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La Bohème: Roman
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eBook371 Seiten4 Stunden

La Bohème: Roman

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Über dieses E-Book

Seine Jugend verbrachte Henri Murger unter den Buveurs d’eau („Wassertrinkern“), einer Gruppe von Bohémiens im Pariser Quartier Latin. In seinem berühmtesten Werk Scènes de la vie de bohème tauchen, häufig kaum verschleiert, seine realen Freunde auf, z. B. Charles Barbara. Dieses Buch – auf Deutsch teils auch unter dem Titel Zigeunerleben bekannt, etwa in der Übersetzung von Walter Heichen – bildete 1896 die Vorlage für die Oper La Bohème von Giacomo Puccini und, ein Jahr später, für die gleichnamige Oper von Ruggiero Leoncavallo.
SpracheDeutsch
Herausgeberidb
Erscheinungsdatum30. März 2017
ISBN9783961507375
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    Buchvorschau

    La Bohème - Henri Murger

    La

    Bohème

    Les scènes de la vie de bohème

    Grundlage von Puccinis La Bohème  

    Henri Murger

    idb

    ISBN 9783961507375

    Cover: Marco Frusoni (Rodolfo), Ph. S. Maracchioni   

    I. Wie der Zigeunerbund begründet wurde

    Eines Morgens, es war am 8. April, wurde Alexander Schaunard, der die beiden freien Künste der Malerei und der Musik pflegte, plötzlich durch das Krähen eines Hahns geweckt, der sich irgendwo in der Nachbarschaft befand und ihm als Uhr diente.

    »Verflucht!« schrie Schaunard. »Meine gefiederte Uhr geht vor. Es ist doch noch gar nicht möglich, daß es schon heute ist.«

    Mit diesen Worten sprang er schnell aus einem Möbelstück seiner eigenen Erfindung heraus, das ihm des Nachts als Bett diente (allerdings leider herzlich schlecht) und am Tage die Rolle aller andern Möbel spielte, da diese im letzten Winter infolge der strengen Kälte nach und nach abhanden gekommen waren.

    Um sich vor der scharfen Morgenluft zu schützen, bekleidete sich Schaunard eiligst mit einem rosaseidenen Unterrock, der mit Flittersternen besät war und ihm als Schlafrock diente. Dieses Prachtstück war eines Nachts nach einem Maskenball von einer Dame bei ihm zurückgelassen worden, die töricht genug gewesen, sich von trügerischen Versprechungen des Künstlers täuschen zu lassen. Im Kostüm des Marquis de Mondor, des berühmten Scharlatans des 17. Jahrhunderts, hatte er in seiner Tasche das verführerische Klingeln von einem Dutzend Silbermünzen hören lassen, aber es war nur aus Blech ausgestanztes Phantasiegeld gewesen und den Requisiten eines Theaters entlehnt.

    Als der Künstler seine Haustoilette beendet hatte, ging er daran, das Fenster und die Läden zu öffnen. Ein helles Sonnenlicht drang plötzlich ins Zimmer und zwang ihn, die noch vom Schlaf verschleierten Augen weit aufzureißen. In demselben Augenblick schlug es von einem benachbarten Kirchturm fünf Uhr.

