Smaragdgrau: Zehn literarische Ausflüge in eine spezielle Farbe
Von Severin Perrig
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Über dieses E-Book
Severin Perrig flaniert durch die Literatur von den uralten Mythen über Goethe und Kafka bis Monika Maron und findet allerhand erstaunliche, aber auch sich widersprechende Vorstellungen zur Farbe Grau. So kleiden sich bei Thomas Morus in der sogenannt "grauen Vorzeit" Utopier in weiße und graue Uniformen. Grau steht für Sicherheit, Seriosität, Bescheidenheit und Introspektion, gleichzeitig sind die Grisetten der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts und Christian Grey aus "Fifty Shades of Grey" alles andere als "graue Mäuse".
Der Autor erkundet in zehn poetischen Essays die Farbe Grau: Nach den kulturellen und biologischen Grundlagen für das Verständnis der Farbe Grau steigt Perrig hoch in die mythologische Deutung des lichtgrauen Universums, geht durch haigraue Städte und wandert über maultiergraue Landschaften, findet das Eisgrau der Fantasy, das Silbergrau im menschlichen Alterungsprozess und stößt auf die taubenzartgraue Erotik in der Literatur.
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Buchvorschau
Smaragdgrau - Severin Perrig
Der Autor und der Verlag bedanken sich
für die großzügige Unterstützung bei
img_000.jpgElisabeth Jenny-Stiftung
Der rüffer&rub Sachbuchverlag wird vom Bundesamt
für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre
2016–2020 unterstützt.
Erste Auflage Herbst 2020
Alle Rechte vorbehalten
© 2020 by rüffer&rub Sachbuchverlag GmbH, Zürich
info@ruefferundrub.ch | www.ruefferundrub.ch
Porträt Perrig: © Felix Ghezzi
Illustrationen: © Laila Defelice
Design E-Book: Clara Cendrós
ISBN Book: 978-3-906304-71-7
ISBN E-Book: 978-3-906304-75-5
Vorwort
Grau
Spaziergang zum Nullpunkt der Farbe …
Lichtgrau
Blick ins kosmische Sternentheater
Bleigrau
Stau im Literaturbetrieb
Sandgrau
Auf der Bahn der Gealterten
Haigrau
Einlaufen in verqualmte Stätten
Silbergrau
Wege zu den Grauberockten
Eisgrau
Albtraum vom Schattenland
Olivgrau
Träumend durch die unwirtliche Weite schweifen
Taubenzartgrau
Zu den Göttinnen, Grisetten und dem Herrn über fünfzig Schatten
Smaragdgrau
Hinaus aus der schalen Zeit
Grau
… nach dem Spaziergang
Anmerkungen, Literaturverzeichnis und Index
Autor
img_00.jpgimg_02.jpgSchon ein Kind spürt, wie verhalten Erwachsene die Farbbezeichnung Grau verwenden. Das Glanzlose wirkt nicht allzu glücklich machend, und so wird ein Kind auch äußerst selten in seinem lebhaften Farbspektrum damit spielen. Dieses Buch macht nun genau das Gegenteil davon: Allen nur möglichen und unmöglichen Grautönen wird unvoreingenommen, naiv und unverfroren nachgespürt, ohne dabei im belehrenden Grau in Grau eines geradezu erschlagenden Fachbuchs zu enden. Viel Staunenswertes wird hier eben auch bloß mit dem Augenzwinkern des Causeurs vorgeführt.
Da es im Gegensatz zu den bunten Farben kein grundlegendes Nachschlagewerk zum Grauen gibt, verdankt sich vieles in diesem Buch den eigenen, über Jahrzehnte hinweg gesammelten Lesefrüchten, aber auch unzähligen Recherchen, Gesprächen und persönlichen Erinnerungen. Dabei sind sehr subjektiv geprägte Essays entstanden, die ohne Anspruch auf eine vollständige Systematik die spezielle Farbe untersuchen in Kunst, Mythos, Literatur, Alter, Stadt und Landschaft, Kleidung, Erotik und Utopie, ja gar im Unsäglichen. Entsprechend der Planung eines Ausflugs lässt sich jedes der Kapitel in aller Freiheit auch nur für sich lesen, um dabei den eigenen Farbsinn zu überdenken. Und für allzu schnelle Spaziergänger lässt sich vom einführenden Essay »Grau« der Leseweg zum abschließenden »Grau« im Sinne eines Nachworts abkürzen. Vielleicht spricht das Grau dann bisweilen auch zu den Lesenden von einer neuen, farblich unerwarteten Luftballonpoesie einer zweiten Kinderzeit.
