Am Ende des Wohlstands: Irrwege und Fehlentwicklungen der Reformpolitik
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Am Ende des Wohlstands - Shimona Löwenstein
1 Der Mythos des Sozialen
Vor beinahe schon fünfzehn Jahren beleuchtete Walter Wüllenweber in einem Aufsatz in der Berliner Zeitung folgenden zunächst etwas befremdlich anmutenden Sachverhalt: Das Sozial-Logo biete die perfekte Tarnung für eine Hilfeindustrie, die den Hilfsbedürftigen nicht nur nichts nützt, sondern ihren Interessen eher schadet. Das gilt nicht nur für die karitative Tätigkeit von Mutter Teresa, von deren Einnahmen (100 Millionen jährlich) angeblich 90 % nach Rom überwiesen wurden, sondern auch für die ertragsreichen Hilfeindustrien in Deutschland, die an der Beseitigung der eigentlichen Übel oder Mißstände in Wirklichkeit wenig Interesse haben, weil sie damit ihre Existenzberechtigung in Frage stellen würden. Zwei Beispiele wurden genannt: das „Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt (AGAG) und die „Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen
(ABM), insbesondere in Ostdeutschland. Es zeigte sich, daß diese „sozialen Aktionen" kontraproduktive Auswirkungen für die zu erreichenden Ziele verzeichneten. [1]
Wie ist es aber möglich, daß humanitäre oder soziale Hilfeleistungen den Hilfsbedürftigen eher schaden als helfen? Handelt es sich um Mißbrauch oder um strukturell bedingte Systemfehler, die dazu führen, daß immer mehr Armut entsteht, je mehr Armutsbekämpfung betrieben, daß trotz großer Bemühungen, Arbeitsplätze zu schaffen, die Arbeitslosigkeit weiter wächst, und daß bei stetig steigenden Ausgaben im Gesundheitswesen Teile der Bevölkerung schlechter versorgt sind? Viele Menschen spenden oder engagieren sich ehrenamtlich, für Entwicklungshilfe, für die Bekämpfung von Armut und Krankheiten und sonstige humanitäre Ziele (in der letzten Zeit insbesondere für Flüchtlinge) oder auch für diverse Natur- und Umweltschutzprojekte in der Annahme, ihre Hilfeleistungen seien sinnvoll. Auch die Bereitschaft, Wohlstand zu teilen, und der Stolz auf den Sozialstaat, der allen ein menschenwürdiges Leben und Teilhabe am gesellschaftlichen Fortschritt ermöglichen sollte, blieben lange Zeit unangefochten. Was ist geschehen, daß das angeblich „Soziale" asoziale Konsequenzen zeitigt, während Hilfeleistungen Mißstände nicht beseitigen, sondern nur die wachsende Hilfeindustrie fördern, die von den Mißständen lebt? War dem immer schon so oder entstanden diese Schieflagen erst durch gesellschaftliche Fehlentwicklungen?
Das Konzept einer Ordnung, die später als die „soziale Marktwirtschaft" bezeichnet wurde, wie es von den Vertretern des ursprünglichen deutschen Neoliberalismus, des sogenannten Ordo-Liberalismus, vor allem von Walter Eucken, Wilhelm Röpke und Alexander Rüstow, in der Nachkriegszeit formulierten wurde, ging von der Vorstellung der freien Marktwirtschaft, der Wettbewerbsordnung als der effizientesten und gerechtesten Wirtschaftsordnung aus, deren Schutz vor privatwirtschaftlicher Vermachtung dem Staat aufgetragen wurde. [2] Dieser Ansatz sollte nicht mit dem heutigen konzeptlosen „Neoliberalismus verwechselt werden, der im Gegenteil die immer größere Machtkonzentration durch globale Weltwirtschaftskonzerne und die gängige Praxis des rücksichtslosen Aufkaufens anderer Unternehmen, einschließlich „feindlicher Übernahmen
, Monopolisierung, Kartellbildung und Beseitigung von Konkurrenz eher mit sozialdarwinistisch anmutenden Schlagworten über die Durchsetzung des Tüchtigeren als quasi Naturgesetz zu rechtfertigen sucht. Die „soziale Markwirtschaft" sollte auch keinen „dritten Weg im Sinne eines Kompromisses zwischen der als ineffizient erkannten Planwirtschaft und dem „ungebändigten Kapitalismus
[3] einschlagen, sondern eine Synthese von echter Marktordnung und Wohlstand der ganzen Bevölkerung schaffen, deren benachteiligte Teile erst bei seiner Verteilung mitberücksichtigt werden sollten. Somit war die Aufgabe des Staates zunächst die Sorge für Rahmenbedingungen der Marktordnung und Beachtung von fairen Spielregeln, damit es auf dem Markt zu keiner „Vermachtung" kommt, danach die Gewährleistung eines menschenwürdigen Lebens und gleicher Chancen für alle.