    »Wahrhaftig, die Sonne geht auf«, murmelte Schaunard. »Es ist erstaunlich. Aber trotzdem«, fügte er hinzu, indem er einen an die Wand genagelten Kalender zu Rate zog, »muß hier ein Irrtum vorliegen. Nach den bestimmten Angaben der Wissenschaft darf die Sonne um diese Jahreszeit erst um fünfeinhalb aufgehen. Es ist erst fünf, und schon ist sie da. Ein strafwürdiger Diensteifer! Dieses Gestirn ist im Unrecht, ich werde mich auf dem Bureau der Längengrade beschweren. Trotzdem wäre es Zeit, wenn ich anfinge, mich etwas zu beunruhigen. Es ist heute das Morgen von gestern, und da wir gestern den 7. hatten, so muß es heute, falls nicht Saturn den Krebsgang geht, der 8. April sein. Wenn ich aber dem Inhalt dieses Papieres glauben darf,« fuhr Schaunard fort, indem er einen Räumungsbefehl, den der Gerichtsvollzieher an die Wand geklebt hatte, noch einmal las, »so muß ich bis heute mittag Punkt zwölf Uhr diese Wohnung geräumt und meinem Hauswirt, dem Herrn Bernard, für die rückständige Miete von drei Monaten die Summe von fünfundsiebzig Franken gezahlt haben. Ich habe, wie immer, gehofft, der Zufall würde diese Sache schon irgendwie in Ordnung bringen, aber es scheint mir, der Zufall hat noch nicht die nötige Zeit dazu gehabt. Jedenfalls habe ich noch sechs Stunden vor mir, und wenn ich sie richtig anwende, dann finde ich vielleicht ... Los, los! Auf die Suche!«

    Er war gerade im Begriff, einen Überzieher anzulegen, dessen Stoff früher einmal langbehaart gewesen, jetzt aber zu einer bejammernswerten Kahlheit angelangt war, als er plötzlich, wie von einer Tarantel gestochen, einen Tanz eigener Komposition auszuführen begann, der ihm schon oft auf öffentlichen Bällen die Ehre eines Hinauswurfs durch die Polizei eingetragen hatte.

    »Wundervoll!« schrie er. »Es ist doch eigenartig, was für Ideen man des Morgens hat. Ich glaube, mir fällt da etwas Neues für meine Arie ein. Wir wollen sehen!«

    Und Schaunard setzte sich halbnackt an sein Piano, weckte das schlummernde Instrument durch einen wahren Sturm von Akkorden und begann, laut dabei redend, auf dem Klavier die Melodie zu verfolgen, die er schon lange suchte.

    »C, g, e, c, a, h, c, d, bumm, bumm. F, d, e, d. O weh, dieses d ist falsch wie Judas,« rief Schaunard und schlug wütend auf die schlecht klingende Taste. »Versuchen wir es in Moll... Es soll den Kummer eines jungen Mädchens wiedergeben, das an einem blauen See ein Gänseblümchen zerrupft. Die Idee ist ja gerade nicht neu. Aber da es jetzt Mode ist und man schwerlich einen Verleger fände, der es wagt, eine Romanze ohne einen blauen See herauszubringen, so muß man schon mitmachen. D, g, e, c, a, h, d. Das klingt schon besser, man kann sich dabei schon ein Gänseblümchen vorstellen, besonders, wenn man in der Botanik sehr bewandert ist. Jetzt aber brauche ich, um den blauen See verständlich zu machen, noch etwas Fließendes, Himmelblaues, etwas wie Mondschein (denn der Mond kommt ja auch in dem Gedicht vor). Halt, so geht's – aber ich darf auch den Schwan nicht vergessen...« Schaunard ließ dabei die kristallklaren Noten der hohen Oktaven ertönen.

    »Nun folgen die Abschiedsworte des jungen Mädchens,« fuhr er fort, »bevor sie sich in den blauen See stürzt, um sich mit dem Geliebten zu vereinigen, der unter dem Schnee begraben liegt. Die Geschichte ist etwas unklar, aber ganz interessant. Hier müßte man etwas Zartes, Melancholisches anbringen. Halt, so geht es; diese letzten Takte weinen ja wie die Magdalenen, das zerspaltet das Herz, Brr!« unterbrach er sich fröstelnd in seinem mit Sternenflitter besäten Unterrock. »Lieber wäre es mir, es zerspaltete mir etwas Holz! Übrigens in meinem Alkoven befindet sich ein Deckenbalken, der mir sehr lästig ist, wenn ich Gesellschaft darin habe ... ich werde etwas Feuer damit machen, denn ich fühle, daß meine Inspiration zugleich mit einem Schnupfen kommt. Aber was macht das! Fahren wir fort, das junge Mädchen zu ertränken.«

    Und während Schaunards Finger das bebende Klavier folterten, verfolgte er mit leuchtendem Auge und gespanntem Ohr seine Melodie, die wie eine flüchtige Sylphe inmitten der das Zimmer erfüllenden Klangwolken dahinschwebte.

