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Kunst-Kurz: Kurzgeschichten-Anthologie zum Thema Kunst
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eBook261 Seiten2 Stunden

Kunst-Kurz: Kurzgeschichten-Anthologie zum Thema Kunst

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Über dieses E-Book

Künstler*innen, Ausstellungen, Kulturorte, -szene und das "Drumherum" bieten Stoff für spannende Geschichten und literarische Auseinandersetzungen mit und über Künstler*innen, Protagonisten, Antagonisten, Visionen, Ängsten und Fragen.
Anlässlich des im Sommer 2019 zum zweiten Mal stattfindenden Kunstfestivals GIENNALE in Gießen sammelte der Künstler und Autor Wolf D. Schreiber hierzu Texte von Autor*innen aus dem gesamten deutschsprachigen Raum, mit einem Schwerpunkt auf Kurzgeschichten.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum11. Juni 2019
ISBN9783748597193
Kunst-Kurz: Kurzgeschichten-Anthologie zum Thema Kunst

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    Buchvorschau

    Kunst-Kurz - Wolf Schreiber (Hrsg.)

    Inhaltsverzeichnis

    Silke Brandt − Schwarzer Schnee in Norilsk

    Jörg Brixel − Slow Killer

    Anna Cijevschi − Leinwand

    Alex Dreppec − Die Kunst des Vermoderns

    Sabine Frambach − Willkommen in Art World!

    Siegfried Grosse − Morgenritual

    Gudrun Güth − Lightshow

    Hans-Jürgen Hädicke − Prozessprotokoll in der Strafsache »Kunst gegen Kunst«

    Pedro Hafermann − Variationen des Scheiterns

    Julius Robin Höhne − Madlen

    Boris Kerenski − Geklebte Papiere

    Daniel Klaus − Achtziger Jahre-Brüste

    Volker Krieger − Die Mütter sind schuld

    Herbert Kuboth − Hohe Kunst

    Susanne Mathies − Beleuchtet

    Mara Meier − Die Zeichenstunde

    Tobias Meinhardt − Fast ein Verbrechen

    Ulrike Melzer − Irgendwas mit Kunst

    Florian Michnacs − Obligationen (Romanauszug)

    Curd Neptun − Circus

    Rene Oberholzer − Die Enthüllung

    Karina Odenthal − Mord in Tempera. Scharlachrot

    Bertram B. Ohne − Alles ist Punk! Punk muß!

    Arpan Phönix − Musenlos

    Sylvia Schmieder − Holzmann

    Daniel Schneider − Blech

    Wolf D. Schreiber − This is reality

    Timon Seibel − Ein fröhliches Lied

    Maggie Thieme − Künstlerindasein

    Susan Tumbrel − Das Kunstprojekt

    Jürgen Weing − eine frage: wozu kunsten?

    Thomas Wörsdörfer − » Ich bin ich, ich bin hier, und dies ist der Ort, an dem ich sterbe «

    Pedro Zobel − Einladung

    Kurz-Biografien

    Impressum

    Silke Brandt 

    − Schwarzer Schnee in Norilsk

    Die Bezahlung zerrt an meiner Hand, wagt aber keinen Laut. Hunger macht das Kind gehorsam.

    Keine Klebetütenschnüffler, keine Drogis. Nicht älter als zehn. Nur diese Anweisung. Um Geld geht es hier nicht – der Deal ist Blut gegen Tinte. 

    Das Gesicht des Jungen ist unter seiner Kapuze verborgen, aber ich bin sicher, dass er nicht weint. Der Schnee ist so weiß wie an gewöhnlicheren Orten, nur die Abgase der Industrieschornsteine hängen über der Stadt, erstickendes Grau, Schwefeldioxid. Kälte presst den Brustkorb zusammen, Klaustrophobie in einer Welt aus Frost. Vor uns ragen neobarocke Monster auf, ein Dutzend Stockwerke erbsengrüner Fassaden mit ihren Halbsäulen. Sie wirken unbewohnt, verlassen wie die Altstadt. Aber es gibt ein Ziel: Cherniy Sneg, Schwarzer Schnee – eher Titel als Künstlername. Er ist ein Tätowiermeister, sein Rezept geheim, doch wird geredet von verbrannten Menschenknochen, Nickel, Aluminium, Schlacke. Das Gift, das die Tundra in eine Totenlandschaft verwandelte. Keine Farbe außer Schwarz in seinen Nadeln. Kein Kunde darf die Motive bestimmen.

