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Boys don't cry: Identität, Gefühl und Männlichkeit
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eBook285 Seiten4 Stunden

Boys don't cry: Identität, Gefühl und Männlichkeit

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Über dieses E-Book

Männer weinen nicht. Sollten sie aber, denn sie haben allen Grund dazu: Starre Männlichkeitsbilder beherrschen noch immer die Identifikationsangebote – sei es in Erziehung, Beruf, Werbung oder Mainstream-Medien. Stark, unbesiegbar, wild und immer auf der Gewinnerspur sollen Männer sein, ob sie wollen oder nicht.
Jack Urwin hat genug davon. Es reicht ihm nicht, dass der starke Mann heute auch mal weinen oder Elternzeit nehmen darf, sondern er fragt, warum Männer überhaupt stark sein müssen. Warum messen wir Menschen noch immer an Stereotypen, wo es uns ohne doch viel besser ginge? Dieses Buch ist der Beginn einer längst überfälligen Debatte darüber, wie eine positive, moderne Männlichkeit aussehen kann und wie wir dahin gelangen können, sie zu leben.
Unter anderem ausgelöst vom frühen Tod seines Vaters hat Jack Urwin 2014 den weltweit viel beachteten Essay »A Stiff Upper Lip Is Killing British Men« im VICE Magazine veröffentlicht, dessen emen er hier fortführt. Von der Mob-Mentalität, wie sie bei Fußballspielen und in Fight Club zur Schau gestellt wird, bis zu unseren Großvätern, die aus dem Zweiten Weltkrieg zurückkehrten, ohne je gelernt zu haben, über ihre Gefühle zu sprechen, untersucht Urwin, wie der Mythos der Maskulinität entstanden ist und warum er toxisch, ja tödlich ist. Warum tun wir uns trotzdem so schwer damit, diese fragwürdigen Ideale hinter uns zu lassen? Teils Essay, teils persönliches Manifest, ist Boys don't cry eine witzige und scharfe Auseinandersetzung mit toxischer Maskulinität und ihren Folgen – und ein Plädoyer für einen anderen Umgang miteinander.
SpracheDeutsch
HerausgeberEdition Nautilus
Erscheinungsdatum24. Feb. 2017
ISBN9783960540434
Boys don't cry: Identität, Gefühl und Männlichkeit

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    Buchvorschau

    Boys don't cry - Jack Urwin

    Wann ist ein Mann ein Mann?

    Bevor ich mich auf die Mammutaufgabe stürze zu analysieren, was meiner Meinung nach die wichtigsten Themen um Männlichkeit heute sind, und dann in der Hoffnung, die Menschheit für den Rest unserer Zeit auf Erden zu verbessern, versuche, Lösungen für alle unsere Fehler, Leiden und destruktiven Verhaltensweisen zu finden, sollte ich mir einen Augenblick Zeit nehmen, um festzuhalten, was genau eigentlich ein Mann ist. (Wahrscheinlich muss ich auch noch über ein paar andere Sachen nachdenken, bevor ich mich auf diese Mission begebe, zum Beispiel: »Warum zum Teufel schreibe ich ein Buch, das war eine bescheuerte Idee, ich will hier raus, o Gott, o Gott, das ist eine Katastrophe«, aber ich bin mir sicher, dass sich das durch eine Nacht auf Yahoo Clever klären lässt.)