    »Jetzt müssen wir aber sehen,« begann Schaunard von neuem, »wie meine Musik zu dem Text meines Dichters paßt.«

    Und mit einer krächzenden Stimme trällerte er das Bruchstück eines jener Lieder, die eigens für die Operetten und Tanzlokale geschaffen scheinen:

    Die blonde, junge Schöne

    Wirft ihren Mantel hin,

    Zum sternenhellen Himmel

    Blickt sie mit trübem Sinn.

    Und in die blauen Fluten

    Des silberweißen Sees

    »Wie? Was?« schrie Schaunard plötzlich in wohlberechtigter Entrüstung. »Die blauen Fluten eines silberweißen Sees? So was habe ich wirklich noch nicht gesehn. Die Romantik geht mir denn doch zu weit! Dieser Dichter ist ein richtiger Idiot, der weder Silber noch einen See kennt. Überhaupt ist die ganze Ballade blödsinnig. Das Versmaß geniert mich bei der Musik, und in Zukunft werde ich mir meine Gedichte selbst dichten.«

    Mit der entsetzlichen Nasalstimme, die ihm eigen war, begann er jetzt von neuem, sein Kunstwerk vorzunehmen, bis er endlich mit dem Ergebnis zufrieden war und sich mit einer Grimasse des Jubels beglückwünschte. Aber diese stolze Glückseligkeit dauerte nicht lange.

    Elf Uhr schlug es auf dem nahen Kirchturm, und jeder einzelne Schlag verlor sich im Zimmer in spöttischen Tönen, die dem armen Schaunard zuzurufen schienen: Bist du bereit?

    Der Künstler flog von seinem Stuhl empor.

    »Die Zeit läuft wie ein gejagter Hirsch«, sagte er. »Es bleiben mir nur noch dreiviertel Stunden, um fünfundsiebzig Franken und eine neue Wohnung zu finden. Ich werde es aber wohl kaum fertig bekommen, dazu gehören Zauberkräfte. Immerhin, ich gebe mir fünf Minuten Zeit zum Suchen!« Damit steckte er den Kopf zwischen seine beiden Knie und versank in die Abgründe des Nachdenkens.

    Die fünf Minuten vergingen, und Schaunard erhob seinen Kopf, ohne daß er etwas gefunden hatte, was nach fünfundsiebzig Franken aussah. »Es gibt wohl nur eine einzige Möglichkeit, von hier fortzukommen, und die ist, einfach hinauszugehen. Draußen ist schönes Wetter, vielleicht macht mein Freund, der Zufall, gerade einen Spaziergang im Sonnenschein. Er muß mich wirklich irgendwo unterbringen, bis ich Mittel gefunden habe, Herrn Bernard zu befriedigen.«

    Schaunard stopfte jetzt die kellertiefen Taschen seines Überziehers mit allen möglichen Gegenständen voll, knotete etwas Wäsche in ein seidenes Halstuch und verließ sein Zimmer, nachdem er sich mit einigen Worten von seiner Wohnung verabschiedet hatte.

    Als er den Hof durchschritt, hielt ihn plötzlich der Portier des Hauses an, der ihn zu erwarten schien.

