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Die Staatsbedürftigkeit der Gesellschaft
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eBook126 Seiten1 Stunde

Die Staatsbedürftigkeit der Gesellschaft

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Über dieses E-Book

Gesellschaftliche Ungleichheit, die Frage nach dem Oben und dem Unten, nach dem Zentrum und der Peripherie des Sozialen ist auf die Tagesordnung der öffentlichen Rede über den Zustand und die Zukunft unseres Gemeinwesens zurückgekehrt. Politik und Publizistik werfen einen Blick auf die bedrängten und besorgten Mittelschichten, auf das "abgehängte Prekariat" und die deklassierten Randlagen, aber auch die Verantwortung und Solidarbereitschaft der Oberklasse wird unter dem Stichwort "Reichensteuer" zum Thema. Diese Auseinandersetzung mit der Verschärfung sozialer Ungleichheiten wird von der Debatte um die Zukunft des Wohlfahrtsstaates, seiner Institutionen und Sicherungssysteme, seiner Infrastrukturen und Vorsorgeeinrichtungen umrahmt. Mag einem Gutteil der Gesellschaftswissenschaften der Staat im Laufe der Jahre aus dem Blick geraten sein, der Gesellschaft ist der Staat jedenfalls nicht abhanden gekommen. Staatliches Handeln berührt auf politischem und ordnet auf rechtlichem Weg die vielfältige Lebenswirklichkeit weiter Kreise der Bevölkerung. Die institutionelle Architektur, die finanzielle Ausstattung und die normative Kraft des Staates haben sich fraglos in grundlegender Weise verändert. Doch der Wohlfahrtsstaat als ein formativer sozialer Prozess, der Ungleichheiten schafft, ordnet und dämpft, hat an mentaler und struktureller Präsenz nicht verloren. Vieles spricht daher dafür, die sozialen Veränderungen stärker vom Staat her zu denken. Berthold Vogel untersucht die Staatsbedürftigkeit der Gesellschaft und diskutiert vor dem Hintergrund verschärfter sozialer Ungleichheit die aktuelle Problematik des Sozialen die Frage, ob es nicht lohnenswert sein könnte, die Kunst der politischen Verwaltung in Zeiten zugespitzter sozialer Ungleichheiten zum Gegenstand öffentlicher Debatten zu machen.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum18. Okt. 2012
ISBN9783868546613
Die Staatsbedürftigkeit der Gesellschaft

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    Buchvorschau

    Die Staatsbedürftigkeit der Gesellschaft - Berthold Vogel

    übersteigt.

    Die Forsthoff’sche Formel

    Mit Hilfe der Formel der »Staatsbedürftigkeit der Gesellschaft« rechnete in den frühen 1970er Jahren der Staats- und Verwaltungsrechtler Ernst Forsthoff das Verhältnis von Staat und Gesellschaft in der industriellen Moderne durch und kam zu dem Ergebnis, dass die Industriegesellschaft in ihrer Entwicklungsgeschichte jede Idee des Staates verloren hat. Der »Staat der Industriegesellschaft«, so der Titel der staatstheoretischen Summa Forsthoffs, ist für ihn nur noch eine »Erinnerung an den Staat«.¹ Dennoch ist die moderne, industrielle Gesellschaft in all ihren Stufen und Gliederungen, in all ihren Lagen und Milieus, in all ihrer Vitalität und Aktivität staatsbedürftig wie keine Gesellschaft zuvor. Gerade weil nach Auffassung Forsthoffs der Staat in erheblichem Umfange zur Funktion der industriellen Gesellschaft geworden sei, ist doch das soziale und wirtschaftliche Geschehen ohne staatliche Daseinsvorsorge schlichtweg funktionsunfähig. Forsthoffs Formel der Staatsbedürftigkeit markiert mithin die Sorge um politische und soziale Stabilität und verweist auf die »soziale Empfindlichkeit des modernen Massendaseins«. Diese Sorge ist uns auch im Zeitalter ökonomischer Globalität, zivilgesellschaftlicher Emanzipation und fortschreitender Transnationalität von Staatlichkeit nicht abhanden gekommen, ja sie hat im Zuge der wechselseitigen politischen und ökonomischen Veränderungsdynamik von Wohlfahrtsstaat und Arbeitsgesellschaft neue Nahrung erhalten.