    Theoretisch müsste das der unkomplizierteste Teil des ganzen Buches sein. Schließlich wissen wir alle, was ein Mann ist, richtig? Toll, nächstes Kapitel: Ich hab das voll drauf mit dem Schreiben. Vor langer Zeit mag das tatsächlich einmal der Fall gewesen sein, doch im Jahr 2016 geht unser Verständnis von Gender sehr weit über die binärgeschlechtliche Definition hinaus, derer wir uns in der Geschichte bedient haben. Womöglich habt ihr schon einmal eine*n ältere*n Verwandte*n sagen hören: »Früher war alles viel einfacher, da waren Männer Männer und Frauen Frauen«, nachdem sie*er in der Zeitung etwas über trans Menschen gelesen hat. Womöglich habt ihr das sogar selbst schon einmal gedacht. Vieles daran ist für viele von uns neu, und es ist okay zuzugeben, dass ihr ein bisschen ins Schwimmen geratet – solange ihr nicht ausfallend werdet. Wir sind alle hier, um zu lernen (hoffe ich doch), und auch wenn einige von euch womöglich schon mit den hier diskutierten Begriffen vertraut sind, möchte ich euch doch bitten, trotzdem an diesem Kapitel dranzubleiben, denn es könnte euch einen ersten Einblick darin verschaffen, wie ich mich bestimmten Konzepten nähere, und Fragen, die euch möglicherweise im weiteren Verlauf kommen, vorab klären. Und weil ich ein Scheißkerl bin, finde ich es auch geil, die Macht zu haben, euch zu zwingen, jedes einzelne meiner vollkommen überflüssigen Worte zu lesen.

    Wenn ich jetzt damit anfange, dass wir uns drei Kategorien genauer ansehen müssen, die alle eng miteinander verflochten sind und zugleich doch vollkommen getrennt, gewinne ich damit bestimmt keinen Preis für Klarheit. Aber habt Nachsicht mit mir, denn ich versuche, Ordnung in Geschlecht, Sexualität und Gender zu bringen – was sie verbindet, was sie trennt und warum das alles überhaupt von Belang ist.

    Geschlecht

    Das ist wahrscheinlich am leichtesten zu erklären. Geschlecht ist biologisch, es ist das, was wir Kindern bei ihrer Geburt aufgrund ihrer Genitalien zuweisen, und in den meisten Fällen ist es eine von zwei Möglichkeiten. Wenn zwischen den Beinchen ein Penis liegt, dann hast du einen Jungen gekriegt, wenn da unten eine Vagina ist, dann … ich weiß nicht, ich hab schnell das Interesse an diesem kleinen Reim verloren, aber dann wird das Neugeborene auf der Geburtsurkunde als Mädchen bezeichnet. Solange die Eltern nicht megaprogressiv sind, stehen die Chancen gut, dass das auf der Geburtsurkunde festgehaltene Geschlecht sich in der Erziehung widerspiegelt und das Kind allein aufgrund seiner winzigen kindlichen Geschlechtsorgane ermutigt wird, einem ausdrücklich genderspezifischen Weg zu folgen. Ab und zu kommt ein Kind mit Fortpflanzungsorganen zur Welt, die nicht in die traditionelle Definition von männlicher oder weiblicher Sexualanatomie passen und Elemente von beiden aufweisen, das wird dann als intersexuell bezeichnet. Das kann schon bei der Geburt sichtbar sein oder erst im späteren Leben zutage treten, und manchmal werden an intersexuellen Menschen (auch Kleinkindern und Kindern) chirurgische Eingriffe oder Hormonersatztherapien durchgeführt, damit sie äußerlich der binärgeschlechtlichen Genderdefinition entsprechen.

    Sexualität

    Die Sexualität eines Menschen bestimmt sich dadurch, zu wem, wenn überhaupt, sie*er sich sexuell hingezogen fühlt (speziell in dieser Situation, welchem Gender oder welchen Gendern). In traditioneller Sichtweise fühlen sich heterosexuelle oder straighte Menschen ausschließlich vom anderen Geschlecht angezogen, homosexuelle oder schwule bzw. lesbische Menschen fühlen sich ausschließlich vom eigenen Geschlecht angezogen, und bisexuelle Menschen fühlen sich zu Männern und Frauen hingezogen. Treten wir einen Schritt aus dieser Binärgeschlechtlichkeit heraus, gibt es noch mehr Etiketten, wie etwa pansexuell, was ein Hingezogenfühlen zu allen Gendern bezeichnet – auch zu Menschen, die sich weder als männlich noch als weiblich definieren –, während manche Menschen mehrdeutigere Begriffe wie zum Beispiel queer vorziehen, was schlicht auch als Sammelbegriff für alle benutzt werden kann, die nicht heterosexuell sind.