    »Sie, Herr Schaunard!« schrie er, indem er dem Künstler den Weg vertrat. »Bedenken Sie denn nicht, daß wir heute den achten haben?«

    »Acht mal fünf sind vierzig,

    Wer anders sagt, der irrt sich!«

    trällerte Schaunard. »Ich denke überhaupt an nichts anderes!«

    »Sie sind nämlich mit ihrem Ausziehen noch weit zurück«, sagte der Portier. »Es ist halb zwölf, und der neue Mieter, der in Ihre Wohnung einzieht, kann jeden Augenblick eintreffen. Sie müßten sich jetzt wirklich etwas beeilen.«

    »Dann lassen Sie mich bitte vorbei«, antwortete Schaunard. »Ich werde einen Möbelwagen holen.«

    »Natürlich, aber bevor Sie ausziehen, ist noch eine kleine Formalität zu erledigen. Ich habe Befehl, Sie kein Haar hinaustragen zu lassen, bevor Sie nicht die drei verfallenen Monatsraten bezahlt haben. Sie haben sich doch darauf eingerichtet?«

    »Selbstverständlich«, meinte Schaunard und wollte weitergehen.

    »Wenn Sie dann in meine Loge kommen wollen,« fuhr der Portier fort, »dann kann ich Ihnen Ihre Quittungen geben.« »Ich werde sie mitnehmen, wenn ich zurückkomme.«

    »Aber warum denn nicht jetzt?« fragte der Portier in dringendem Ton.

    »Ich gehe in eine Wechselstube ... ich habe kein kleines Geld.«

    »Ach so«, erwiderte der andere beunruhigt. »Sie holen Wechselgeld? Dann werde ich so lange, um Ihnen gefällig zu sein, das kleine Paket aufbewahren, das Sie unter dem Arm tragen und das Ihnen sicher lästig ist.«

    »Herr Portier,« sagte Schaunard mit Würde, »sollten Sie vielleicht Mißtrauen gegen mich hegen? Glauben Sie denn, ich schleppe Möbelstücke in einem Halstuch davon?«

    »Verzeihen Sie, mein Herr«, antwortete der Portier, indem er seine Stimme etwas dämpfte. »Herr Bernard hat mir ausdrücklich befohlen, ich dürfte Sie kein Haar davontragen lassen, bevor Sie nicht bezahlt hätten.«

    »Aber sehen Sie doch«, sagte Schaunard, indem er sein Bündel öffnete. »Das sind doch keine Haare, das sind meine Hemden. Und ich trage sie zur Wäscherin, die neben dem Wechsler wohnt, keine zwanzig Schritte von hier.«

    »Das ist etwas anderes«, meinte der Portier, nachdem er sich den Inhalt des Bündels angesehen hatte. »Übrigens, ohne neugierig zu sein, Herr Schaunard, dürfte ich Sie wohl nach Ihrer neuen Adresse fragen?«

    »Ich wohne Rue de Rivoli«, antwortete kaltblütig der Künstler und ging auf die Straße hinaus, wo er sofort schnellere Schritte einschlug.

    »Rue de Rivoli«, murmelte der Portier, indem er sich die Nase rieb. »Merkwürdig, daß man ihm auf der vornehmen Rue de Rivoli eine Wohnung vermietet hat, ohne sich vorher hier zu erkundigen. Das ist sehr merkwürdig. Hoffentlich kommt der neue Mieter nicht gerade in dem Augenblick, wenn Herr Schaunard auszieht, das würde einen schönen Spektakel auf meinen Treppen geben. Hallo!« fuhr er fort, indem er durch sein Fensterchen auf die Straße blickte. »Da kommt er ja gerade, mein neuer Mieter.« Tatsächlich betrat ein junger Mann mit einem weißen Hut im Stile Ludwigs XIII. auf dem Kopf den Hausflur. Ihm folgte ein Dienstmann, der nicht gerade unter der Last, die er trug, zusammenbrach.