Dieses Konzept wurde aber vorschnell als Festlegung von Zielen durch staatliche Eingriffe in das Spiel der Wirtschaft mißverstanden, infolge dessen in das Marktsystem immer mehr dirigistische und marktfremde Bestandteile hineingetragen wurden, die dessen Funktionsfähigkeit beinträchtigen. Es beruhte auf einem Denkfehler: Der Zweck der Wirtschaft, nämlich die an sich moralisch neutrale Gewinn- bzw. Nutzenmaximierung, die erst im Zusammenspiel des Marktes moralisch zu bewertende Ergebnisse (Arbeitsplätze, allgemeinen Wohlstand) als Nebenfolgen hervorbringt, wurde mit diesen Nebenfolgen selbst verwechselt. Man könnte diese Denkweise etwa durch die Vorstellung veranschaulichen, als würde man bei einem Fußballspiel nicht für das faire Spielen sorgen, sondern den Gewinner im voraus bestimmen und durch Eingriffe ins Spiel oder Modifizierung der Regeln das Ergebnis garantieren wollen. Diese Auffassung erinnert an archaische ökonomische Vorstellungen der Kirchenväter, die durch die Einführung von Moralgesetzen in die Rahmenbedingungen des Marktes, das Festlegen von gerechten Preisen oder Löhnen, die Marktwirtschaft ihrer Effizienz beraubten. Das Ergebnis dieses Moralismus ist keine moralische Wirtschaft, sondern eine Verschwendung von Mitteln und Chancen, die dadurch gerade den Ärmsten vorenthalten werden. [4]
Ludwig Erhard, dessen hauptsächliches Verdienst es war, die Marktwirtschaft in der Bundesrepublik auch gegen die anfängliche Skepsis der Alliierten durchgesetzt zu haben, hatte vor dieser Entwicklung gewarnt: „Die Marktwirtschaft und die menschliche Freiheit und Freizügigkeit müssen Schaden leiden und am Ende verlorengehen, wenn etwa um des Phantoms des Wachstums willen die innere und äußere Stabilität unserer Wirtschaft nur noch durch immer weiter greifende Eingriffe des Staates in das wirtschaftliche Gefüge rein äußerlich in einem technologischen Sinn gewährleistet erscheinen, während der Wissende sehr wohl erkennt, daß diese notwendig immer weiter um sich greifende ‚Plan’-Wirtschaft mit dem Gedanken einer freiheitlichen Lebensordnung nicht mehr vereinbar ist." [5]
Das Problematische an dieser Entwicklung waren nicht die guten Absichten der sozialen Reformer, sondern die Art und Weise, wie man diese zu verwirklichen suchte, nämlich durch direkte Eingriffe in die wirtschaftlichen Abläufe, beispielsweise durch Festsetzung von Mindest- oder Höchstpreisen, die zu Deformationen des jeweiligen Marktes führen, diverse Nebenfolgen bewirken und der gewünschten Vorstellung eher zuwiderlaufen. So führte etwa die Festsetzung von Höchstpreisen [6] für Mieten in Altbauwohnungen keineswegs zur Sicherung von preiswerten Wohnungen für „sozial Schwache", d.h. Menschen mit niedrigem Einkommen, sondern zu einem desintegrierten Wohnungsmarkt. Es kam zur überdimensionalen Steigerung der Mieten in den Neubauwohnungen, von den Vermietern beabsichtigtem Verfall von alten Häusern, leerstehenden Wohnungen und dem dadurch geschaffenen Problem der Hausbesetzer, verbunden mit unerwünschten gesellschaftlichen Nebenfolgen (wie ständigem Wohnungsmangel, Schaffung von anderen nichtwirtschaftlichen Auslesekriterien seitens der Vermieter, Protektion, Bestechungen, schwarzem Markt, hohen Abständen und Kautionen, steigenden Zahlen von Obdachlosen trotz bereits gestiegener Mieten usw.). Langfristig ist auch die Nachfrage, wie vor langer Zeit von den Wirtschaftswissenschaftlern vorausgesehen, und damit auch die Überschußnachfrage gestiegen. Hätte man von Anfang an keine Höchstpreise garantiert, wäre wahrscheinlich auch das Angebot langfristig elastischer, die Mieten vielleicht insgesamt etwas höher, das Wohnungsangebot jedoch ausreichend. Die unzähligen Regelungen zugunsten einmal der Mieter (Kündigungsschutz auch bei Nichtzahlern), ein andermal der Vermieter (Eigenbedarf als Kündigungsvorwand) mit dem gesamten überwucherten Mietrecht, machten die Lage nicht besser.