    Gender

    In den meisten Kapiteln dieses Buches ist Gender die wichtigste Kategorie. Bei Gender geht es um persönliche Identität, Gender wird nicht durch körperliche Merkmale definiert, sondern durch das Denken und Fühlen des Individuums. Gender ist auch ein soziales Konstrukt, ein Thema, auf das ich in diesem Buch noch öfter zurückkomme. Cisgender⁷ sind Menschen, deren Gender mit dem ihnen bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht übereinstimmt, was bei der Mehrheit der Menschen so ist. Transgender ist jemand, dessen Gender nicht mit dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht übereinstimmt. Wer sich als Frau identifiziert, aber mit dem geboren wurde, was wir gemeinhin als männliche Geschlechtsorgane betrachten, ist eine trans Frau, oder, noch besser, einfach eine Frau. Manche trans Menschen unterziehen sich geschlechtsangleichenden Operationen, um ihren Körper so zu verändern, dass er ihrem Gender entspricht, aber das gilt nicht für alle. Doch das ist noch nicht alles, denn manche Menschen betrachten sich weder als männlich noch als weiblich. Die binärgeschlechtliche Norm ablehnende oder genderqueere Menschen identifizieren sich mit einzelnen Aspekten traditioneller Vorstellungen von Männern und Frauen oder auch nicht und ziehen es oft vor, mit genderneutralen Pronomen bezeichnet zu werden.

    Könnt ihr mir noch folgen?

    Na? Ich hoffe es, denn in diesem Buch geht es offensichtlich ziemlich viel um Männer. Vor allem aber geht es um Männlichkeit, und zwar um Männlichkeit in ihrer toxischsten Form. Für mich ist jeder ein Mann, der sich selbst als Mann betrachtet, und da Männlichkeit ein soziales Konstrukt ist und in erster Linie in der Identität verwurzelt ist und nicht in der Biologie, legen alle Männer männliches Verhalten an den Tag. Dies vorausgeschickt, werde ich für dieses Buch einzelne Typen von Männern sehr viel genauer unter die Lupe nehmen als andere. Themen, die schwule und trans Männer betreffen, werde ich zwar streifen, doch als heterosexueller cis Mann kann ich nicht guten Gewissens für diese Gruppen sprechen, denn ich habe die Erfahrungen, die sie machen, nie gemacht. Darüber hinaus sind viele der Verhaltensweisen, die ich genauer unter die Lupe nehme, ziemlich spezifisch für cis Typen (oder innerhalb dieser Gruppe doch zumindest recht weit verbreitet) – zum Beispiel werde ich mir ansehen, wie spezielle Arten von großkotziger Hypermaskulinität aus der Angst heraus entstehen, andere könnten uns für homosexuell halten, womit offen schwul lebende Männer natürlich eher keine Probleme haben.

    An bestimmten Punkten werde ich mich auf das konzentrieren, was in euren Augen vermutlich cis- oder heteronormativ ist, an anderer Stelle wird der Fokus weiter gefasst sein. Damit der Text nicht zu holprig wird, werde ich nicht immer ausdrücklich sagen, dass ich mich hauptsächlich auf cis Männer beziehe, das sollte in der Regel aus dem Kontext hervorgehen. Ein Großteil des Buches wird Gender in einem traditionellen binärgeschlechtlichen Licht beleuchten und Vergleiche zwischen Männern und Frauen anstellen. Das geschieht nicht in der Absicht, nicht-binärgeschlechtliche Genders zu übergehen oder zu ignorieren, aber ich halte es doch für notwendig, um spezielle Themen klarer herauszuarbeiten, denn Männlichkeit an sich ist ein Ergebnis des binärgeschlechtlichen Konzepts von Gender (so sehr, dass sie sich regelmäßig als der polare Gegensatz von Weiblichkeit manifestiert).