    »Mein Herr,« fragte er den Portier, der herausgetreten war, »ist meine Wohnung frei?«

    »Noch nicht, mein Herr, aber sie wird gleich so weit sein. Der bisherige Mieter holt nur einen Wagen, um auszuziehen. Inzwischen könnte ja der Herr seine Möbel auf den Hof stellen lassen.«

    »Ich fürchte, es könnte regnen«, antwortete der junge Mann, indem er ruhig an einem Veilchensträußchen kaute, das er zwischen den Zähnen hielt. »Meine Möbel würden dann leiden. Dienstmann,« fügte er hinzu und wandte sich an den Mann, der hinter ihm geblieben war und allerlei Gegenstände trug, deren Natur sich der Portier nicht enträtseln konnte, »stellen Sie das in den Hausflur und holen Sie aus meiner Wohnung, was noch an kostbaren Möbelstücken und Kunstwerken da ist.«

    Der Dienstmann lehnte mehrere, sechs bis sieben Fuß hohe Rahmengestelle an die Wand, die zusammengeklappt waren, sich aber anscheinend leicht entfalten ließen.

    »Halt!« sagte der junge Mann zu dem Dienstmann, indem er einen Flügel halb aufschlug und auf einen Riß wies, der sich in der Leinwand befand. »Sehen Sie, was Sie angerichtet haben? Sie haben mir meinen großen venezianischen Spiegel zerschlagen. Auf Ihrem zweiten Gang nehmen Sie sich mehr in acht, besonders mit meiner Bibliothek.«

    »Was redet er denn von seinem venezianischen Spiegel?« murmelte der Portier, indem er einen unruhigen Blick auf die Rahmengestelle warf, die an der Wand lehnten. »Ich sehe keinen Spiegel. Aber vielleicht scherzt er, es ist ja nur ein Ofenschirm. Nun, wir werden ja sehen, was der Dienstmann beim zweitenmal bringt.«

    Der junge Mann wollte sich gerade von neuem erkundigen, wann die Wohnung endlich frei würde (denn es war halb eins geworden), als ein Dragoner im Ordonnanzanzug erschien und einen Brief für Herrn Bernard brachte.

    »Entschuldigen Sie, wenn ich Sie allein lasse«, sagte der Portier zu dem jungen Mann, der ungeduldig auf dem Hof auf und ab ging. »Aber hier ist ein Brief aus dem Ministerium für Herrn Bernard, den Hausbesitzer, und ich muß ihn hinaufbringen.«

    Herr Bernard war, als der Portier bei ihm eintrat, gerade dabei, sich zu rasieren. »Was wollen Sie, Durant?«

    »Herr Bernard, eine Ordonnanz hat diesen Brief für Sie gebracht. Er kommt aus dem Ministerium.«

    Und er hielt dem Hausherrn den mit Siegel des Kriegsministeriums verschlossenen Brief hin.

    »O mein Gott!« hauchte Herr Bernard so bewegt, daß er sich beinahe geschnitten hätte. »Aus dem Kriegsministerium! Sicherlich ist das meine Ernennung zum Ritter der Ehrenlegion, nach der ich schon so lange strebe. Endlich wird meine gute Gesinnung anerkannt. Hier, Durand,« fuhr er fort, indem er in seiner Westentasche herumwühlte, »hier sind fünf Franken, die Sie auf meine Gesundheit vertrinken können. Doch, halt, ich habe gerade kein Geld in der Tasche, ich werde sie Ihnen sogleich geben. Warten Sie!«

    Der Portier war so verblüfft über diesen unheimlichen Anfall von Großmut, den er bei seinem Hauseigentümer nicht gewohnt war, daß er sich verwirrt seine Mütze über den Kopf stülpte.

    Aber Herr Bernard, der sonst einen solchen Verstoß gegen die Gesetze der sozialen Ordnung streng gerügt hätte, schien es gar nicht zu bemerken. Er setzte sich die Brille auf, und mit der ehrfurchtsvollen Ergriffenheit eines Veziers, der einen Firman des Sultans empfängt, begann er das Schreiben durchzulesen. Aber schon bei den ersten Zeilen grub eine fürchterliche Grimasse dunkelrote Falten in sein fettes Mönchsgesicht, und seine kleinen Augen schleuderten Blitze, die fast die Locken seiner struppigen Perücke in Brand gesetzt hätten.