Heute wird den Vermietern gestattet, die Miethöhe an den jeweiligen Mietspiegel des Bezirks anzupassen oder höhere Mieten durch durchgeführte „Modernisierungsmaßnahmen (insbesondere zur vermeintlichen Erhöhung der „Energieeffizienz
) [7] zu fordern, was oft zu ungerechtfertigten legalen Mieterhöhungen führt. Im Unterschied zu früher stellt nicht mehr Wohnungsmangel (viele Wohnungen vor allem in den Plattenbaubezirken im Osten standen lange Zeit leer), sondern vor allem überhöhte Mieten, [8] die einen Großteil der fixen Lebenshaltungskosten ausmachen, das Hauptproblem dar. Vielerorts kommt es zu sog. „Gentrifizierung" (Luxusmodernisierungen und Verdrängung ursprünglicher Einwohner aufgrund überhöhter Mieten), die man in der letzten Zeit durch verschiedene Regelungen, wie z.B. die Mietpreisbremse [9] wieder einzudämmen versucht. [10] Die Regelungen sind umstritten und werden den erwünschten Effekt auch kaum haben, ebensowenig wie schon zuvor der Mietspiegel.
Ebenso erzielte der jahrzehntelang betriebene verschwenderische „soziale Wohnungsbau" nur eine Reihe weiterer Deformationen auf dem Wohnungsmarkt. Die staatliche Nachfrage richtete sich nicht nach Marktkriterien, sondern man beauftragte bestimmte Baufirmen, die Gewinnbeteiligung proportional zu den aufgewendeten Kosten erhielten. Durch diesen völlig unwirtschaftlichen Ansatz, an dem nur die beauftragten Firmen gut verdienten, verbunden mit unsinnig eng festgesetzten Wohnkriterien und überflüssigen Standardvorschriften, fiel die Kostenrechnung entsprechend hoch aus, wodurch der Bau von sozialen Wohnungen sogar noch teurer als der frei finanzierten wurde. Mit dieser Praxis wurde also nicht Sparsamkeit und Wettbewerb, sondern Verschwendung und „Abzocke der Bauherren auf Kosten der Steuerzahler belohnt. [11] Später wurden die ursprünglichen „Sozialbauwohnungen
in vielen Städten an private Investoren verkauft, was oft zu drastischen Mietsteigerungen führte. Das mißlungene Projekt war damit beendet. [12] Direkte Mietzuschüsse für Menschen mit geringem Einkommen (das sog. Wohngeld) wären dagegen billiger und ohne Nebenfolgen gewesen. [13]
Die Politik der Eingriffe in Wirtschaftsabläufe betrafen selbstverständlich nicht nur den Wohnungsmarkt. Ansätze zu einer Wirtschaftslenkung in den siebziger Jahren waren bereits deutlich zu erkennen, wurden jedoch aufgrund des linken Zeitgeistes nur von Wenigen als mögliche Gefahren für die ganze Ordnung erkannt. So stellte Franz Böhm in einem polemischen Aufsatz von 1973 fest, daß wirtschaftliche Interventionen, welche die einzig wirksame Konkurrenz ausschalten, über ihre Ineffizienz hinaus auch sehr unerwünschte politische Effekte besitzen. [14] „Kurz, der politische Effekt von Interventionen ist, daß auf die Wirtschaftenden ein starker Anreiz ausgeübt wird, sich zum Behuf der Erlangung oder Beibehaltung von Interventionen politisch zu organisieren. Anstatt ihr partikulares Privatinteresse – wie es im Sinn der marktwirtschaftlicher Ordnung liegt – durch Marktreaktionen (Verbesserung der eigenen Leistungskraft) wahrzunehmen, bedienen sich die Wirtschaftenden immer häufiger und nachhaltiger ihres Wahlrechts, der Presse, ihres Demonstrationsrechts, des Streiks." [15]