    Zweifellos werden auch solche Menschen dieses Buch lesen, die das Gefühl haben, diese Klarstellungen wären ein peinliches Zeichen übertriebener politischer Korrektheit, und die finden, man sollte sich gar nicht erst mit solchen Themen befassen. Sie haben jedes Recht auf diese Meinung. Aber ich kann sie nicht hören, denn so funktionieren Bücher nun mal nicht. Ich mache also einfach weiter mit dem, was sie nervt, und das fühlt sich toll an. Im Ernst: Das hier ist mir wichtig, und wenn ihr so offen seid, euch einzugestehen, dass man sich mit Problemen wie dem Selbstmord von Männern befassen muss, dann versteht ihr auch irgendwann, warum ich mir mit diesem Kapitel überhaupt so viel Mühe gemacht habe.

    Wenn ihr es bis hierher geschafft habt und ein Problem habt mit irgendetwas von dem, was ich geschrieben habe – vielleicht seid ihr ja nicht der Meinung, dass jeder, der sich als Mann betrachtet, auch einer ist –, stehen die Chancen nicht schlecht, dass ich es im Verlauf des Buches ausführlicher diskutiere und die Lektüre eure Meinung vielleicht sogar ändert. Im Grunde will ich sagen: Lest einfach weiter, blättert zur nächsten Seite um. Angst? Jetzt reißt euch aber mal zusammen, Männer! (Und erfahrt, warum es eine Scheißidee ist, Leuten zu sagen, sie sollten sich zusammenreißen und sich benehmen wie echte Männer.)

    Männerdämmerung

    Warum verhalten Männer sich so?

    »Männer, habe ich recht?!«, wäre der erste Satz meiner hypothetischen Comedy-Show à la Michael McIntyre, denn, na ja, Männer, habe ich recht?! Nein, jetzt aber mal im Ernst, was ist mit den Männern los? Auf diese Frage gibt es – wie ich herausfand, kurz nachdem ich mich bereiterklärt hatte, dieses Buch zu schreiben, und augenblicklich sämtliche Entscheidungen in meinem Leben bereute, die mich an diesen Punkt geführt hatten, und mich leise fragte, ob mein alter Chef am Gemüsestand auf dem Markt mich wieder bei sich arbeiten lassen würde – keine einfache Antwort.

    Die männliche Seele – die schließlich eine menschliche ist und so, und Menschen sind die einzigartig komplexesten, intelligentesten und technologisch fortschrittlichsten Geschöpfe, die je auf der Erde wandelten und so – ist Wissenschaftlern in vielerlei Hinsicht immer noch ein einziges großes Mysterium. Während die Medizin uns zu einem umfassenden Verständnis unseres Körpers und seiner Funktionsweise verholfen hat, ist das menschliche Gehirn in weiten Bereichen immer noch vollkommen unbekanntes Terrain. Selbst auf besser erforschten Gebieten, etwa bestimmten psychischen Erkrankungen, die wir bis zu einem gewissen Maß therapieren können, ist es nicht ungewöhnlich, dass Psychologen zwar wissen, dass eine bestimmte Behandlung funktioniert, aber absolut keine Ahnung haben, warum. Soweit ich es erkennen kann, erfordert die Entwicklung von Medikamenten für die Behandlung des Gehirns sehr viel wissenschaftliches Herumwühlen in den heimischen Kramschubladen, und dann werfen sie, was sie da finden, auf den Patienten, bis irgendetwas zu helfen scheint – Murmeln, Lötzinn, Isolierband, den Sports-Direct-Becher, den anscheinend jeder in Großbritannien besitzt, ohne die geringste Erinnerung daran, wie er in seinen Besitz gelangt ist – einfach alles, was ihnen in die Hände fällt, bis sie schließlich, wenn es wirkt, murmelnd kundtun, sie glauben, es stimuliere bestimmte Synapsen zur Bildung einer Chemikalie, die sie gerade erfunden haben. So oder so ähnlich.