    Schließlich zeigten alle seine Züge eine solche Verwirrung, als sei ein Erdbeben über sein Gesicht gegangen. Der Inhalt des Schreibens aber, das auf einem Briefbogen mit dem Vordruck des Kriegsministeriums stand und von einem Dragoner als Eilboten gebracht worden war, lautete folgendermaßen:

    »Geehrter Herr und Hausbesitzer!

    Die Höflichkeit, die, wenn man der Mythologie glauben darf, die Mutter der guten Sitten ist, zwingt mich, Ihnen mitzuteilen, daß ich leider nicht in der Lage bin, meine Miete zu bezahlen. Bis heute früh hatte ich mich in der Hoffnung gewiegt, zur Feier dieses schönen Tages die drei fälligen Mietquittungen berichtigen zu können. Es war eine Schimäre, ein Traum, eine Illusion! Während ich in friedlicher Sicherheit schlummerte, hat das Pech, auf griechisch Ananke, alle meine Hoffnungen vernichtet. Die Zahlungen, auf deren Eingang ich rechnete (mein Gott, was haben wir für schlechte Zeiten!), sind nicht eingetroffen, und von ganz beträchtlichen Summen, die man mir schuldet, habe ich erst drei Franken erhalten. Ich lieh sie mir und will sie Ihnen nicht erst anbieten. Aber zweifeln Sie nicht, mein Herr, es werden auch wieder bessere Tage für unser schönes Frankreich und für mich kommen. Sobald sie uns erstrahlen werden, eile ich auf Flügeln zu Ihnen, um es Ihnen mitzuteilen und die kostbaren Gegenstände abzuholen, die ich zurückgelassen habe. Inzwischen überlasse ich sie Ihrer Obhut und der des Gesetzes, das Ihnen vor Ablauf eines Jahres verbietet, sie zu verkaufen, falls Sie etwa versucht sein sollten, sich in den Besitz der Summe zu setzen, die Ihnen im Register meiner Ehrlichkeit gutgeschrieben ist. Vor allem empfehle ich Ihrer Fürsorge mein Klavier und den großen Rahmen mit den sechzig Haarlocken, deren verschiedene Farben die ganze Skala aller möglichen Haararten durchlaufen. Das Skalpell Amors hat sie von der Stirn der Grazien abgeschnitten.

    Sie können demnach, geehrter Herr und Hausbesitzer, über das Deckgetäfel, unter dem ich gewohnt habe, verfügen. Ich gewähre Ihnen meine Erlaubnis, die ich mit eigenhändiger Unterschrift bestätige.

    Alexander Schaunard.«

    Als Herr Bernard den Brief gelesen hatte, den der Künstler im Bureau eines seiner Freunde geschrieben, der im Kriegsministerium angestellt war, zerknitterte er ihn voller Entrüstung, und da nun sein Blick auf den Vater Durand fiel, der auf das versprochene Trinkgeld wartete, fragte er ihn barsch, was er eigentlich noch wolle.

    »Ich warte, Herr Bernard.«

    »Auf was?«

    »Aber Herr Bernard waren doch so gütig ... in Anbetracht der guten Nachricht ...« stammelte der Portier.

    »Scheren Sie sich hinaus! Was, Sie Schlingel, Sie behalten hier im Zimmer die Mütze auf dem Kopf?«

    »Aber, Herr Bernard ...«

    »Gehen Sie, keine Widerrede! Hinaus! Oder nein, warten Sie lieber. Wir wollen uns das Zimmer dieses Lumpen von einem Künstler ansehen, der auszieht, ohne mich zu bezahlen.«

    »Aber Herr Schaunard ist doch noch gar nicht ausgezogen«, stammelte der arme Portier. »Er holt sich nur Geld, um Sie zu bezahlen, und bringt einen Wagen mit, der seine Möbel fortschafft.«

    »Der die Möbel fortschafft?« schrie Herr Bernard. »Laufen Sie, er ist jetzt sicher dabei. Er hat Ihnen eine Falle gestellt, um Sie aus der Loge herauszubringen, Sie Dummkopf!«

    Als sie auf dem Hof anlangten, wurde der Portier von dem jungen Mann im weißen Hut angehalten.

