Die Heuchelei von der Reform: Wie die Politik Meinungen macht, desinformiert und falsche Hoffnungen weckt
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Über dieses E-Book
Sowohl mit dem bewusst falschen Benutzen des Begriffs durch aktuelle Politiker, um dem Volk Unangenehmes als zwangsläufig zu verkaufen, als auch mit der Herkunft des Begriffs und seinem Bedeutungswandel seit dem Mittelalter bis zur heutigen Zeit setzt sich der Autor kritisch und polemisch auseinander und zeigt, dass das Gefühl von vielen Menschen, schlecht oder falsch informiert zu sein, auch an der bewussten Umwertung von scheinbar klaren Begriffen liegt. Rainer Balcerowiak liefert eine unverzichtbare Argumentationsstütze für alle, die sich eine eigene Meinung bilden und von der Politik nicht in die Irre führen lassen wollen.
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Buchvorschau
Die Heuchelei von der Reform - Rainer Balcerowiak
www.buchredaktion.de
Vorwort
Es gibt wohl kaum einen Begriff, der seit dem Mittelalter bis zur heutigen Zeit eine derartige Bedeutung für gesellschaftliche Auseinandersetzungen und Prozesse entwickelt hat, wie die »Reform«. Und es gibt auch kaum einen Begriff, der so unterschiedlich ausgelegt werden kann. Das beginnt bereits bei der Ableitung aus dem lateinischen Verb »reformare« beziehungsweise dem zusammengesetzten Substantiv »Reformatio«, was sowohl Umgestaltung als auch Wiederherstellung bedeuten kann, wobei die Vorsilbe »Re« eher auf Letzteres hindeutet. So gesehen, kann man den historisch gewachsenen Gegenbegriff »Restauration« nicht unbedingt als Antagonismus zu »Reformen« verstehen.
Wie dem auch sei: Ohne »Mut zu Reformen« geht heute gar nichts mehr. Keine Partei und kein relevanter Interessenverband kommt ohne entsprechende Bekenntnisse und Forderungen aus, sei es punktuell oder auch umfassend. Wer sich dem verweigert, wird schnell als »reformunwillig« oder »-unfähig« abgestempelt, was in der Regel mit eigenen »Reformprogrammen« gekontert wird. Keine Regierung, sei es auf Landes- oder Bundesebene, verzichtet mehr darauf, »tiefgreifende Reformen« in ihrem Programm zu verankern.
Nun gab es auch in der jüngeren deutschen Geschichte durchaus Reformen, die als fortschrittlich im Sinne großer Teile der Bevölkerung zu bezeichnen sind, sei es die Rentenreform der Adenauer-Regierung, die das Prinzip der den Lebensstandard weitgehend sichernden Altersversorgung implementierte, oder seien es die Bildungsreformen der sozialliberalen Koalition unter Willy Brandt, die Arbeiterkindern den Zugang zu höherer Bildung bis hin zu akademischen Abschlüssen erleichterten. Doch es gehört zum Zwittercharakter von »reformorientierter Politik«, dass spätere Reformen diese Errungenschaften wieder zunichtegemacht haben. Und spätestens seit den »Hartz-Reformen« für den Arbeitsmarkt hat sich die Erkenntnis, dass Reformen keineswegs immer gesellschaftlichen Fortschritt implizieren, recht rapide verbreitet.
Eine nüchterne Betrachtung ist angebracht. Reformen haben in der Regel zum Ziel, bestehende rechtliche und gesellschaftliche Normen zu verändern. Das kann sowohl Eigentumsverhältnisse und Vermögensverteilung betreffen, wie zum Beispiel bei Steuerreformen, als auch Grundrechte, wie zum Beispiel Gleichberechtigung der Geschlechter, diskriminierungsfreie sexuelle Orientierung oder den Schwangerschaftsabbruch. Manche Reformen greifen in die Machtbalance zwischen gesellschaftlichen Gruppen beziehungsweise Interessenverbänden ein, wie zum Beispiel beim Mietrecht und der Bürgerbeteiligung. Andere beziehen sich auf staatliche und behördliche Befugnisse, zum Beispiel beim Demonstrationsrecht und bei Sicherheitsgesetzen. Reformen können rein kosmetischer Natur sein, aber auch tief in die politischen und ökonomischen Machtverhältnisse eingreifen, wie zum Beispiel Landreformen. In der bürgerlichen Demokratie bedürfen sie meistens der Gesetzesform und somit einer parlamentarischen Mehrheit und können im Hinblick auf ihre Vereinbarkeit mit der Verfassung des jeweiligen Staates dem entsprechenden unabhängigen Gericht zur Prüfung vorgelegt werden. Allerdings gibt es auch in formaldemokratischen Staaten zunehmend Bestrebungen, eben jene Kontrollmechanismen, also Parlamente und Gerichte, durch entsprechende Reformen auszuschalten, wie aktuell in Ungarn und Polen. In autokratisch regierten Ländern oder Präsidialdemokratien können Reformen ohnehin per Dekret eingeführt werden.