    Wir haben also zwar einige Theorien über Tendenzen von Verhaltensweisen, aber bei weitem nichts Schlüssiges im Sinne von »Wer sich radioaktiven Strahlen aussetzt, bringt sich in Gefahr«. Doch wir können die Dinge ein wenig eingrenzen und sie in Kategorien unterteilen, damit es nicht ganz so kompliziert ist. Es gibt zwei Hauptgebiete, in denen wir den Einfluss auf unsere Genderrollen untersuchen können: Biologie und Soziologie.

    Gender als soziales Konstrukt wurde historisch sehr stark durch die Dominanz der Biologie geprägt. Das spiegelt es in vieler Hinsicht heute noch wider, auch wenn es dafür, abgesehen von dem schrägen menschlichen Wunsch, an Traditionen festzuhalten, selbst wenn sie unserer Gesellschaft objektiv mehr schaden als Fortschritt bringen, eigentlich keinen Grund mehr gibt. In diesem Kapitel untersuche ich beide getrennt voneinander, auch wenn es natürlich sehr viele Überschneidungen gibt. Während Biologie viel weiter zurückreicht, bis zum Beginn der menschlichen Existenz, wie wir sie kennen, habe ich das Gefühl, soziologisch ist viel mehr zu erreichen, wenn ich mich auf die moderne Geschichte konzentriere (hauptsächlich das letzte Jahrhundert und ein wenig darüber hinaus). Warum das so ist, wird im weiteren Verlauf klarwerden.

    Wie die Biologie unsere Genderrollen definiert

    Die evolutionäre Natur der menschlichen Spezies macht es schwierig, exakt den Punkt zu bestimmen, an dem der Mensch der wurde, den wir heute kennen: Wann wir angefangen haben, die Charakteristika zu zeigen, die uns von den Primaten, die uns vorausgingen, trennen. Anatomisch hat sich der moderne Mensch vor rund 200.000 Jahren entwickelt, aber man geht davon aus, dass wir erst 150.000 Jahre später das Verhalten an den Tag legten, das uns in die Moderne führte – die Wesenszüge, die uns vom vorangegangenen Homo sapiens unterschieden. Im Kontext moderner Männlichkeit ist das alles nicht von besonderer Bedeutung, doch um der Definition willen können wir mit ziemlicher Sicherheit sicher sagen, dass es 50.000 Jahre her ist, dass in der Dämmerung modernen Verhaltens aus den männlichen Primaten Männer wurden.

    Es mag seltsam erscheinen, dass ich es erwähne und dann 49.800 Jahre oder so nach vorn springe, doch diese Epoche ist bedeutsam, weil Gender durch die Natur bestimmt wurde und nicht durch die Gesellschaft. Bis vor 10.000 Jahren lebten die Menschen als Jäger und Sammler, und ihre Rollen wurden allein durch die biologischen Unterschiede zwischen Männern und Frauen definiert. Frauen kümmerten sich um die Kinder und suchten nach Nahrung, während die körperlich größeren und stärkeren Männer mit der Jagd betraut waren. Einige der evolutionären Merkmale, die daraus entstanden, sind heute noch vorhanden – etwa dass Frauen mehr Zapfen in der Netzhaut haben, wodurch sie, wie man annimmt, ein schärferes Sehvermögen erlangten, das ihnen beim Sammeln von Früchten und Wurzeln nützlich war. Deswegen glauben manche Menschen, bestimmte Verhaltensweisen wären den Genders als biologische Konditionen angeboren und nicht durch Sozialisation erworben: Aggression und Gewalt, zum Beispiel, gelten als männliche Eigenschaften, weil sie uns womöglich vor langer Zeit einmal bei der Jagd zugutekamen. Testosteron (das »männliche Hormon«) wird oft dafür verantwortlich gemacht, dass diese Art von Verhalten bei Männern vorherrscht, doch die Beweise, die das stützen sollen, sind alles andere als schlüssig. Während unsere körperlichen Eigenschaften (wie Körpergröße) mit großer Wahrscheinlichkeit evolutionär bedingt sind, gibt es wenig, was nahelegt, dass die meisten Verhaltensweisen nicht ein Ergebnis von Erziehung und Gesellschaft wären. Im großen Ganzen mag dies unwichtig erscheinen, doch diese sich allein auf die Biologie stützende Theorie kann ernsthaft nachteilige Folgen haben.