    Sein Arbeitszimmer findet sich in einem Abbruchhaus. Zur Begrüßung streckt er mir eine Flasche entgegen – ohne Etikett, zu hoch gefüllt. Der Selbstgebrannte beißt auf der Zunge, schmeichelt dann mit ungewohnter Süße. Nach dem zweiten Schluck wird mir schwindelig.

    »Erst das Vergnügen, dann die Arbeit!«, witzelt Cherniy und schiebt den Jungen ins Nebenzimmer. Ich schenke mir ein Wasserglas voll und trinke auf ex. Ich will nichts hören. 

    Das geblümte Wachstuch auf dem Tisch sieht aus, als sei jemand darauf seziert worden. Ich zeichne das Muster mit einem Finger nach. Draußen wirbelt Schnee vom Dach, ein Baum schüttelt seine Äste und verschwindet dann wie hinter einer Nebelwand. Als ich aufwache, meine ich, den Tag verschlafen zu haben. Herzschlag, Atmen dröhnt in meinen Ohren, der Weg zum Bad gleicht dem Vorantasten in einem Tunnel. Eine Hand abgestützt über dem Klo ziele ich nach Gefühl. Die Fliesen sind klebrig unter meinen Fingern, rote Schlieren, Tröpfchen. Neben mir wartet etwas in der Badewanne. Ich höre ein Zucken, Fleisch auf Emaille. Du bist ganz schmutzig, denke ich. Jemand müsste dich mal waschen. Ich schweige aus Angst, er könne antworten. Stehle mich rückwärts hinaus. 

    »Ich sehe, du hast noch was zum Desinfizieren übrig gelassen«, begrüßt mich Cherniy. Auf dem Tisch eine Plastikflasche mit Tusche und eine archaische Maschine aus Akkus und Kabeln, zusammengehalten von Gummibändern, Schichten getrockneter Tinte. Umständlich schäle ich mich aus den Klamotten. Die Wachsdecke unter mir riecht nach eingelegtem Matjes. Der Alte beklopft meinen Rücken wie ein Kotelett, prüft die Dicke meiner Haut zwischen den Fingern. 

    »Du hast mich belogen«, sagt er knapp. Die Hand kommt auf meiner Schulter zur Ruhe. »Das werden wir wegmachen.«

    Ich finde keine Stimme, um einzuwenden, dass mein Tattoo winzig ist, kein Rivale für sein Meisterwerk. Doch er duldet kein fremdes Handwerk. Unbeschriebene Haut – die einzige Bedingung, die ich missachtet habe. Wodka steigt mir die Kehle hoch. Die Maschine surrt. Ihre Nadeln tauchen in die Haut, als würde ein glühender Nagel hindurchgezogen. Als sei das Gerät längst heiß gelaufen. Mein Atem stockt, die Sicht verschwimmt. Er arbeitet ohne Pause; wird nicht aufhören, bevor der Rücken bedeckt ist. Mein Fleisch ist fieberheiß, die Haut juckt. Was, wenn mein Körper die Tusche abstößt? Das Blut alle Pigmente herausschwemmt und nur toxische Metalle zurücklässt, so wie bei Schneeschmelze der Dreck eines ganzen Jahres an die Oberfläche spült?

    Ich tauche aus einem nassen, klebrigen Albtraum auf. Die Maschine schweigt. Ich stemme mich hoch, das Wachstuch haftet am Bauch. Meine Uhr zeigt Viertel vor sechs. Irgendwann fährt ein Bus. Ich sammle verstreute Kleidung auf, die sich nur mit Mühe überstreifen lässt, Stoff kratzt über die Wunden. Nicht ins Bad ... gleich über die Treppe. Draußen sind fünfundvierzig Grad minus – ich stelle mir vor, wie nach und nach die Kleiderschichten am Körper festfrieren. 