Reformen dienen zum einen der Durchsetzung von Klassen- und Gruppeninteressen, aber auch als Befriedungsstrategie zur Entschärfung gesellschaftlicher Konflikte. Je nach Blickwinkel kann ein und dieselbe Reform als fortschrittlich oder reaktionär eingestuft werden, wie sich unter anderem an den Hartz-Gesetzen gezeigt hat. In allen Fällen dienen Reformen letztlich der Stabilisierung bestehender Herrschaftsverhältnisse, auch wenn sie bedeutende Zugeständnisse an oppositionelle Bewegungen enthalten.
Karl Marx und Friedrich Engels, die bekanntlich viele kluge Dinge von sich gegeben haben, widmeten sich dem Wesen von Reformpolitik im Kapitalismus unter anderem im 1848 veröffentlichten Kommunistischen Manifest. Dort heißt es:
»Ein Teil der Bourgeoisie wünscht den sozialen Missständen abzuhelfen, um den Bestand der bürgerlichen Gesellschaft zu sichern. Es gehören hierher: Ökonomisten, Philanthropen, Humanitäre, Verbesserer der Lage der arbeitenden Klassen, Wohltätigkeitsorganisierer, Abschaffer der Tierquälerei, Mäßigkeitsvereinsstifter, Winkelreformer der buntscheckigsten Art. Und auch zu ganzen Systemen ist dieser Bourgeoissozialismus ausgearbeitet worden. (…)
Eine zweite, weniger systematische, nur mehr praktische Form dieses Sozialismus sucht der Arbeiterklasse jede revolutionäre Bewegung zu verleiden, durch den Nachweis, wie nicht diese oder jene politische Veränderung, sondern nur eine Veränderung der materiellen Lebensverhältnisse, der ökonomischen Verhältnisse ihr von Nutzen sein könne. Unter Veränderung der materiellen Lebensverhältnisse versteht dieser Sozialismus aber keineswegs Abschaffung der bürgerlichen Produktionsverhältnisse, die nur auf revolutionärem Wege möglich ist, sondern administrative Verbesserungen, die auf dem Boden dieser Produktionsverhältnisse vor sich gehen, also an dem Verhältnis von Kapital und Lohnarbeit nichts ändern, sondern im besten Fall der Bourgeoisie die Kosten ihrer Herrschaft vermindern und ihren Staatshaushalt vereinfachen.«
Das klingt nicht nur ziemlich aktuell – sondern ist es auch. Gerade jetzt, im beginnenden Wahlkampf für den nächsten Bundestag, werden wir wieder mit Reformvorschlägen jeglicher Couleur förmlich zugeschüttet. Bei aller Unterschiedlichkeit ist ihnen gemein, dass sie die realen Macht- und Besitzverhältnisse in unserer Gesellschaft nicht wirklich in Frage stellen. Das heißt nicht, dass der Kampf für gute Reformen per se sinnlos ist. Aber man sollte sich angesichts der Erfahrungen der vergangenen Jahre, Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte ein tiefes Misstrauen gegen Reformversprechen aller Art bewahren. Dieses Misstrauen zu schüren, ohne eine auf Reformen abzielende Politik pauschal zu verunglimpfen, ist eines der wichtigsten Anliegen dieses Buches.
Agenda 2010:
Die Mutter aller »modernen« Reformen
Es war ein Paukenschlag. Am 14. März 2003 gab es im Deutschen Bundestag eine jener Reden zu hören, denen ohne Übertreibung historische Bedeutung beigemessen werden kann. Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) kündigte in einer Regierungserklärung nicht weniger als »die bisher umfassendste Reform der deutschen Sozial- und Wirtschaftsordnung« an. Das »Agenda 2010« genannte Programm beinhaltete vor allem tiefgreifende, teilweise systemische Änderungen des Arbeitsrechts und der sozialen Sicherungssysteme. Als Kernstück definierte Schröder den »aktivierenden Sozialstaat«, der mehr »Eigenverantwortung vom Einzelnen« einfordert; Stichwort: »Fördern und Fordern«. Und der Kanzler machte keinen Hehl daraus, dass er dieses Reformprogramm gegen alle Widerstände in der Gesellschaft und auch in seiner eigenen Partei durchzusetzen gedenke.
