Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Pfeile Im Nebel: Das Haar Der Schildkröte
Pfeile Im Nebel: Das Haar Der Schildkröte
Pfeile Im Nebel: Das Haar Der Schildkröte
eBook340 Seiten4 Stunden

Pfeile Im Nebel: Das Haar Der Schildkröte

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Nach seinem ersten Roman „Das Horn des Hasen“ erzählt uns Günther Bach nun den zweiten Teil der Geschichte um Rolf und Erhard. Auch in diesem Roman geht es wieder um die Faszination Bogenschießen, und um das Leben natürlich, das sich ständig verändert. Vor allem dann, wenn noch dazu eine Frau ins Spiel kommt.
Die Fortsetzungen dieser Geschichte heißen: "Gegen den Strom" (2008) und "Das unsichtbare Ziel" (2011).
SpracheDeutsch
HerausgeberHörnig, A
Erscheinungsdatum19. Apr. 2012
ISBN9783938921210
Pfeile Im Nebel: Das Haar Der Schildkröte
Autor

Günther Bach

Günther M. Bach, Jahrgang 1935, Architekt und Designer in Ostberlin. Auf der Sucher nach real existierenden Auswegen aus dem Sozialismus auf Umwege geraten - Malen, Schreiben und Bogenschießen.

Mehr von Günther Bach lesen

Ähnliche Autoren

Ähnlich wie Pfeile Im Nebel

Ähnliche E-Books

Allgemeine Belletristik für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Pfeile Im Nebel

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Pfeile Im Nebel - Günther Bach

    GÜNTHER BACH

    PFEILE IM NEBEL

    ODER DAS HAAR

    DER SCHILDKRÖTE

    ROMAN

    VERLAG ANGELIKA HÖRNIG

    Pfeile im Nebel

    oder

    Das Haar der Schildkröte

    von

    Günther Bach

    © 2004 Verlag Angelika Hörnig

    Alle Rechte vorbehalten.

    Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

    ohne Genehmigung des Verlags reproduziert

    oder vervielfältigt werden.

    Illustrationen: Günther Bach

    Zitat Seite 5: Hans Magnus Enzensberger,

    Vom Blätterteig der Zeit, aus:

    Die Elixiere der Wissenschaft © Suhrkamp Verlag

    Frankfurt am Main 2002

    Gedicht auf Seite 192: Hans Magnus Enzensberger,

    Das Einfache, das schwer zu erfinden ist, aus:

    Die Elixiere der Wissenschaft

    ©Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2002

    Wir danken für die freundliche Genehmigung.

    Umschlaggestaltung: AHA-Design

    nach einem Foto von Silke Lübbert

    © 2012 eBook

    ISBN: 978-3-938921-21-0

    Verlag Angelika Hörnig

    Siebenpfeifferstraße 18

    D-67071 Ludwigshafen

    www.bogenschiessen.de

    Offenbar sind die Zeiten vorbei,

    zu denen man glauben konnte,

    ein Leben auf der Höhe der Zeit

    ließe sich leben.

    Hans Magnus Enzensberger

    Denn das Leben gewährt keine Probeläufe,

    es findet statt – jetzt und hier.

    James Ogilvy

    1

    Bärger packte ein.

    Es war nicht viel, was er nach vier Jahren in der Firma in die beiden Bananenkisten zu stapeln hatte. Eigentlich, dachte Bärger, hätte ich das Alles gar nicht mehr mit mir herumschleppen müssen. Wann habe ich schon mal nachgesehen, na ja, Haustechnik war nie meine Stärke. Auch so eine Fehlinformation im Studium. Wie bei der Statik. Wie hatte der Professor gesagt – »Sie brauchen als Architekt von Statik nur soviel zu verstehen, dass Sie einem Statiker klarmachen können, was Sie von ihm wollen.«

    Jawohl, Herr Professor, deine Klausuren sahen dann aber ganz anders aus!

    War das lange her. Wie lange war das her?

    Bärger hob den letzten Bücherstapel aus dem Wandschrank. Hochbaukonstruktionen, Bauentwurfslehre, der gute alte Neufert. 33. Auflage seit 1936 – seit er sein Studium in Dresden begann, war das Buch dreimal so dick geworden. Neufert, der Mitarbeiter von Gropius, Maßordnung, Standards und Normen, aber eben auch Bauhaus und Beginn des industriellen Bauens.