Das war bestimmt nicht dasjenige, was die deutschen Neoliberalen in der Nachkriegszeit unter dem Schutz der Wettbewerbsordnung gemeint haben. Schließlich sprach selbst der größte Protagonist der „sozialen Marktwirtschaft" aus dem Kreis des eher liberal-konservativen Ordo-Liberalismus, Alfred Müller-Armack, vom Abrücken in sozialistische und dirigistische Vorstellungen. [16] Seine Warnung vor dem, was er „Demokratisierung" nannte, d.h. einer Verwandlung der „sozialen Marktwirtschaft in „puren Pragmatismus
oder eine „Politik des Stimmenfangs", [17] wies auf Gefahren hin, die das rationalistisch-technokratische Mißverständnis bereits von Anfang an in sich barg: „Diese stetig gegen den marktwirtschaftlichen Prozeß gerichteten wirtschaftspolitischen Maßnahmen und zusätzlichen Belastungen der Wirtschaft haben als besonderes Charakteristikum die scheinbare Unmerklichkeit dieses Prozesses. (...) Jeder dieser einzelnen Schritte (...) mag ein Stück Vernünftigkeit enthalten, die Summe der kleinen Schritte bedeutet jedoch eine zunehmende Belastung der Wirtschaft, eine immer größere Verstrickung der Staatsfinanzen in ein Netz dirigistischer Politik, das am Ende praktisch auf einen Systemwechsel hinausläuft, zumindest in eine Ordnungsform, die auch politisch nicht mehr regulierbar und steuerbar ist." [18]
Schärfster Kritik unterzog vor allem Friedrich August von Hayek den Sozialstaat und das mit seiner Entwicklung zusammenhängende Postulat „sozialer Gerechtigkeit", dem die spontane Ordnung der freien Marktwirtschaft und Gesellschaft geopfert wird. „Vieles, was heutzutage im Namen der ‚sozialen Gerechtigkeit’ getan wird, ist deshalb nicht nur ungerecht, sondern auch höchst unsozial im wahren Sinne des Wortes: es läuft schlicht auf den Schutz solide befestigter Interessen hinaus." [19] Mit dieser Feststellung, an der natürlich linke Programmatik Anstoß nahm, war Hayek und ähnlich gesinnte liberale Denker nicht allein. Der Wohlfahrtsstaat mit seiner Leitvorstellung, der „sozialen Marktwirtschaft", einer wachsenden Bürokratisierung und einem ständig dichteren Netzwerk interventionistischer Regeln hat sich, trotz seiner freiheitlich-humanen Ideologie, zu einem vom Gesichtspunkt der Selbstregulierung extrem unnatürlichen System entwickelt, wie von vielen Kritikern seit Anfang der 80er Jahre immer wieder festgestellt wurde. [20] Seitdem war von einer „Krise des Sozialstaats" die Rede.
Kurt Biedenkopf sprach 1985 im Zusammenhang mit seiner Kritik des Sozialstaats von einer „Verstaatlichung der Verteilungskonflikte [21] und verglich diesen allmählichen Prozeß mit dem Erscheinungsbild einer Krankheit: „Die Widersprüche, die daraus erwachsen, setzen sich durch das ganze System der miteinander verbundenen (vernetzten) Teilbereiche fort und treten – ähnlich wie es bei einer seelischen Krankheit der Fall sein kann – an Stellen des Körpers der Gesamtwirtschaft als Krankheitssymptome auf, an denen sie keiner erwartet hat.