img_03.jpgimg_03_1.jpgimg_03_2.jpgEs war nicht sonderlich gut um uns und die Welt bestellt in diesem Frühling. Eine Pandemie hatte uns festgesetzt, von allzu vielem lange isoliert. Jeder von uns war im »Exil bei sich zu Hause«, wie es in »Die Pest« von Albert Camus heißt. Wir sahen Graues, erlebten oder vernahmen viel Grauenerregendes. Die Atmosphäre um uns war verdüstert, mochte die Frühlingssonne draußen auch noch so grell scheinen. Und diese Zeit des Eingesperrtseins mag bei vielen eine eigentümliche, im Sportzeitalter geradezu altmodisch anmutende Sehnsucht geweckt haben: sich wenigstens als Spaziergänger der unsichtbaren viralen Bedrohung für eine gewisse Zeit zu entziehen und dabei dem gestauten Bewegungsdrang unangestrengt nachgeben zu dürfen; allem Beengenden entfliehen, um den eigenen Natureindrücken und Gedanken besser nachhängen zu können. Es spielte nicht einmal eine große Rolle, ob ein einsamer Bummel an die frische Luft oder ein Gang vom Schreibtisch zum Fenster. Es konnte durchaus ein Lustwandeln sein, das zerstreute, erheiterte und stärkte zugleich. Und wer zuvor noch hinter Büchern gelegen hatte, dem konnte beim Gehen die Lektüre noch einmal äußerst lehrreich aufscheinen. Ein Spaziergang lässt die Mühseligkeit des Alltags vergessen, und ebenso unerwartet fallen einem betörende Erinnerungen und neue Gedanken zu. Kein Mensch kann wohl einen Spaziergang machen, wie der Schriftsteller Jean Paul schreibt, »ohne davon eine Wirkung auf seine Ewigkeit nach Hause zu bringen«.
All das haben Literatur, Philosophie und Wissenschaft schon seit jeher erprobt, wenn sie ihre sprunghaften Intuitionen, das Ausmalen von Ideen oder das Hin und Her der Denkarbeit kultivierten. Ja, man könnte meinen, un sere Gedanken selber spazierten munter herum, bis sie schließlich ihren Weg wieder zu uns nach Hause finden, quasi als »Suppe zum Abendbrot«, wie Sokrates einmal gesagt haben soll. Das ergibt mitunter ganz merkwürdig essayistische Spaziergänge in der Belletristik. Das können elegante Promenaden sein, auf denen sich ziellos und mit Umwegen auf schöne Aussichten hin »spazifizottlen« lässt (Robert Walser). Je nach Charakter oder Beruf sieht jeder für sich dabei eine andere Welt und bisweilen sogar, laut dem österreichischen Romancier Robert Musil, ganz »unsichtbare Dinge«. Ins Unsichtbare hineinspazieren? In etwas, das es gar nicht gibt? Etwa ins Grau?
Wenn ich junge Studierende oder alte Bekannte frage, was sie mit Grau assoziieren, so ist eine ihrer häufigsten Antworten: ein Garnichts. Es fällt ihnen dazu einfach nicht mehr ein. Ja, vielfach sind sie nicht einmal ganz sicher, ob es sich überhaupt um eine Farbe handelt. Das Graue liegt eben ganz im Unbestimmten, im geradezu Flüchtigen. Wie eine quasi stets sich selber aufzehrende Bewegung tendiert alles an ihm ins Farblose, Mehrdeutige und Unansehnliche, sodass es den allermeisten als Nicht-Farbe schlechthin erscheint. Das Fahle genießt entsprechend keinen allzu guten Ruf. Nimmersatt und freudlos verschlingt es alles in sein Grau-in-Grau und gibt ihm eine unsaubere Erstarrung. Derart gesättigt spricht sein seelenloser Ausdruck von einer ungeheuren Gleichgültigkeit, jenseits jeglicher Persönlichkeit. Es ist ein jämmerlich undefinierbares Mittelding, das sein mehrdeutiges Gepräge im Vorratsraum der Bilder und Zeichen einer es umgebenden, grellbunten Welt zu finden meint. »Grau ist klanglos und unbeweglich«, schreibt 1911 der Maler und Farbthe oretiker Wassily Kandinsky und bedauert demgemäß das »Trostlose« und »Erstickende« dieser Farbnegation.
Wenn es aber ein richtiger, eigenständiger Farbton sein soll, dann höchstens einer von zweiter Ordnung. In seiner matten, trüben und rauen Art vermag das Grau allerdings den Farben erster Ordnung zu ihrem Glanz zu verhelfen. Zumal dann, wenn diese in ihrer Reinheit, laut dem romantischen Maler und Farbsystematiker des frühen 19. Jahrhunderts, Philipp Otto Runge, für uns gar nicht wirklich wahrnehmbar seien. Diese bedürften vielmehr einer »Verunreinigung« oder »Verschmutzung« durch Grau, um überhaupt Teil der für den Menschen sichtbaren Welt zu werden. Insofern nivelliert es zunächst alles auf eine allgemeine Gesichts- und Namenlosigkeit. Nur bleibt mit dieser Ungenauigkeit dennoch eine tiefe Sehnsucht nach einer gewichtigen Ur- und Grundfarbe verbunden, welche als Tönung wie die Grundelemente der Erde wirken sollte. Alle natürlich vorhandenen Basisfarben finden sich bekanntlich im Boden durchmischt, mal das Licht glänzend reflektierend und es mal in ihrem abgründigen Dunkel absorbierend, regelrecht verschluckend.