    Wie verquer war doch all das verlaufen, wie sehr konnten blendende Ideen sich in ihr Gegenteil verkehren: Das Gropius-Konzept für die Siedlung in Dessau und der Plattenbau in Berlin, Hauptstadt der Tätärä.

    Und jetzt – die Tischleuchte von Wagenfeld, die Stahlrohrsessel von Breuer, Mies van der Rohe und Mart Stam, vor mehr als achtzig Jahren erdacht für den preiswerten Erwerb durch den normal verbrauchenden Bürger, heute die Nachbauten als exquisite Einzelstücke zu horrenden Preisen in den Ausstattungsläden der Schickeria.

    Bärger entfaltete den mehrseitigen auf Hochglanzpapier gedruckten Prospekt. Nicht einmal die Namen der Erfinder waren genannt. Da stand nur etwas von Top-Kreationen internationaler Designer – als ob sich der übrige Schrott mit den Leistungen von Mies und Mart Stam vergleichen ließe. Wie schön zeitgemäß dieser Nachsatz der Werbung: Ideal, um Ihre Liquidität zu erhöhen und Ihre Aufwendungen innerhalb kürzester Zeit steuerlich geltend zumachen! Hört sich doch viel besser an, als die These von Wagenfeld, dass die beste Eigenschaft der Dinge um uns her das Anspruchslose sein soll.

    Durch die offene Tür hörte Bärger die Fahrgeräusche des Aufzugs, der nach unten fuhr. Erst jetzt bemerkte er die Stille in dem alten Eckhaus, in dem zu DDR-Zeiten die Handwerkskammer ihren Sitz hatte. Er sah auf die Uhr, es war spät geworden. Beim Blick aus dem Fenster bemerkte er die kleine Espressomaschine auf der Fensterbank, die er fast vergessen hätte. Es war noch genug von dem schwarzen Pulver in der Blechdose und als er die kleine dickwandige Tasse unter den Auslauf schob und dem gurgelnden Geräusch beim Einlaufen des Kaffees lauschte, überkam ihn denn doch so etwas wie Bedauern, dass es wieder einmal zu Ende war.

    Es war eigentlich doch eine ganz schöne Zeit hier gewesen. Er mochte die großen Räume, die so hoch waren wie in den italienischen Renaissancepalästen.

    Neben der Zeichenlampe stand die Schachtel mit seinen Visitenkarten. Er nahm sie, hielt sie einen Moment in der Hand. Dann ließ er langsam den ganzen Stapel in den Papierkorb rutschen. Eine einzelne Karte mit dem roten Firmenlogo und der Aufschrift »Chefarchitekt« flatterte auf den Boden. Er hob sie auf, zögerte und steckte sie dann die Hemdtasche.

    Das war’s dann wohl, sagte Bärger laut.

    Er war schon an der Tür, als das Telefon klingelte.

    Bärger sah auf die Uhr, es war kurz vor zehn. Er schaltete die Zeichenlampe ein und griff nach dem Hörer.

    »Bärger«, sagte er, »ich bin überhaupt nicht mehr da.«

    Aber der Anrufer wollte es nicht zur Kenntnis nehmen.

    »Bist du immer noch da? Ich habe es schon bei dir zu Hause versucht – was machst du eigentlich um diese Zeit noch im Büro?«

    Es war Lothar, der Vorsitzende des Bauausschusses, gründlich und gewissenhaft wie immer. Hatte er schon wieder etwas vergessen? Bärger zog den Terminkalender unter den Lichtkegel der Lampe. Richtig, da stand es: Dienstag Besichtigung AKW, Termin 8 Uhr.

    »Hallo, Lothar«, sagte er »ich mache, was alle im Büro machen, ich trinke Kaffee. Nein, ohne Mist, ich habe hier meinen letzten Kram eingepackt und wollte gerade nach Hause fahren. Alles klar, morgen um acht auf dem Parkplatz. Also dann – bis morgen.«

    Er legte auf. Letztes Telefonat, dachte Bärger, hätte doch auch ein Wink des Schicksals sein können, ein Blick in die Zukunft. Dann schob er die beiden Kisten vor die Tür, schaltete die Lampe aus und verschloss die Tür.

    Wie hieß es doch in dem spanischen Sprichwort: Wenn die eine Tür sich schließt, öffnet sich eine andere.

    2

    Noch war Sommer.