    Die im Prinzip verwaltungsrechtlich hergeleitete Rede von der Staatsbedürftigkeit der Gesellschaft führt mitten in diese Konflikte um die Neujustierung des Sozialen.² Forsthoffs Formel von der Staatsbedürftigkeit hat unterschiedliche Facetten, die wir für die Diagnostik der Gegenwartsgesellschaft fruchtbar machen können. Das gilt mit Blick auf eine Zustandsbilanz des komplexen Verhältnisses der wechselseitigen Abhängigkeit von Staat und Gesellschaft, bezüglich der sozialen und wirtschaftlichen Stellung des Einzelnen in der »industriellen Gesellschaft« und schließlich in Hinsicht auf die Weiterentwicklung des politischen und verwaltungsrechtlichen Konzepts der Daseinsvorsorge, die nach wie vor ein zentrales Strukturelement des modernen Wohlfahrtsstaates bildet.

    Doch der Reihe nach: Wie begegnet uns Forsthoff in seinen Schriften zur staatlichen Verfassung und verwaltungsrechtlichen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland? Was sind die Grundlagen seiner Formel der »Staatsbedürftigkeit«? In der Analyse der modernen Industriegesellschaft zeigt sich Forsthoff zunächst gleichermaßen als Staatsmelancholiker und als Verwaltungspragmatiker. Er stellt fest, dass die Übersicht über die »Befindlichkeiten der Bundesrepublik […] keinen Zweifel daran zu[lässt], dass sie kein Staat im hergebrachten Sinne des Begriffs mehr ist. Die Unfähigkeit zu geistiger Selbstdarstellung macht offenbar, dass sie nicht mehr das Konkret-Allgemeine repräsentiert, das somit seine Repräsentation verloren hat.«³ Der Staat unterwirft sich den Sachzwängen des technisch-industriellen Fortschritts. Die Industriegesellschaft gerät zum treibenden Subjekt, der Staat zum bewegten Objekt. Tatsächlich ist in dieser Lesart der Staat der Industriegesellschaft ein politisch entkernter, ja entkräfteter Staat. Die Schwäche dieses Staates ist »die reduzierte politische Potenz, in der Idee wie im Handeln. […] Seine Stärke ist die Verankerung in der Vitalsphäre der Bevölkerung.«⁴ Doch auch wenn der moderne, industriell und arbeitsgesellschaftlich geprägte Staat gegenüber den Mächten der Ökonomie und Technik an politischer und auch normativer Kraft eingebüßt haben mag, so verleiht der Staat als »Verwaltung des Sozialen« in Forsthoffs Augen dem Gesellschaftsgefüge der Bundesrepublik dennoch ein hohes Maß an politischer Stabilität. Zwei Faktoren, die sich unmittelbar aus der Formel der Staatsbedürftigkeit herleiten lassen, sind für diese Stabilität verantwortlich: Erstens die verwaltungsrechtliche Fundierung staatlichen Handelns als Sozialleistungsstaat und dessen Verankerung in der »Vitalsphäre« des Sozialen. Zweitens das auf dem Arbeitnehmerstatus gegründete Lebensgefühl bzw. das um die Erwerbsarbeit organisierte Institutionengefüge der modernen Gesellschaft. Forsthoff wird freilich nicht müde, darauf hinzuweisen, dass das Leben im Sozialleistungsstaat seinen freiheitsreduzierenden Preis hat: »Der moderne Mensch lebt in artifiziellen Daseinsformen. Er ist auf Versorgungen angewiesen (Daseinsvorsorge) und nicht weniger auf soziale Sicherungen, die ihm der moderne Sozialstaat bietet.« Hinzu kommt, dass mit der industriegesellschaftlichen Umklammerung des Staates das Allgemeine »keine Instanz« mehr hat. »Der Schutz der Interessen Aller reicht so weit, wie die jeweiligen mehrheitlichen Konsense, die in den Gruppierungen der organisierten Interessen zustande kommen.« Der Staat der Industriegesellschaft steht und fällt »mit der sozialen Umverteilung, die nur mit staatlichen Mitteln durchzuführen ist. Der Verbund von Staat und Industriegesellschaft ist unlöslich, an ihm hängt das Funktionieren des sozialen Ganzen.«⁵ Der Schwerpunkt der Stabilität des Sozialen liegt mithin nicht im Staat als Struktur und Idee, sondern in der Technizität und Materialität der Ökonomie. Und weiter: »Nach dem allem ist gewiss, dass der Staat außerstande wäre, den technischen Prozess in die Schranken zu verweisen, welche die Humanität (diese in einem wörtlichen und umfassenden, unsentimentalen Sinne verstanden) gebietet. Denn solche Schranken setzen würde bedeuten, Herrschaftsfunktionen gegenüber der Industriegesellschaft auszuüben. Dazu bedarf es einer eigenständigen Macht, die dem Staate fehlen muss, der seine Stabilität und Funktionsfähigkeit der Industriegesellschaft verdankt.«⁶