    »Du hast vergessen, den Müll mitzunehmen.« Cherniy drückt mir einen verknoteten Plastiksack in die Hand. Innen glitscht etwas Schweres. Es wird einen Umweg durch die Ruinen der Altstadt geben. Ich darf den Bus nicht verpassen.

    Jörg Brixel 

    − Slow Killer

    Loneliness is the cloak you wear

    a deep shade of blue is always there

    Der Mond. Der Mond war das wirklich Ungewöhnliche. Als bleicher Tagwächter tauchte er die doch eigentlich eher heitere Szenerie in ein grüblerisches Licht. Einige diffuse schwarze Striche, die aus der Rahmung hinauszuhuschen versuchten (kitschig, dachte Sarah, wie vom Flohmarkt, Deppenornamente, Blumen des Blöden - passend zum Rest, dieser Rahmen), hätten Rabenvögel darstellen können: ein weiterer Gruß der Nacht, wie schon der Mond, in ein Taggeschehen hinein. Aber, dachte Sarah, es waren wohl einfach noch mehr Kleckse eines großen Klecksers. Das war jetzt nicht ganz gerecht, denn im Grunde genommen war das Ganze diszipliniert gestaltet und gerade nicht dahingekleckst, und besagte Striche waren zunächst das einzige, das man als unkontrolliert, schlendrianhaft, von außen kommend hätte empfinden können. Also doch Rabenvögel? Das böse Wort vom Kleckser war Sarah ja auch nur in den Sinn gekommen, weil von der ganzen Machart her etwas Unzeitgemäßes aus dem Ding herausschwitzte, der völlig zu spät tätig gewordene Adept halt, versucht noch wie Böcklin zu malen, während um ihn herum schon Straßenbahnen fahren und Telefone klingeln (und dann auch noch zu feige, die Nacht zu malen, die er ursprünglich, das war ja jetzt wohl offensichtlich, hatte malen wollen).

    Nicht, dass Sarah kunsthistorisch sonderlich informiert gewesen wäre, sie selbst wäre nie auf die Idee gekommen, einen Kunstdruck an die Wand zu hängen, sie gab vor nicht zu wissen, was andere Menschen damit bezweckten; aber sie hatte ein feines Epochengespür und eine gute Nase für Prätentiosität, die in diesem Fall reichlich im Spiel gewesen war. Die Wohnung ihrer Freundin, die ähnlich gestrickt war wie Sarah (andernfalls hätte diese dem Wohnungstausch wohl kaum zugestimmt), umgab ansonsten die Anmutung eines Zengartens, wie so viele Behausungen der gutbezahlten und nervösen Arbeitsnomadinnen unserer Zeit; in der Tat ließ der Ikonoklasmus dieser Wohneinheit nur ein weiteres Bild zu: ein hastig an die Küchenwand gepinnter Ausdruck der Köpfe von Sarah und Kendra, die Opfer einer Gesichtertauschsoftware geworden waren.  

    Das inkriminierte Bild mit dem Mond, vor dem sich Sarah widerwillig immer häufiger wiederfand (einfach um es zu kritisieren, dachte sie zunächst), war also ein absoluter Fremdkörper, aus einer unbegreiflichen Gnade oder Nachlässigkeit heraus hängengelassen. Aber irgendwann sollte Sarah der seltsamen Gedanke heimsuchen, es hätte da schon immer gehangen, jenseits aller Vormieter, wäre der eigentliche Bewohner, und der Rest hätte sich erst drumherum konstituiert. 