Die Symptome führen nach Ansicht des CDU-Politikers nicht zu einem Abbau des Widerspruchs, sondern zu neuen Maßnahmen, die allein auf das Symptom zielen. „Das Symptom wird als Ursache gesehen. Seine ‚Behandlung’ erzeugt neue Widersprüche – und so weiter." [22]
Einige Jahre später faßte Wernhard Möschel in einem Aufsatz alle Systemfehler des ausufernden Sozialstaats zusammen: Das Wort „sozial" werde inflationär gebraucht, die Sozialpolitik sei aus der ursprünglichen Hilfe für Bedürftige zum bewußt eingesetzten Lenkungsmittel und der Sozialstaat zum „sozialen Obrigkeitsstaat", ja einem „sozialen Überforderungsstaat" geworden. Die praktizierte Sozialpolitik sei unmäßig und kontraproduktiv, und zwar in Bereichen wie dem Versicherungswesen, dem Agragsektor, dem sozialen Wohnungsbau, aber auch im Gesundheitswesen, beim Ladenschlußgesetz wie bei der Vermögungsbildungsförderung. Sie berücksichtigt nach Möschels Ansicht keine ökonomische Verhältnismäßigkeit und wälzt Nebenwirkungen und Kosten auf Dritte ab. Der Größenmaßstab des Anteils sozialer Leistungen am Bruttosozialprodukt, der Belastung der Einkommen und der Kostenexplosion vor allem in der Rentenfinanzierung und im Gesundheitswesen schien ihm schon damals an seine Grenze gekommen zu sein. Überdies hielt er das soziale Anliegen auch vom moralischen Gesichtspunkt für zweifelhaft, da es mit dem Schutz bestimmter Gruppen (der Arbeitnehmer) zugleich die Chancen anderer (der Arbeitslosen) versperre. [23]
Um all diese verschwenderische und kontraproduktive Politik zu rechtfertigen, wurde die gesamte hergebrachte sozialethische Terminologie auf den Kopf gestellt, Begriffe wie Freiheit, Solidarität, Menschenwürde u.a. umgedeutet, der Sozialstaat zu einem fast religiösen Begriff verklärt, stellte Gerd Habermann in einem Aufsatz von 1996 fest, in dem er für die Entmythologisierung des Sozialen sowie die Rückgabe sozialer Verantwortung an die Bürger plädierte. Der wohlfahrtsstaatliche Leviathan mit seinem Ideal des „Lebens aus einem Topf", also einer großen Solidarhaftung aller für alle und ständiger Ausweitung sozialer Zwangsversicherung in allen Bereichen, mache seine Bürger nicht nur nicht freier, sondern lasse an dem gewaltigen, unübersichtlichen und intransparenten Umverteilungs- und Versicherungssystem ganz andere Gruppen als die tatsächlich Hilfsbedürftigen profitieren: vor allem Berufspolitiker, Interessengruppen und die öffentlichen Bediensteten, denen die Umverteilung obliegt. „Das unübersichtlich und intransparent gewordene staatliche Wohlfahrtssystem scheint besonders Berufspolitikern zu nützen, die über die Austeilung von ‚sozialen Geschenken’ ihre Wahlkämpfe führen. Mittels Ausverkauf der Freiheit sichern sie sich ihre Macht." [24]
Dreißig Jahre nach dem beklagten Vordringen sozialistischer und dirigistischer Vorstellungen sieht dieses System, das über den Kommunismus im Kalten Krieg gesiegt hatte, nicht als eine Synthese von echter Marktordnung und staatlicher Sozialpolitik aus, sondern als ein von einer politischen Oligarchie regierter unersättlicher Leviathan. Die mit vielen Einschränkungen, regulierenden und intervenierenden Maßnahmen belastete Wirtschaft gilt ihm als Werkzeug verschiedener Interessen und Mittel zur Finanzierung anderer, weder freiheitlicher noch sozialer Ansprüche. Die Umformung des Sozialen zum Macht- und Herrschaftsinstrument des Staates, das auf altbekannten Säulen, nämlich Angst, Intransparenz und Solidaritätsappellen beruht, verfehlt zunehmend sein proklamiertes Ziel, die „soziale Gerechtigkeit", äußerte später Meinhard Miegel. Der Sozialstaat habe die Gesellschaft, von der er lebt, entsolidarisiert, entmündigt und damit entwürdigt, deformiert und völlig ausgelaugt, bis er jetzt an die Grenzen deren Tragfähigkeit gelangt sei: Jahrzehntelang habe er keine Vorsorge getroffen, keine Zukunftsinvestitionen getätigt, sondern bloße Umverteilung betrieben. Mit Täuschung, Betrug und Illusionstheater, insbesondere durch die Illusion eines „Wohlstands auf Pump", der nur durch stets zunehmende Schuldenberge finanziert wird, sucht er seine Herrschaft weiter aufrechtzuerhalten. [25]
Der so gepriesene deutsche Sozialstaat erscheint angesichts all dieser Tatsachen in einem ganz anderen Licht, nämlich als ein verschwenderisches System, von dem vor allem große organisierte Interessen, Berufspolitiker, Staatsdiener und die angeschlossene Hilfeindustrie profitieren, der aber die Lebensgrundlagen der Gesellschaft auf Kosten der Zukunft verzehrt. Der parasitäre Charakter dieser nur vermeintlich „sozialen Hilfeleistungen ist bezeichnend für viele Bereiche der Gesellschaft. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, daß inzwischen fast alle grundlegenden gesellschaftlichen Sphären, der Arbeitsmarkt und alle sozialen Systeme (das Renten- und Gesundheitswesen), die Infrastruktur, die Umwelt und die Bildung bis zur Kriminalitäts- und Gewaltbekämpfung von dieser Entwicklungstendenz betroffen sind. Dieser Trend hat zur Folge, daß sich überall eine überdimensionierte „Hilfeindustrie
etablierte, die ihre ursprünglich sinnvolle Funktion nach und nach durch eine selbstbezogene Scheinhilfe als Selbstzweck ersetzt. Die Struktur dieser Inanspruchnahme bestimmter gesellschaftlicher Funktionen ist mit der eines Tumors vergleichbar, der für sein eigenes Wachstum die Funktion gesunder Zellen und Organe so lange unterbindet, bis der ganze Organismus zugrunde geht. So wurde jedenfalls die Situation um die Jahrhundertwende seitens der Kritik gesehen und daraus auf eine gerundlegende Reformierung des ganzen Systems geschlossen. Die Frage ist allerdings, ob die seitdem vorgenommenen Reformen auch die richtigen Heilmittel waren, d.h. ob sie die diagnostizierte Krankheit tatsächlich behandelt oder eher verschlimmert haben.
