angst gehabt, dass sein Vater zufällig, gerade in diesem Moment, aus dem Fenster geblickt hätte und ihn im Dämmerlicht noch hätte sehen können.

    Im Interzonenzug hatte ihn die Angst, dass sein Vater zu früh von seiner Flucht erfahren und die Bahnpolizei benachrichtigt haben könnte, bis zum Erreichen der Grenze begleitet. Erst als die beiden Passkontrolleure nahe Wolfsburg seinen Ausweis überprüft, die Abteiltür hinter sich geschlossen hatten, war dieses Angstgefühl gewichen und hoffnungsvolle Erwartung hatte die Oberhand gewonnen.

    Diese unerschütterliche Hoffnung, Jutta nun ein kleines Stückchen näher gekommen zu sein, führte dazu, dass ihn jetzt auch der Gedanke an die Pistole nicht mehr beunruhigte. Und auch gegenüber seinen Eltern empfand er keine Reue. Ja, sie taten ihm leid, und es war schlimm, was er ihnen antat, aber er wusste nicht, was er hätte anders machen sollen.

    Mit diesem befriedigenden Gefühl kam er endlich zur Ruhe. Ein letztes Mal drehte er seinen Körper auf den unbequemen Stühlen noch etwas zur Seite, passte sich der Unterlage an, dann schlief er ein.

    * * *

    Wie lange er geschlafen hatte, wusste er nicht. Laute Musik, deren Quelle er nicht gleich ausmachen konnte, hatte ihn jäh aus dem Schlaf aufschrecken lassen. Langsam, seine schmerzhaft verspannten Muskeln nicht beachtend, brachte er seinen Oberkörper in senkrechte Lage. Es dauerte noch einen Moment, bis er einigermaßen klar denken konnte.

    Was er da aus dem Bahnhofslautsprecher hörte, war seine Musik, war Paul Anka mit „I'm just a lonely boy. Er kannte jede Note, und den Text hätte er von der ersten bis zur letzten Zeile mitsingen können. Er horchte, eher verdutzt als erfreut, bis der Song zu Ende war. Dann, nach einer kurzen Pause und dem typischen Kratzen beim Aufsetzen der Nadel auf die Platte, folgte Fats Domino mit „I'm Walking. Ja, er war sich sicher: Es waren genau die Platten, die sie ihm vorgeblich 'zur Prüfung' weggenommen hatten.

    Vergeblich versuchte er auf seiner Uhr die Zeit zu erkennen. Draußen war es noch dunkel, ein Zug war nicht zu hören. Sowieso war ja kaum denkbar, dass man zur nächtlichen Einfahrt eines Interzonenzuges auf dem Bahnhof in Oebisfelde Cliff Richard, Elvis Presley oder Fats Domino abspielen würde.

    Vorsichtig, um im Dunkeln nicht über seine Gepäckstücke zu stolpern, bewegte er sich zur Tür. Seine Hände tasteten unsicher nach dem Lichtschalter. Das aufflammende Licht blendete ihn im ersten Moment. Dann konnte er sich im Zimmer orientieren. Er setzte sich auf den nächsten Stuhl und horchte auf die Musik.

    Ja, es war wirklich seine Musik. Auch seine anderen Platten wurden aufgelegt, manche nur angespielt aber andere wurden bis zum letzten Ton ausgekostet. Die Soldaten hörte er nicht. Er stellte sich vor, dass sie jetzt irgendwo gemütlich in einem Büro saßen, und die Platten nacheinander auflegten. Manche wiederholten sie auch. Wenn das die angekündigte Kontrolle sein sollte, dann war es für sie vermutlich die amüsanteste Art, diese zu erledigen. Aber warum über den Bahnhofslautsprecher?

    Ob die Bewohner von Oebisfelde von dieser Rock-Orgie etwas wahrnehmen konnten? Oder vielleicht hatte man die Bewohner wegen der Sperrung der nahen Grenze einfach evakuiert, und es gab hier nur noch Militär. Aber ob die wild darauf waren, mitten in der Nacht durch Musik, wenn auch Rock-Musik, geweckt zu werden? Und die Offiziere?

    Er konnte seine Gedanken nicht weiterverfolgen, denn plötzlich, noch während die Musik die Bahnsteige beschallte, hörte Peter Köster Schüsse: zwei, drei, dann nochmals drei kurz hintereinander. Im ersten Moment durchfuhr ihn ein Schreck. Schüsse in der Nacht, nahe der Grenze konnten nichts Gutes bedeuten. Aber dann war ihm, als klinge ihm der kurze, scharfe Knall der Schüsse irgendwie vertraut. Ja, es musste seine Schreckschusspistole sein, die da abgefeuert wurde. Merkwürdig, dass die Soldaten damit einfach so herumballerten. Schließlich konnte ja niemand, der die Schüsse vielleicht auch hörte, wissen, dass das nur Kontrollschüsse waren, dass es kein Alarm war.

    Er saß noch eine Weile mit offenen Augen da. Schüsse hörte er nicht mehr. Auch die Musik verstummte nach einiger Zeit. Als sei nichts gewesen, war nun wieder Stille eingekehrt. Schon am Morgen würden hier sicherlich wieder Interzonenzüge halten. Ob hier, so nah an der gesperrten Grenze, auch Inlandszüge verkehrten, wusste er nicht.

    Eigentlich sollte ich jetzt noch ein bisschen weiterschlafen, dachte er. Aber sei es, dass der kurze Schlaf ihn schon erfrischt, oder die Musik ihn aufgeputscht hatte, er verspürte im Moment nicht das Verlangen, sich wieder hinzulegen.