    Aber schon begann das Laub der Sommerlinden gelb zu werden, färbten sich die Dolden der Ebereschen korallenrot und fielen die Äpfel am Morgen mit dumpfem Schlag in den taunassen Rasen.

    Warum hänge ich mich hier schon wieder rein, dachte Bärger, als er auf den parkenden Wagen zuging. Ich habe noch nicht mal meinen Tee ausgetrunken und überhaupt ist das Ganze ziemlich sinnlos - als könnte ich ein stillgelegtes AKW begutachten.

    Er hatte um Material gebeten, um Baupläne, aber außer einem Lageplan, den der künftige Investor beschafft hatte, war nichts zu erhalten gewesen. Es ist immer noch so, dachte Bärger, über Gebautes kann ich nur mit Papier und Bleistift in der Hand nachdenken.

    Die Wagentür schwang auf und Bärger hob grüßend die Hand, als Lothar ihm zuwinkte. Korrekt wie immer, im hellgrauen Anzug und frischgebügeltem Hemd, die Krawatte etwas zu bunt, aber präzise gebunden. Bärger sah an sich herunter. Wenigstens sauber waren die Jeans ja, aber zu dem leichten Blazer trug er nur ein offenes dunkelblaues Hemd.

    »Für wen hast du dich denn heute so fein gemacht,« wollte er wissen.

    Lothar grunzte verärgert und fuhr den Wagen aus der Parklücke, bog auf die Straße ein und fädelte sich geschickt in den dichten Verkehr in Richtung Außenring ein.

    Sie kannten sich lange genug, um eine Weile miteinander schweigen zu können.

    Der Wagen fuhr über eine Brücke und eine mannshohe Brüstung reflektierte die Fahrgeräusche durchs offene Seitenfenster. Danach begann eine lange Steigung. Bärger schob sich im Sitz hoch, als ihm die Sonne ins Gesicht zu scheinen begann. Er blinzelte, schob den Sicherheitsgurt zur Seite und sah auf die Straße, die nun schnurgerade auf die Kuppe des Höhenzuges führte.

    »Wie weit ist es eigentlich noch?«, wollte er wissen.

    »Halbe Stunde oder so«, knurrte Lothar und schaltete in den niedrigeren Gang, ohne zu kuppeln. Nie würde ich das machen, dachte Bärger. Früher habe ich sogar noch Zwischengas gegeben beim Runterschalten, so wie ich es beim LKW-Fahren mal gelernt hatte.

    Auf halber Höhe der Steigung wurde sichtbar, dass die Straße in weitem Bogen nach Westen schwenkte und eine Weile der Kammlinie folgte. Von oben fiel der Blick auf eine grüne Hügellandschaft mit einzelnen Baumgruppen. Am Horizont zeichnete sich das dunkle Band eines Nadelwaldes ab, hinter dem sich in gestuften Blautönen eine Reihe sanft gerundeter Berge staffelten.

    Er sah nach vorn, als Lothar unvermittelt in einen Abzweig hineinfuhr und kurz darauf der Wagen in den Schatten eines Kiefernwaldes tauchte.

    »Jetzt sind wir gleich da«, sagte Lothar, und als der Blick wieder frei wurde, sah Bärger in der Ferne hinter einem langgestreckten Flachbau die Kuppel des Kernreaktors.

    Seitlich davon, auf einer kleinen Anhöhe, stand eine Gruppe von vier Kühltürmen, strahlend weiß gegen das tiefe Blau des Himmels.

    »Was wirst du jetzt eigentlich machen?«

    Bärger ließ sich tiefer in den Sitz rutschen und blickte zu Lothar, der konzentriert auf die Straße schaute. Licht und Schatten wechselten in rascher Folge im Rhythmus der großen Eschenbäume auf beiden Seiten der Fahrbahn.

    Noch bevor der Geschäftsführer ihm die Kündigung auf den Tisch gelegt hatte, war ihm wiederholt das Angebot gemacht worden, weiterhin als freier Mitarbeiter bei der Firma zu verbleiben. Er wusste, warum. Sie brauchten ihn wegen der Zulassungsnummern in vier Bundesländern. Es ging um seinen Stempel, um die Vorlageberechtigung bei den Bauämtern, weil von seinen Mitarbeitern noch niemand die Zulassung der Architektenkammer besaß. Auch als sie ihm Geld anboten für Unterschrift und Stempel hatte er nur gegrinst und den Kopf geschüttelt. Sie werden schon noch jemand anderen dafür finden, hatte er gesagt, und war gegangen.