1.1. Die Krise des Sozialstaats und der Tanz auf der „Titanic"
Die sich ständig verschlechternde Situation in mehreren sozialen Bereichen war also gut bekannt, wurde jedoch verdrängt. Immer heftigere Kritik an sorgloser Politik kam seit den 80er Jahren vor allem von Wirtschaftswissenschaftlern. So wies beispielsweise das Frankfurter Institut für wirtschaftspolitische Forschung seit 1983 in mehreren Publikationen auf die Gefahren des sehr verbreiteten kurzsichtigen, engstirnigen und punktuellen Denkens in der Politik hin, das allmählich auch das einzelwirtschaftliche Denken und Handeln korrumpiert und fehlgeleitet habe: Nebenwirkungen und langfristige Folgen von politischen Entscheidungen wurden ausgeblendet oder verdrängt, überfällige Korrekturen hinausgezögert und Illusionen über die Tragfähigkeit staatlicher Finanzen geschürt. Durch Mängel im Bildungswesen und die Behinderung von Forschung und Entwicklung wurden ungünstige Bedingungen geschaffen, durch Preisinterventionen, ein unzweckmäßiges Steuersystem, desorganisierte Mietwohnungsmärkte, brüchige Renten-, Pflege- und Krankenversicherungssysteme und eine Flut von Gesetzen, Verordnungen, Reglementierungen, Wettbewerbsbeschränkungen, strukturkonservierenden Subventionen u.ä. die Wirtschaft verwirrt und gelähmt, private Initiative fehlgelenkt. Die Folgen waren Vernachlässigung von Investitionen in die Infrastruktur zugunsten von Konsumausgaben, vor allem Sozialleistungen und Subventionen, und deren Finanzierung durch immer höhere Neuverschuldung, d.h. Verlagerung von Lasten auf kommende Generationen. [26] Kritisiert wurden also vor allem die kontraproduktive Förderungs- und Reglementierungspolitik, die Tendenz zur Bürokratisierung und Verrechtlichung der Wirtschaft und des Arbeitsmarktes, die Kostenexpansion der Staatsausgaben und der sozialen Versicherungssysteme sowie auch die moralische Zweifelhaftigkeit von vermeintlich sozialen Zielsetzungen in der Praxis. Die Empfehlungen des Instituts waren 1994, die Fehlentwicklung dieses verkürzten Zeithorizonts und dessen Folgen allgemein bewußt zu machen, eine Übertragung von Entscheidungsfreiheiten auf private Unternehmen und Haushalte, die Einführung institutioneller Stabilisierungsfaktoren (wie es z.B. die Bundesbank vor der Einführung des Euro war) sowie die Überprüfung aller Gesetzesvorlagen im Hinblick auf ihre Neben- und Fernwirkungen in der Zukunft. Sie wurden allerdings nie befolgt.
Die ersten beiden sozialdemokratischen Kanzler haben den Sozialstaat ausgebaut und unverantwortlich expandieren lassen. [27] Auch während der 16-jährigen Kanzlerschaft von Helmut Kohl trat die lange angekündigte politische Wende im Sinne einer grundlegenden Reform der sozialstaatlichen Strukturen nicht ein, im Gegenteil: Die kritische wirtschaftliche Situation hat sich mit einer Steigerung der Staatsverschuldung um 240 % und der Arbeitslosigkeit um 60 % sowie einer steigenden Steuer- und Abgabenlast weiter verschlimmert. Daher wundert es nicht, daß der spätere (verbale) Reformkonsens zugleich als Abschied vom „Sozialen" gedeutet wurde. Ende der Siebziger war dieser zum Leitbegriff der Republik geworden, während Kohls Wiedervereinigung in dessen traditionell etatistischer Logik erneut zum Projekt der Sozialpolitik gemacht und deren Kosten dem sozialen Sicherheitssystem aufgebürdet wurden. [28] Statt einer Wende redete man am Ende der CDU-Regierung eher von einem Reformstau.