Kernstück der Agenda waren Reformen des Arbeitsmarkts und der Arbeitslosenversicherung, die auf Vorschlägen einer Expertenkommission unter Leitung des ehemaligen VW-Vorstands Peter Hartz basierten und später als »Hartz-Gesetze« in die Geschichte eingingen. Die Arbeitslosenhilfe als Versicherungsleistung für längerfristig Erwerbslose wurde abgeschafft und durch eine umgangssprachlich »Hartz IV« genannte Grundsicherung ersetzt, deren Niveau dem der Sozialhilfe angeglichen und deren Bezug an die Unterwerfung unter ein bislang unvorstellbares Kontroll- und Repressionssystem gekoppelt wurde. Parallel zu diesem Verarmungsprogramm für Millionen Menschen und derzeit jedes siebente Kind in Deutschland sorgten die ebenfalls auf Peter Hartz zurückgehenden Arbeitsmarktreformen für die Schaffung eines institutionalisierten Niedriglohnsektors und das exponentielle Wachstum alter und neuer Formen prekärer Beschäftigung wie Leiharbeit, Werkverträge und Scheinselbständigkeit. Der nunmehr gesetzlich verankerte Zwang für alle Erwerbslosen, jeglicher angebotenen Beschäftigung unabhängig von der Entlohnung und den Arbeitsbedingungen nachzugehen, erhöhte – verbunden mit der Lockerung des Kündigungsschutzes – natürlich den Druck auf das Lohnniveau regulär Beschäftigter. In der Dekade nach Einführung der Hartz-Gesetze gab es faktisch keine realen (inflationsbereinigten) Lohnerhöhungen, in vielen Branchen sanken die Reallöhne sogar. Die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes und dem dann unmittelbar drohenden Absturz in dauerhafte Armut entwickelte sich zum erfolgreichen Disziplinierungsinstrument. Weitere flankierende Reformen, besonders bei der Unternehmensbesteuerung und bei den Sozialversicherungssystemen, sorgten dafür, dass die von Gerhard Schröder und Joschka Fischer seit 1998 geführte »rot-grüne Reformregierung« ihr ausdrückliches Ziel, die Entlastung der deutschen Wirtschaft zwecks Erhöhung ihrer Wettbewerbsfähigkeit, auch erreichte. Es war und ist eben diese »Wettbewerbsfähigkeit«, die zu jenen ökonomischen Verwerfungen innerhalb der EU und besonders der Eurozone geführt hat, die schließlich im drohenden ökonomischen Kollaps ganzer Volkswirtschaften kulminierten, und eine Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums von unten nach oben in einer bislang in der Bundesrepublik nicht für möglich gehaltenen Dimension einleitete.
Die Tragweite und die Konsequenzen der Hartz-Reformen waren zum Zeitpunkt ihrer Verkündung für viele Menschen noch nicht abzusehen. Dennoch lösten die Hartz-Gesetze eine große Protestbewegung aus. Auch in der SPD regte sich Widerstand. Zwar wurde das Quorum für einen Mitgliederentscheid über die Reformen nicht erreicht, dennoch sah sich die sozialdemokratische Führung genötigt, einen Sonderparteitag am 1. Juni 2003 nach Berlin einzuberufen. Dort sprach sich die Mehrheit der Redner mehr oder weniger eindeutig gegen die Hartz-Gesetze aus, doch nachdem Schröder für den Fall eines negativen Votums mit seinem Rücktritt als Parteivorsitzender und Bundeskanzler gedroht hatte, bekamen er und die Parteiführung schließlich die Unterstützung von rund zwei Dritteln der Delegierten. Auch bei Bündnis 90/Die Grünen gab es auf deren Sonderparteitag am 14./15. Juni 2003 ein deutliches Votum für die Regierungslinie. Auf beiden Parteitagen wurden einige Abschwächungen des Reformprogramms beschlossen, die aber im späteren Gesetzgebungsverfahren keine Rolle mehr spielten.