    Wenn Menschen männliche Aggression als unvermeidlichen Teil unserer Natur verteidigen, ist das für Männer schlicht eine Möglichkeit, sich der Verantwortung für ihr beschissenes Verhalten zu entziehen. Es erlaubt Männern, eine sehr gefährliche Haltung innerlich zu rechtfertigen, schließlich gilt sie als männlich. Und es wischt zehntausende Jahre menschlicher Evolution vom Tisch, in denen Imperien entstanden und wieder untergingen, sich komplizierte Sprachen entwickelten, unsere Lebensweise sich bis zur Unkenntlichkeit veränderte und die Technik bis zu einem Punkt voranschritt, an dem praktisch alle existierenden Informationen massenweise zur Verfügung stehen und man jederzeit mit einem Menschen auf der anderen Seite der Weltkugel kommunizieren kann. Unsere Gehirne sind gewachsen, wodurch wir unendliches kreatives Potenzial erlangten, und wir haben die Welt mit Kunst, Musik und Literatur gefüllt, Nahrung von einer Notwendigkeit in eine Form reinen Vergnügens verwandelt, zahllose Krankheiten geheilt oder uns dagegen geimpft, Passagierflüge wahrgemacht, sind auf dem Mond spazieren gegangen, haben einen Roboter zum Mars geschickt … und du hast einem Typ einen Kinnhaken verpasst, weil dein Gehirn ihn für einen kurzen Moment mit einem zotteligen Mammut verwechselt hat?

    Diese Argumente dienen in erster Linie fast ausschließlich dazu, Meinungen zu rechtfertigen, die ansonsten schlicht unvertretbar sind. Nehmt den ganz gewöhnlichen »Schwuler Sex ist unnatürlich«-Homophoben und überlegt, wie sein Tag verläuft: Vor Sonnenaufgang wird er vom Wecker aus dem Schlaf gerissen, er steigt in seine Polyester-Pantoffeln, steckt zwei Scheiben pappiges Brot in den Toaster, springt in sein Auto, um zur Arbeit zu fahren, sitzt acht Stunden an seinem Schreibtisch, fährt zurück nach Hause und schaltet den Fernseher ein, wo ihm ein Nachrichtenbeitrag über eine schwule Hochzeit ins Haus geliefert wird. »Das ist einfach nicht natürlich«, denkt er, geht ins Bett und stellt sich den Wecker für den nächsten Tag. Die Vorstellung, Homosexualität wäre unnatürlich, erwächst hauptsächlich aus dem Glauben, Sexualität existierte einzig als Mittel zur Reproduktion – und damit jeden heterosexuellen Akt, der keine Schwangerschaft zum Ziel hat, genauso zu verurteilen. Zugegeben, gewisse religiöse Einstellungen gegenüber Menschen, die Vergnügen aus Sexualität ziehen, vertreten diese Position und betrachten alles von Empfängnisverhütung bis hin zu Masturbation als Fluch gegen ihre Bemühungen, fruchtbar zu sein und sich zu mehren, doch solches gilt im Jahr 2016 allgemein eher als antiquierte Vorstellung. Ja, es ist mit allergrößter Wahrscheinlichkeit so, dass unser sexuelles Begehren in dem grundlegenden Instinkt wurzelt, das Überleben unserer Spezies zu sichern – was beinahe zu gut funktioniert hat –, aber unser Verhalten hat sich doch weit darüber hinaus weiterentwickelt. Wir haben – manchmal – Sex, um uns fortzupflanzen, aber viel öfter haben wir Sex, weil es einfach Spaß macht. Wie der Großteil unseres Verhaltens heute hat das nichts mit Natur zu tun, und darum ging es mir bei dem Beispiel mit dem homophoben Büroangestellten: Unser Lebensstil hat nichts, aber auch gar nichts mehr mit dem unserer Jäger-und-Sammler-Vorfahren zu tun, und es ist vollkommen absurd zu behaupten, etwas wäre entweder angeboren und damit Teil unserer unveränderlichen Natur oder eben nicht. 50.000 Jahre sind vergangen, seit wir Menschen das erste Mal die Charakteristika an den Tag legten, die uns als die einzigartig intelligenten Geschöpfe ausweisen, die wir heute sind, und es ist 10.000 Jahre her, seit wir aufhörten, als einfache Jäger und Sammler zu leben, und ihr wollt buchstäblich sämtliche zivilisatorischen Entwicklungen ignorieren und behaupten, wir sollten uns heute so verhalten wie damals?