Aber auch die an Gerhard Schröder geknüpften Reformhoffnungen haben sich nicht erfüllt. Es erschein zunächst nicht allzu realistisch, nachdem eine nur scheinbar konservative Regierung sechzehn Jahre lang dieselbe Verteilungs- und Beschwichtigungspolitik betrieben hatte, von einer sozialdemokratischen eine wesentliche Änderung zu erwarten. Der schwache Kanzler war nicht einmal in der Lage, seine winzigen Sparpläne durch Streichungen von bestimmten Steuervergünstigungen (Spendenabzugsfähigkeit, Eigenheimzulage usw.) im Hinblick auf die Spenderlobby und bevorstehende Landtagswahlen durchzuziehen. [29] Zum Teil standen Schröder die Widerstände in seiner eigenen Partei im Wege, erstarrte Parteistrukturen, [30] gegen die er sich als Kanzler nicht durchzusetzen vermochte, zum Teil gegenseitige Blockaden der Parteien. Dafür war das erbärmliche Ergebnis des Vorweihnachtsspektakels 2003 im Vermittlungsausschuß ein gutes Beispiel. Selbst die von ihm eingeleitete und später gepriesene Reform-Agenda 2010, vor der man sich zunächst eine gewisse Steuerentlastung versprach, wurde von der Opposition gegen ihre eigenen Grundsätze bekämpft und blockiert. [31] Und doch war es gerade dieses Programm, das der ebenso konzeptlosen britischen Politik Tony Blairs oder der Neuen Demokraten in Amerika ähnelte, mit dem eine Reihe von Scheinreformen eingeleitet wurde, die unter dem Vorwand von Modernisierung, Privatisierung und Deregulierung mehr Schaden an den bestehenden Strukturen eingerichtet hat als die spätere eher vorsichtigere Politik der „kleinen Schritte" von Angela Merkel.
In den ersten Jahren nach der Jahrhundertwende schien es zumindest, als sei das Leitbild des Sozialstaats und das Glaubensbekenntnis zum Sozialen, verbunden mit vielen Rücksichten auf Besitzstände und Wahlergebnisse, stärker gewesen als alle Hinweise auf die Widersinnigkeit und wirtschaftliche Irrationalität der bestehenden Praxis, Prognosen und Warnungen von Sachverständigen. Die katastrophale Finanzlage (das „schwarze Loch im Bundeshaushalt) war beispielsweise nach den Steuerschätzungen bereits vor den Wahlen 2002 gut bekannt, wurde aber im Wahlkampf möglichst verschwiegen oder vertuscht. [32] Die Bundesrepublik sei sehenden Auges in die Krise geschlittert, schrieb Dieter Schröder an die Adresse des „Wahlbetrugs
von Gerhard Schröder: „Genau genommen dauert diese Krise schon über 30 Jahre. Sie ist eine schleichende Krankheit, deren Symptome nur vorübergehend immer wieder verdeckt worden sind, wenn der Ölpreis sank oder die Weltkonjunktur anzog und ein Wachstumsschub Geld in die stets überforderten Kassen des Staates oder der Sozialversicherungen lenkte. Keine der beiden großen Volksparteien kann sich rühmen, dem Patienten Deutschland je eine Rosskur verordnet zu haben." [33]
Wie die Politik die Wirklichkeit einer sich verändernden Welt verdrängt und sich Wohlstandsillusionen über eine heile Welt hingibt, beschrieb 2002 Meinhard Miegel in seinem Buch Die deformierte Gesellschaft. Auch in der gleichnamigen Radiosendung wurde darüber berichtet, wie die heutigen Probleme (Überalterung, Arbeitslosigkeit, Verarmung und Krise des Sozialstaats), die auf einen dramatischen Wandel sämtlicher Strukturen der Gesellschaft hinweisen, von den Deutschen, vor allem den Politikern nicht wahrgenommen, und schon überhaupt nicht zu lösen versucht werden. [34] Die deutsche Politik sei durch Mangel an Perspektiven, Versäumnisse und Fehlentscheidungen gekennzeichnet. Die politischen Diskussionen um Einwanderung, Arbeitslosigkeit usw. seien sämtlich vergangenheitsbezogen und wirklichkeitsfern: Unberücksichtigt