    Dafür hatte sich, während er der Musik gelauscht hatte, ein anderes Bedürfnis mit steigender Macht eingestellt. Wenn er hätte durchschlafen können, dann würde ihn der Inhalt der Wasserflasche vielleicht jetzt noch nicht so intensiv bedrängt haben, aber nun wurde es auch schnell dringend.

    Wie ihm vom Kleinen geheißen worden war, drückte er auf den Klingelknopf neben der Tür. Es beunruhigte ihn zunächst nicht, dass er kein Klingeln vernahm, denn er wusste ja nicht, wo sich der Dienstraum der Soldaten befand. Er wartete eine Weile. Unruhig ging er mehrere Male im Zimmer auf und ab, bevor er ein zweites Mal, diesmal länger und mit mehrfacher Unterbrechung, auf den Knopf drückte. Nichts, kein Türenklappen, keine Schritte von herbeieilenden Soldaten - nur Stille. Verdammt, die müssen doch wach sein, dachte er erbost. Schließlich haben sie eben noch ein Bahnhofskonzert veranstaltet.

    Der voreilige Gedanke an den Gang zum Klo hatte den Druck in seiner Blase bedrohlich anwachsen lassen. Um diese Entwicklung nicht noch zu fördern, vermied er es jetzt, weiter im Zimmer herumzulaufen. Mit jeder weiteren Sekunde verstärkte sich aber nun seine Unruhe. Er musste an sich halten, um nicht in Panik zu verfallen. Schon irrten seine Augen umher, ob sich im Zimmer irgendwo ein Gefäß oder eine verschwiegene Ecke finden ließe, in die er pinkeln könnte. Schließlich entschloss er sich zum Letzten und donnerte mit geballten Fäusten gegen die Tür.

    Es dauerte nur wenige Sekunden, und die Tür öffnete sich.

    „Ja was ist denn los?", fragte unwirsch der Große.

    „Ich muss pinkeln", antwortete Peter Köster kurz, und ohne eine Genehmigung abzuwarten, drängelte er sich an dem Großen vorbei und eilte, ohne jedoch zu laufen, in Richtung Toilette. Er öffnete stürmisch die Tür und konnte gerade noch rechtzeitig den Reißverschluss seiner Hose öffnen. Dann ließ er es laufen und mit einem wohligen Gefühl der Erleichterung entleerte sich seine Blase plätschernd in das Becken. Das war bei weitem das Schönste, was ihm bisher heute widerfahren war. Ausgiebig genoss er dieses befreiende Gefühl solange sich auch nur noch ein Tropfen von ihm löste.

    Während er sein Hemd sorgfältig in die Hose stopfte und den Reißverschluss wieder verschloss, kam erneut der Unmut über die Gleichgültigkeit des Soldaten in ihm hoch. Wenn die sich Zeit lassen können, dann kann ich das auch, dachte er. Entschlossen ging er in eine der Kabinen, ließ die Hose herunter und, setzte sich. Er mühte sich, verspürte dabei jedoch keine Eile.

    Es dauerte kaum fünf Minuten, als die äußere Tür geöffnet wurde und die besorgte Stimme des Großen ertönte:

    „Herr Köster, ist alles in Ordnung?"

    „Ja, ich bin gleich fertig."

    Ohne zu einem Erfolg zu gekommen zu sein, brach er ab, zog die Hose hoch und öffnete die Tür. Der Große erwartete ihn im Vorraum, und begleitete ihn, einen Schritt hinter ihm bleibend, wieder zurück in seine Zelle.

    „Sie hatten es ja wohl sehr eilig", bemerkte er leicht grinsend.

    „Ja, antwortete Peter Köster kühl, „und wenn sie nicht gekommen wären, hätte ich in eine Zimmerecke gepinkelt. Wozu ist denn die Klingel da, wenn sie nicht funktioniert?

    Der Große zuckte mit den Achseln:

    „Vielleicht hat sie einen Wackelkontakt oder so was ähnliches, erwiderte er ohne jegliche Regung. „Wir können das morgen ja mal überprüfen. Vielleicht haben sie aber auch nicht richtig drauf gedrückt, versuchte er noch die Ehre der Armee zu retten. Aber es klang eher matt. So unterließ auch Peter Köster jegliche Stichelei, ging zu seinen Stühlen, ordnete noch einmal die Unterlagen, zog seine Schuhe wieder aus und legte sich auf der Stuhlreihe zurecht. Er nahm seinen Parka, legte ihn so über seinen Körper, dass dieser möglichst vollständig bedeckt wurde und schloss die Augen. Der Grenzer hatte noch für einen Moment interessiert zugeguckt, und war dann, nicht ohne die Tür laut wieder ins Schloss zu ziehen, gegangen. Das alles berührte Peter Köster jetzt nicht mehr.

    * * *

    Sein Schlaf war traumlos und so tief, dass er am Morgen nicht gleich merkte, wie die Tür seines Zimmers aufging. Dann zog jedoch der Duft von Kaffee in seine Nase und sofort wurde er hellwach. Es war heller Tag und der kleine Soldat stellte ihm gerade ein Tablett mit Frühstück auf den Tisch.

    „Morjen. Seine Stimme klang müde, und man sah ihm an, dass er letzte Nacht wohl kaum geschlafen haben konnte. „Hier ist ihr Frühstück. Waschen können sie sich draußen im Klo, sie kennen ja den Weg. Wenn sie dann fertig sind, fügte er beim Hinausgehen hinzu, „dann machen sie sich bemerkbar. Guten Appetit."

    Die Tür ließ er offen.

    Muskeln und Sehnen schmerzten, als Peter Köster sich erhob. Aber,

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