Für Schröder war dies ein Pyrrhussieg, für seine Partei entwickelten sich die Hartz-Reformen zu einem Desaster. Es kam zu Massenaustritten, und die folgenden Landtagswahlen brachten dramatische Stimmenverluste. Auch die Gewerkschaften, der traditionelle Bündnispartner der Sozialdemokraten, gingen deutlich auf Distanz zu »ihrem« Bundeskanzler und beteiligten sich teilweise an großen Protestdemonstrationen – ohne allerdings auch nur im Entferntesten in Erwägung zu ziehen, ihre Mobilisierungsfähigkeit dahingehend auszureizen, die Hartz-Reformen tatsächlich verhindern zu wollen. Zwar wurde zu einem »heißen Herbst« gegen die Agenda 2010 aufgerufen, deren Höhepunkt eine Großdemonstration am 1. November 2003 in Berlin mit über hunderttausend Teilnehmern war. Doch mehrere Gewerkschaftsvorsitzende – Hubertus Schmoldt (IG Bergbau, Chemie, Energie), Norbert Hansen (Transnet) und Franz-Josef Möllenberg (Nahrung-Genuss-Gaststätten) – hatten bereits angekündigt, die Agenda 2010 »konstruktiv begleiten« und »durch Änderungsvorschläge und Kompromisslinien« auf die Regierung zugehen zu wollen. Die beiden größten Einzelgewerkschaften, ver.di und IG Metall, vertraten zwar eine deutlich konfrontativere Linie, scheuten aber die Zuspitzung, die beispielsweise »illegale« politische Streiks gegen die Hartz-Gesetze bedeutet hätten.
Breite Protestbewegung
Unabhängig von diesen großen, quasi institutionalisierten Protesten gegen die Arbeitsmarkt- und Sozialreformen entstand sozusagen aus dem Nichts eine große Basisbewegung. Ausgehend von Magdeburg verbreiteten sich die »Montagsdemos« gegen Hartz IV ab dem Sommer 2004 binnen kurzer Zeit zunächst in Ostdeutschland und dann flächendeckend im ganzen Land. Zusammen mit der Enttäuschung vieler Sozialdemokraten über den »Verrat« ihrer Partei und dem Unmut vieler Gewerkschafter entstand daraus schließlich eine neue politische Bewegung, die zu einer nachhaltigen Veränderung des Parteienspektrums in Deutschland führte. Zunächst als Verein und im Januar 2005 schließlich als Partei wurde die »Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit« (WASG) gegründet, die im Juni 2007 mit der bislang fast ausschließlich in Ostdeutschland präsenten PDS zu der neuen, bundesweiten Partei DIE LINKE fusionierte.
Zwar konnte sich damit erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik eine auch von sozialen Protestbewegungen getragene Partei dauerhaft als relevante politische Kraft links von der SPD bundesweit etablieren, doch weder konnten die neoliberalen Reformen der 2005 abgewählten »rot-grünen« Bundesregierung gekippt werden, noch haben sich die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse in emanzipatorischem Sinne positiv entwickelt. Im Gegenteil: Die Agenda 2010 erwies sich als Ausgangspunkt für eine nicht enden wollende Kette weiterer Reformen, die einige gemeinsame Merkmale haben: Deregulierung und (Teil-)Privatisierung der öffentlichen Daseinsvorsorge, Ausgrenzung und Marginalisierung »unproduktiver« Teile der Gesellschaft. Die Agenda-Reformen markieren eine bereits nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Lagers und der Auflösung der DDR eingeleitete Zeitenwende: weg vom auf weitgehende Klassenharmonie bedachten »Rheinischen Kapitalismus« hin zu einer marktradikalen Neuformierung der Gesellschaft.
Entsprechend fallen die Bilanzen aus. Nicht nur die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) und andere Lobbyverbände des Kapitals, sondern auch die SPD-Führung ziehen ein nahezu uneingeschränkt positives Fazit. Der damalige BDA-Präsident Dieter Hundt schrieb am 14. März 2014 in der Welt: »Grundlegende Reformen waren unausweichlich. Sie verlangten Mut und Konsequenz. Dafür steht die Agenda 2010. Sie brachte die Wende zum Besseren. Besonders bedeutsam ist die damit geschaffene Flexibilität am Arbeitsmarkt, einhergehend mit funktionierender Sozialpartnerschaft und verantwortungsvoller Tarifpolitik. Das ist gelungen und hat Wirtschaft und Gesellschaft hierzulande neu geformt.«
SPD ist immer noch stolz
In einem gemeinsamen Gastbeitrag in der Süddeutschen Zeitung vom 5. Januar 2015 loben