Das klingt nach einer geradezu alttestamentlichen Idealvorstellung: Am Anfang lag alles im irdischen Grau. Und als Staub der Ackerscholle wurde das erste erkenntnisfähige Menschenpaar noch aus dem lichtbunten Paradies wieder auf die verflucht grausame Erde in die Monotonie zäher Arbeit zurückverwiesen. Oder etwas wissenschaftlicher, biologistischer ausgedrückt: Die heutigen Anthropologen gehen von rund zweihundert wahrnehmbaren Abstufungen auf der Grauskala aus, welche der Mensch in seiner Wahrnehmung unterscheiden kann. Das kommt einer Leistung sehr guter digitaler Grafiksysteme von heute nahe. In einem aus vielen Bestandteilen zusammengesetzten, komplexen Bild kann man gar noch wesentlich mehr Farbklänge unterscheiden. Denn die beiden lichtempfindlichen Zelltypen in der Netzhaut, die sogenannten Stäbchen und Zapfen – Letztere als Rezeptoren mit jeweils unterschiedlichem Farbempfinden –, sind sowohl im hellen Tageslicht wie in der Dämmerung bei ausgeglichener Reizung fähig, Grautöne innerhalb des sichtbaren Teils aller elektromagnetischen Lichtschwingungen zu differenzieren, selbst noch bei Farbfehlsichtigkeit. Bei den Primaten liegt die Grauwahrnehmung übrigens gemäß Tests deutlich unter all dem, was der Homo sapiens zu unterscheiden weiß.
Allein die Kultur- und Sprachwissenschaften lassen große Zweifel an dieser allzu simpel klingenden These eines ganz und gar grauen Anfangs der Menschheit aufkommen. Die beiden Amerikaner, der Anthropologe Brent Berlin und der Linguist Paul Key, haben in den 1960er-Jahren »elementare Farbbezeichnungen« in neunundachtzig Sprachen untersucht und dabei eine Entwicklung des menschlichen Farbvokabulars von sieben Stadien festgestellt. Und ausgerechnet Grau scheint bei ihnen erst ganz am Schluss der sprachlichen Entwicklung auf, im letzten evolutionistischen Stadium, also im siebten. Dann werden Farben in verschiedenen Sprachgemeinschaften begrifflich ganz unterschiedlich differenziert. So besitzt das Deutsche für Weiß nur ein einziges Adjektiv, während etwa die Inuit auf Grönland und in Kanada sprachlich mehrere unterschiedliche Ausformungen seiner Bedeutung kennen. Die litauische Sprache, die in vielem noch dem Indogermanischen sehr nahe steht, besitzt vier Worte für Grau, um damit die Färbung von Schafwolle, Gänsefedern, die Haut von Pferden und Rindvieh sowie die menschliche Haarfarbe voneinander abzugrenzen. Speziell die europäische Pferdezucht weiß verschiedene Grautypen zu unterscheiden, vom Grauschimmel über die Falbe bis zum alten Graumann. In zahlreichen Sprachen der Antike, im Sanskrit oder im Griechischen, kann allerdings das Wort Grau auch noch für andere Farben stehen, wie etwa für das Blau, das wiederum häufig nur für ganz bestimmte Gegenstände verwendbar war.
Entsprechend verblüfft es nicht, dass bis ins 14. Jahrhundert immer wieder ungenaue Bezeichnungen für Grau in den mitteleuropäischen Sprachen auftauchen. Grauheit ist dann einfach alles, was nicht farbig ist, aber auch nicht schwarz und weiß. Denn manchmal ist die unbunte Farbe eine Spielart von Schwarz, wie in der Antike der Philosoph Aristoteles annimmt, wenn nicht gar eine reine Eindunklung von Weiß. Auf jeden Fall steht es zwischen den extremen Polen von Schwarz und Weiß und kann zusätzlich je nach Mischung eine Tönung von jeder der beiden Farben annehmen, wie die antiken Philosophen Platon und Theophrast ausführen. So wird es erst der italienische Humanist und Kunsttheoretiker Leon Battista Alberti sein, der Grau um 1435 zu einer eigenständigen Grundfarbe erklärt, die ihre graduelle Veränderbarkeit mittels Hinzufügung schwarzer oder weißer Pigmente