bleiben die demografische Entwicklung, [35] vor allem die Alterung der Bevölkerung und die Zuwanderungsproblematik, die veränderten Bedingungen von Wirtschaft und Beschäftigung seit den siebziger Jahren, wonach keine hohen Wachstumsraten mehr zu erwarten sind, [36] sowie die Tatsache, daß selbst das schon lange ausbleibende Wachstum bei einer hohen Wissens- und Kapitalintensität keine zusätzlichen Arbeitsplätze mehr schaffen wird. Durch eine Förderung des Mittelmaßes, falsche Bildungspolitik, Vermeidung von Elitenbildung und Verschwendung oder Fehlleitung des Humankapitals durch ungenutztes Wissen von arbeitslosen Akademikern verkümmert der Wissensbestand der Gesellschaft; [37] durch verschwenderische unproduktive Ausgaben und veraltete Gewerkschaftspolitik wird auch der Kapitalstock bzw. dessen Produktivität vermindert. [38] Aber gerade diese Quellen des Wohlstands (Wissen und Kapital) [39] werden in Deutschland zu wenig gefördert, ja allmählich zugeschüttet. Ideologische Hintergründe, falsche Vorstellungen und Machtinteressen verhindern es, sich auf die Veränderungen der Lebenswirklichkeit einzustellen und den allgemeinen Niedergang der deutschen Wohlstandsgesellschaft abzuwenden.
Nach Gabriele Metzler bestand der Grund für die Effizienz- [40] und Legitimationskrise (staatlicher Interventionismus auf Kosten der Freiheit) [41] des deutschen Sozialstaats seit den 70er Jahren im Zusammentreffen von verminderter staatlicher Handlungsfähigkeit (Reformblockaden, „Unregierbarkeit") und gestiegenen Erwartungen (Überforderung) infolge der Entwicklung in den 60er Jahren, in denen eine erweiterte Interpretation des Sozialstaats und eine gleichzeitige „Revolution der Erwartungen eingeleitet wurde. Metzlers Hauptthese lautet: Der Sozialstaat ist ein Projekt der „ersten Moderne
, der seine Grenzen erreicht hat. Diese sind wirtschaftlich durch die Unmöglichkeit seiner Finanzierbarkeit (Kostenexplosion) aufgrund der demographischen Entwicklung (Bevölkerungsrückgang, Alterung) und der Koppelung der Alterssicherung an Erwerbsarbeit (Arbeitslosigkeit) sowie soziokulturell (Entsolidarisierung und Individualisierung) gegeben. [42] Die Tatsache, daß zwar Neuerungen eingeführt, ein Sparkurs eingeleitet, aber keine echte Umkehr stattfand und grundsätzliche Lösungsvorschläge oder Strategieentwürfe immer nur Gegenstand akademischer Diskussionen geblieben sind, erklärt sie vor allem durch die große Resistenz und den Strukturkonservativismus der Institutionen, verbunden mit den Reformblockaden diverser Lobbys und der Kostenfrage. Damit wird die These von der „Pfadabhängigkeit der Entwicklungen" und ihrer praktischen Unumkehrbarkeit gestützt. Der deutsche Sozialstaat war als ein Sozialversicherungsstaat konstruiert und ist es trotz aller Wandlungen und ideologischen Anstriche bis heute geblieben. [43]
Inwiefern die deutsche Sozialpolitik bis heute durch Kontinuität mit Bismarcks Sozialstaat oder auch von bestimmten neuen Trends geprägt ist, müßte einzeln untersucht werden. Die Denkweise, auf der das immer wieder festgestellte kurzsichtige politische Handeln beruht, gehört jedenfalls eher in die vormoderne Zeit und ähnelt der Art und Weise, wie sich beispielsweise der Feudalherr die benötigten Mittel von seinen Untertanen holte: durch eine Steuer- oder Abgabenerhöhung. Sie geht von der naiven Überlegung aus, daß mehr Steuer doch mehr Geld in die staatliche Kasse einbringt – eine „Milchmädchenrechnung", die nicht aufkommt. Elementare Kenntnisse wirtschaftlicher Zusammenhänge ergeben auch ohne komplizierte Berechnungen von Wirtschaftsexperten, daß das Defizit am Ende