    Die Rechtfertigung dafür speist sich zum Großteil daraus, dass unsere körperliche Erscheinung sich seit damals kaum verändert hat, womit angedeutet wird, diese Rollen wären relevant geblieben – sonst wären Männer im Allgemeinen längst nicht mehr größer und stärker als Frauen. Dem steht die Tatsache entgegen, dass die körperliche Evolution ein unglaublich langsamer Prozess ist. Das sieht man schon daran, dass wir immer noch mit einem Blinddarm geboren werden, einem Organ, das nur dazu da ist, sich ab und an zu entzünden und, wenn das unbehandelt bleibt, uns umzubringen. Wissenschaftler*innen können nicht einmal mit Gewissheit sagen, welche Funktion der Blinddarm einst hatte, womöglich diente er der Verdauung bestimmter Blätter, aber das ist bloß eine Theorie. Unser Körper entwickelt sich über viele Jahrtausende, doch unser Verhalten und unsere Ansichten unterliegen schon von einer Generation zur nächsten drastischen Veränderungen. Man muss sich nur unsere sozialen und politischen Ansichten ansehen: Es ist äußerst selten, dass eine Generation konservativer ist als die vorhergehende und infolgedessen auch als die davor. Wenn man sich die gesellschaftlichen und sozialen Veränderungen des letzten Jahrhunderts ansieht, wird einem schnell klar, dass all das nicht möglich gewesen wäre, wenn die nachfolgenden Generationen nicht progressiver gewesen wären. Das soll nicht heißen, dass nicht hier und da auch immer wieder Konservativismus aufgeblitzt wäre, unvermeidliche Nebenwirkung der Demokratie in einem historischen Zwei-Parteien-System, genau wie Angstmache und die Suche nach Sündenböcken in ökonomisch schwierigen Zeiten. Die Art, wie im Augenblick über Einwanderer gesprochen wird, und die in den Medien weit verbreitete Entmenschlichung von Geflüchteten, die aus Kriegsgebieten fliehen, ist von dem Antisemitismus, der in den 1930er und 1940er Jahren emporschoss, als europäische Jüd*innen vor den Nationalsozialisten flohen und in Großbritannien Asyl suchten, praktisch nicht zu unterscheiden. Im Großen und Ganzen aber bewegen wir uns vorwärts. Es geschah sogar unter einem konservativen Premierminister, dass 2013 die gleichgeschlechtliche Ehe legalisiert wurde fünfundzwanzig Jahre, nachdem seine Partei Section 28 des Local Government Act eingebracht hatte, die dafür gesorgt hatte, dass in Schulen nicht über Homosexualität gesprochen werden durfte. Doch die Legalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe war kaum ein Akt politischen Heldenmuts, sie spiegelte lediglich die Haltung der Mehrheit der Öffentlichkeit wider und zeigte, dass wir selbst unter der Regierung einer weniger traditionellen progressiven Partei nicht unbedingt Rückschritte

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