    Selbst wenn wir Forsthoffs Melancholie, mit der er die Preisgabe der Staatsidee an die empirischen Bedürfnisse der Gesellschaft nach Wohlstand und Wachstum betrauert, nicht teilen möchten, so erhalten wir in seiner staatsrechtlichen Analytik des »Staates der Industriegesellschaft« dennoch eine präzise und erstaunlich heutige Skizze der wechselseitigen Verwobenheit von Wohlfahrtsstaatlichkeit auf der einen und technikgetriebener bzw. ökonomiezentrierter Gesellschaft auf der anderen Seite. In der Lektüre Forsthoffs finden wir Hinweise auf die empfindliche und tiefreichende Abhängigkeit des Wohlfahrtsstaates von den Funktionen des Ökonomischen, mithin einen Ausblick auf die Probleme, Blockaden und Fragen der Neugestaltung des Verhältnisses von Wohlfahrtsstaat und gesellschaftlichen Bedürfnissen, die aktuell die politische Reformdebatte durchziehen. Die Arbeitsgesellschaft, die wir heute nicht mehr industrielle, sondern eher dienstleistende oder wissensbasierte nennen, bedarf im Grundsätzlichen des Staates, seines Rechtssystems und seiner wirtschaftlichen Aktivitäten, um ihre Funktionsfähigkeit abzusichern und zu gewährleisten. Umgekehrt ist der Wohlfahrtsstaat, der im Kern ein ökonomisch und sozialstrukturell aktiver Steuerstaat ist, in substantieller Weise auf eine funktionstüchtige Ökonomie, eine steuerkräftige Erwerbsbevölkerung und eine produktive Technikentwicklung angewiesen, um sich durch Leistungsfähigkeit Legitimität zu verschaffen.

    Wenn wir die staatstheoretische Bilanz Forsthoffs heute mit soziologischem Interesse wieder lesen, dann ist neben dem genannten Hinweis auf die unauflösbare Verwobenheit von sozialleistendem Staat und erwerbsarbeitszentrierter Gesellschaft noch ein weiterer Aspekt angesprochen, der für eine gesellschaftswissenschaftliche Neubestimmung der Staatsbedürftigkeit fruchtbar ist. Wir begegnen bei Forsthoff immer wieder dem Aspekt der »sozialen Empfindlichkeit des modernen Daseins«, der Anschluss an aktuelle soziologische Debatten zu Fragen der »negativen Individualisierung« bzw. der sozialen Verwundbarkeit findet. Auf diese sozialen Empfindlichkeiten reagiert die Organisation und Institutionalisierung staatlicher Daseinsvorsorge als Verwaltung des Sozialen. Sie übersetzt die Staatsbedürftigkeit der Gesellschaft in Rechtsformen. Das wohlfahrtsstaatliche Grundelement und rechtsstaatliche Steuerungsprinzip der Daseinsvorsorge ist somit Forsthoffs verwaltungsrechtliche (aber in Differenz zur staatsrechtlichen Thematisierung des Sozialstaatsgedankens bei Wolfgang Abendroth nicht die verfassungsrechtliche) Antwort auf die Verwundbarkeit und Fragilität des Sozialen in der Industriegesellschaft. Was aber genau bedeutet in Forsthoffs Verständnis »soziale Empfindlichkeit«?

    Mit der Durchsetzung der arbeitsteiligen, urbanisierten und sozial wie räumlich mobilisierten Industriegesellschaft hat die individuelle Daseinsführung eine neue Qualität gewonnen. Das Zeitverständnis und das Raumerlebnis des Menschen haben sich grundlegend verändert. Individuelle Labilität und die Abhängigkeit des Einzelnen von externen sozialen und ökonomischen Veränderungen ist ein Kennzeichen der industriellen Moderne. Das individuelle Dasein in pluralen und sozial wie räumlich mobilen Gesellschaften ist nach Forsthoff zum einen durch ein hohes Maß sozialer Entwurzelung geprägt; der Einzelne ist nur noch in sehr beschränktem Maß Herr einer eigenständigen Lebensführung. Zum anderen bietet die technische Entwicklung der Moderne ein historisch unbekanntes Höchstmaß individueller Mobilitätsfähigkeit sowie persönlicher Gestaltungsoptionen im familiären bzw. beruflichen Leben. Der wachsende Wohlstand und die gesteigerte Mobilität gründen sich dabei immer weniger auf eigene Ressourcen, deren Wurzeln im vom Einzelnen (und seiner Familie) beherrschten sozialen Umfeld liegen, sondern immer mehr auf von außen durch staatliche Aktivitäten und Eingriffe zur Verfügung gestellte. Die anhaltende und für die Moderne konstitutive Spannung zwischen Entwurzelung und Freiheitsgewinn, zwischen immer wieder neu zu justierenden Ent-

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