    »Ah, da sind Sie ja, Portier!« schrie er. »Kann ich denn nun endlich in meine Wohnung einziehen? Ist heute der 8. April? Habe ich hier nicht gemietet, habe ich Ihnen nicht eine Anzahlung gegeben? Ja oder nein?«

    »Verzeihung, mein Herr«, sagte der Hauseigentümer. »Mein Portier wird die Sachen, die in der Wohnung zurückgeblieben sind, in den Keller bringen, und in einer halben Stunde können Sie einziehen. Übrigens haben Sie ja Ihre Möbel noch nicht hier.«

    »Bitte sehr«, antwortete der junge Mann, indem er seine Rahmen auseinanderklappte und dem verblüfften Hausbesitzer die prachtvolle Innenansicht eines Palastes mit Jaspissäulen, Basreliefs und Gemälden berühmter Meister zeigte.

    »Ja, aber Ihre Möbel?« fragte Herr Bernard.

    »Das sind sie doch!« antwortete der junge Mann und wies auf das prunkvolle Mobiliar des gemalten Palastes. Er hatte es soeben bei einer Versteigerung der Dekorationen eines Privattheaters erstanden.

    »Mein Herr,« erwiderte der Hauseigentümer, »ich möchte doch annehmen, daß Sie echtere Möbel als diese haben.«

    »Aber sie sind echt Rokoko.«

    »Ich muß doch eine Garantie für meine Miete haben!«

    »Zum Teufel, ein Palast genügt Ihnen nicht als Sicherheit für die Miete einer Dachwohnung?«

    »Nein, mein Herr, ich will Möbel, wirkliche Möbel aus Mahagoniholz!«

    »Ach, geehrter Herr, weder Gold noch Mahagoni machen uns wahrhaft glücklich, wie ein alter Weiser sagt. Und dann kann ich es auch nicht leiden, es ist direkt ekelhaft, alle Welt hat Mahagoni.«

    »Aber, mein Herr, Sie müssen doch schließlich irgendwelches Mobiliar haben?«

    »Nein, das nimmt mir den ganzen Platz in meiner Wohnung fort. Und wenn überall Stühle herumstehen, dann weiß man gar nicht mehr, wohin man sich setzen soll.«

    »Aber Sie haben doch wenigstens ein Bett! Worauf schlafen Sie denn?«

    »Auf meinem guten Gewissen.«

    In diesem Augenblick kam der Dienstmann des jungen Mannes von seinem zweiten Gang zurück und betrat den Hof. Unter den Gegenständen, mit denen er bepackt war, befand sich auch eine Staffelei.

    »O Herr Bernard!« rief der Vater Durand erschreckt und wies auf die Staffelei. »Es ist ein Maler!«

    »Ein Künstler! Ich hab' es geahnt!« rief jetzt auch Herr Bernard, und die Haare seiner Perücke sträubten sich vor Entsetzen. »Ein Maler! Aber warum haben Sie denn über den Herrn keine Erkundigung eingezogen?« fuhr er fort, indem er sich an den Portier wandte. »Sie kannten also gar nicht seinen Beruf?«

    »Du lieber Himmel«, antwortete der arme Mann. »Er hat mir doch fünf Franken angezahlt. Wie konnte ich da so was ahnen?«

    »Wenn Sie mit Ihrer Auseinandersetzung fertig sind ...« begann nun wieder der junge Mann.

    »Mein Herr,« fiel ihm Herr Bernard ins Wort und rückte sich entschlossen die Brille zurecht, »da Sie keine Möbel haben, können Sie auch nicht einziehen. Das Gesetz berechtigt mich, einen Mieter zurückzuweisen, der keine Garantien gibt.«

    »Genügt Ihnen mein Wort nicht?« fragte der Künstler mit Würde.