    Was Kendra wohl darüber dachte? Ob sie es überhaupt wahrnahm, die oh so fokussierte Kendra? Sarah hatte es nicht Affäre nennen wollen, für sich nannte sie es gegenseitige Begutachtung (körperlich und in einigen anderen Zusammenhängen), was K. vermutlich abscheulich fände, aber Sarah brauchte einen nüchternen, gewissermaßen technischen Begriff, einerseits weil es ihr ein Gefühl von abgeklärter Gegenwärtigkeit gab, andererseits wollte sie sich nicht zu nah, von romantischem Vokabular umflattert, darauf einlassen; jedenfalls war Zeit für eine Pause, und es war Kendras Idee mit dem Wohnungstausch (ein halbes Jahr plus Kontaktsperre!), und Sarah hatte zugestimmt, gerade weil es absurd war. Vielleicht hatte K. aber doch etwas gespürt, diesen – Magnetismus, diesen irgendwie ungesunden Sog, und warf Sarah bewusst einer noch unbekannten Macht zum Fraß vor. Sarah fand diesen Gedanken erregend. Sie hatte Kendra fokussiert genannt, aber gleichzeitig war sie kaputt. Auf geheimnisvolle und hübsche Weise kaputt, ein bisschen wie Jennifer Jason Leigh. Sie ließ sich auf dem etwas zu weichen, bei der sanftesten Bewegung leicht schmatzende Geräusche absondernden Ledersofa nieder, das jetzt in idealem Blickabstand zu dem Gemälde aufgestellt war, und machte sich auf die Reise. Heute würde sie vom Mond aus starten. Der Mond.

    Früher hatte sie bei jeder Gelegenheit auf dieser Bank gesessen, früher, als es noch keiner übermenschlichen Anstrengung bedurfte, die Wohnung zu verlassen. Vielleicht war es der Anblick einer ersten Hummel vom Küchenfenster aus, gepaart mit dem Geruch von Spargelurin (ihrem eigenen, Nigel hatte ihr grünen vom Markt in Notting Hill mitgebracht), der ihr die Kraft gab, sich in den Frühling aufzuraffen und die Tube zum Park zu nehmen. Von hier aus konnte man mitten in der Stadt die Stadt völlig ausblenden und in ein bald pastorales Ambiente eintauchen, Kopfweiden, Schilfrohr, Schwäne, die von Zeit zu Zeit bösartige Geräusche ausstießen (ihrem Sofa nicht unähnlich), das volle Programm. Einmal hatte sie eine Schildkröte beobachtet und versucht, ihr Zeitlupendasein in sich aufzunehmen, Stunden verbrachte sie damit; ein anderes Mal hielt ihr jemand eine ziemlich große, silbrig schimmernde Muschel entgegen, die er angeblich aus dem Teich gezogen hatte. Aber ihr absoluter Favorit waren die Teichhühner, die, einem unbekannten Muster folgend, das Teichufer entlang irrlichterten (im Wasser waren sie so gut wie nie zu sehen, und wenn doch, sah es wie ein Versehen aus), irgendwie ähnelten sie Geheimnisträgern, nonchalante, verwirrte Todesengel. Sarah kam eine Geschichte in den Sinn, worin es um eine Art Hexenwettbewerb ging, und ein Zauber (es wurden wirklich erstaunliche Dinge gezaubert) bestand darin, Entenküken untergehen zu lassen. Total krank.

    Krank sah auch der Typ aus, der sich jetzt der Bank näherte, ruckartige, koboldhafte Bewegungen, womöglich einem Bandscheibenleiden geschuldet, ein amateurhaft gefertigtes Batikshirt, Bermudashorts. Mein Gott, wehe, diese Kreatur spricht mich an. Aber Gott hatte ein Einsehen und ließ die Kreatur vorher abbiegen, und mit kosmischer Unbeholfenheit näherte sie sich dem Teichrand. Der Typ kniete nieder, als wollte er ein Gebet sprechen, und tunkte seinen hirnverbrannten Schädel in die entenkotgesättigte Flüssigkeit. Trank er etwa? Schnell steckte Sarah eine Salzmandel in den Mund (sie trug stets eine Tüte mit sich, etwas anderes bekam sie momentan kaum runter, na gut, der Spargel), damit ihr bei dem Gedanken nicht schlecht wurde. Oder war er Quasimodo als Narziß? Doch dann, nach längerer Beobachtung, begriff sie: Dies war eine Art Übergangsritual, von einem Element in das nächste, der Typ hatte sowas ähnliches wie ein Portal gefunden

    Für eine Sekunde schloss Sarah die Augen. Sofort erschien die vertraute unheimliche Landschaft, wie hatte sie sie bloß jemals heiter nennen können, und sie begann sich zu kräuseln wie der Teich, und warum nicht auch einfach mal den Kopf hineintunken? Ein auf unangenehme Weise süßlicher Geruch breitete sich aus. Als Sarah die Augen wieder öffnete, war der Priester verschwunden und die Wasseroberfläche völlig glatt, wie eine Leinwand, bereit für den nächsten aufsehenerregenden Wasservogelstart. Sarah würde nie wieder in ihren Park zurückkehren. Auf der Rückfahrt in der U-Bahn saß ihr ein Inder mit einem übergroßen, freundlichen Gesicht gegenüber. Er schaute sie an, als würde er sie kennen, nur als jemand anderen.