    »Es ersetzt nur nicht die Möbel ... suchen Sie sich eine andere Wohnung. Übrigens«, fügte er hinzu, da ihm ein plötzlicher Gedanke kam, »könnte ich Ihnen ja das betreffende Zimmer auch möbliert vermieten, indem ich die Möbel Ihres Vorgängers darin lasse. Aber Sie wissen wohl, daß man hierbei vorausbezahlt.«

    »Es kommt darauf an, was Sie dann für die Rumpelkammer verlangen!« meinte der Künstler.

    »Die Wohnung wird Ihnen sehr gefallen. Den Mietpreis würde ich Ihnen in Anbetracht der Umstände auf fünfundzwanzig Franken festsetzen.«

    »Schön«, sagte der junge Mann, indem er in seine Tasche griff. »Können Sie auf fünfhundert Franken herausgeben?«

    »Auf wieviel sagten Sie?« fragte der Hausbesitzer verblüfft.

    »Auf die Hälfte von tausend! Haben Sie soviel Geld noch nie gesehen?« fuhr der junge Mann fort und hielt dem Hausbesitzer und dem Portier den Schein vor die Nase, so daß sie fast auf den Rücken fielen.

    »Ich werde Ihnen herausgeben lassen«, erwiderte Herr Bernard respektvoll. »Es sind übrigens nur zwanzig Franken, denn Durand wird Ihnen die Anzahlung zurückgeben.«

    »Die kann er behalten,« sagte der Künstler, »aber unter der Bedingung, daß er mir jeden Morgen den Wochentag, das Monatsdatum, das Mondviertel, das voraussichtliche Wetter und die Regierungsform, unter der wir leben, ansagt.«

    »O mein Herr«, schrie der Vater Durand und machte eine Verbeugung von neunzig Grad.

    »Schon gut, Alter, Sie werden also mein Kalender sein. Inzwischen zeigen Sie nur dem Dienstmann den Weg, damit ich einziehen kann.«

    »Und ich werde Ihnen Ihre Quittung schicken«, sagte der Hauseigentümer.

    So bezog also der neue Mieter des Herrn Bernard, der Maler Marcel, die Wohnung des durchgebrannten Schaunards, nachdem er sie in einen Palast umgewandelt hatte.

    Inzwischen befand sich dieser besagte Schaunard in den Straßen von Paris auf der Geldsuche.

    Schaunard hatte das Pumpen zur Höhe einer Kunst erhoben. Für den Fall, daß er einmal Ausländer anzapfen müßte, hatte er die zum Entleihen von fünf Franken nötigen Phrasen in allen Sprachen der Welt auswendig gelernt. Er hatte das ganze Repertoire der Listen studiert, die das Silber anwendet, um denen zu entgehen, die es am hitzigsten verfolgen, und weit besser, als ein Lotse die Stunden von Ebbe und Flut kennt, kannte er die Zeiten, in denen bei seinen Freunden und Bekannten Geld einzukommen pflegte. Daher gab es Häuser, wo man, wenn man ihn des Morgens eintreten sah, nicht sagte: »Da kommt Herr Schaunard!« sondern: »Da kommt der 1. oder der 15. des Monats!« Um nun die Eintreibung dieses Tributs leichter und regelmäßiger zu gestalten, hatte sich Schaunard eine nach Stadtvierteln abgeteilte Liste aller seiner Freunde und Bekannten angelegt. Vor jedem Namen stand das Maximum der Summe, die man nach ihrem Vermögenszustand von ihnen entleihen konnte, die Zeiten, da sie bei Gelde waren, die Stunde ihrer Mahlzeit und der gewöhnliche Küchenzettel. Außer diesem Verzeichnis besaß Schaunard noch eine vollkommen geordnete

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