    Vor ihrer Haustür auf dem Trottoir erwartete sie eine obszöne Zeichnung, mit blauer Pastellkreide ausgeführt; wobei, von den Dimensionen her war die Zeichnung eher für die Augen von Göttern als die von Menschen bestimmt, erst vom zweiten Stock aus erkannte Sarah, was es darstellte. Vielleicht mögen die Götter ja das Obszöne, falls sie es erkennen.

    Man hätte nichts merken müssen, und die meisten merkten auch nichts. Sarah funktionierte, sie applaudierte irgendwelchen Filmchen in den sozialen Netzwerken und reichte sie brav weiter. Es war für sie nicht ungewöhnlich, sich mehrere Wochen nicht blicken zu lassen, und ihre Freunde waren feinfühlig genug, eine verlängerte Winterdepression zu respektieren. Einmal hatte sie Gareth auf eine kleine Party in Islington mitgenommen, und Sarah kam sich sogar einigermaßen geistreich vor, obwohl sie sich fühlte, als müsste sie jede Bemerkung aus einem hunderte Meter tiefen Brunnen hervorholen. Sie brauchte eine Woche, um sich davon zu erholen. Es hätte sie nicht weiter  gewundert, ein angegammeltes Kaninchen in ihrer Handtasche vorzufinden. Aber Kaninchen können auch Wegweiser sein. Es gibt fraglos Situationen, in denen nur noch ein Tier weiterhelfen kann, darum ist ihnen in dieser Geschichte ein Platz zugewiesen worden.

    Die Exkursionen in das, was sie früher arglos ein Gemälde genannt hatte, als Obsession zu bezeichnen, hätte noch zuviel Platz für eine Distanziertheit gelassen. Gerade betrachtete sie die, wie es schien, einzige menschliche Gestalt in der ganzen Veranstaltung: einen Sikh mit, wie auch anders, verschränkten Armen und kunstvoll gestaltetem Turban, der vor der Mauer, die das gesamte Bild durchzog, postiert war wie ein Türsteher; allerdings konnte Sarah beim besten Willen keine Tür erkennen, sie hatte es aus quasi allen Perspektiven ausprobiert. Fast war sie froh: der Gedanke an eine Tür in der Mauer wäre zuviel für sie gewesen, bei all der Permissivität, die auch ohne Tür schon zu Tage trat. Jedes Mal, wenn ihr Blick den des Sikh traf, wendete sie sich ab. Ein Fleck auf dem Mauerwerk, von Glyzinien umrahmt, den sie früher übersehen hatte und der auf den ersten Blick als abstrakte, der Gesamtkomposition geschuldete Farbsprengsel durchgehen konnte, stellte sich als psychedelisches Plakat heraus, mit menschlichen Köpfen und angeberisch verschwurbelten Schriftzügen, eine Werbung eventuell für ein Event jenseits der Mauer? Und der gestrenge Sikh würde tatsächlich den Eingang kontrollieren? Würde Sarah vor seinen Augen Gnade finden?

    Irgendwann fiel Sarah auf, dass sie sich noch nie gefragt hatte, wer der Urheber war. Immerhin handelte es sich um ein Original eines zwar deutlich epigonenhaften, aber doch handwerklich und gestalterisch begabten Künstlers. An manchen Stellen quoll einem die Farbe förmlich entgegen. Auch der versierte Nigel, der an mittelgroßen Auktionen mitarbeitete und sich eine lustlose Expertise abgerungen hatte (er hatte es, strangely enough, ein »Seestück« genannt, Sarah hatte

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