    Was würde er jetzt machen?

    »Ich habe mich erst mal als freier Architekt bei der Kammer eintragen lassen. Mal sehen, wie ich so zurecht komme. Für ein halbes Jahr habe ich noch mit einem Umbau zu tun und danach kann ich zumindest Bauüberwachung machen. Das ist zwar nicht mein Traumziel, aber man kann davon leben. Ich bin mit einem Statiker befreundet, der froh ist, wenn ich ihm etwas abnehmen kann.«

    Am Rande einer Neubausiedlung standen auf einer von hohen Pappeln gesäumten Wiese die bunten Scheiben einer Bogenschießanlage.

    »Hast du gesehen?« Lothar wies mit der Hand auf die ein wenig verwildert aussehende Anlage, deren Scheibenauflagen aber noch neu und wenig benutzt schienen.

    »Ja doch«, sagte Bärger.

    »Warst du nicht selber mal Bogenschütze?«, wollte Lothar wissen.

    »Oh ja«, sagte Bärger und nickte mehrmals mit dem Kopf,

    »oh ja, das war ich.«

    »Und warum hast du damit aufgehört?«

    Bärger schwieg eine Weile.

    »Das ist keine gute Frage«, sagte er dann, »darüber müsste ich erst mal nachdenken.«

    Wieder bog der Wagen ab auf eine betonierte Fahrbahn, es war die Zufahrtstraße zum AKW:

    Obwohl seit Jahren stillgelegt, sah die ganze Anlage von Weitem erstaunlich gut erhalten aus. Ein dreigeschossiger Verwaltungsbau, dahinter die große Turbinenhalle, gleich daneben die Kuppel des Reaktors. Aber alles wurde überragt von der Vierergruppe der riesigen Kühltürme, die auf einer faltbandartigen und fast ornamental anmutenden Stützenreihe zu schweben schienen. Als ob sie mehr festgehalten als getragen werden müssten, dachte Bärger. Er spürte eine intensive Anziehung, einen förmlichen Sog beim Anblick der völlig maßstablosen geschwungenen Flächen, ein Gefühl, wie er es ähnlich beim ersten Anblick der Kapelle von La Ronchamp empfunden hatte.

    Lautlos rollte der Wagen aus, hielt im Schatten einer Birke, während Bärger sich nicht von diesem Anblick lösen konnte. Die Stimme der Stadträtin riss ihn aus einem Zustand versunkener Betrachtung.

    »Die stehen überhaupt nicht auf unserem Programm!«

    Sie kam auf ihn zu, elegant wie immer, strahlte Frische aus und Energie. Ihre brandroten Haare waren in sorgfältiger Unordnung und ihre roten Pumps klapperten auf dem unpassend groben Beton. Hatte sich Lothar ihretwegen so in Schale geschmissen? Halt jetzt bloß das Maul, dachte Bärger, grinste freundlich und griff nach der dargebotenen Hand. Hinter ihr kam mit grämlichem Gesicht der ‘schwarze Robert’, wie Bärger den Mann von der PDS-Fraktion wegen seiner Vorliebe für schwarze Klamotten und seines ebenso schwarzen Vollbartes nannte.

    Erst jetzt sah er ihren Wagen hinter dem verwilderten Gebüsch, das den ehemaligen Firmenparkplatz umgab.

    Müssen mal eine Menge Leute hier gearbeitet haben, dachte Bärger. Er hatte sich immer vorgestellt, ein Atomkraftwerk würde mehr oder weniger automatisch oder doch nur mit einem Minimum an Personal betrieben. Auch das schien wieder mal ein Irrtum zu sein, denn offenbar war ein weit höherer Arbeitsaufwand für den Betrieb erforderlich, als aus überwiegender Wartung und Überwachung zu erwarten gewesen wäre.

    Jetzt jedenfalls war alles menschenleer und still. Über den Dächern des Verwaltungsgebäudes begann die Luft in der zunehmenden Hitze bereits zu flimmern.

    Hallend fiel eine Tür ins Schloss. Aus dem Verwaltungsbau kamen zwei Männer auf sie zu. Durch das offenstehende Tor neben dem unbesetzten Pförtnerhaus gingen sie den beiden entgegen. Halblaut sagte die Stadträtin die Namen der Männer, Investor und Makler, wie sich bei der Vorstellung zeigte. Ihre beiden Daimler standen im Schatten der Turbinenhalle, natürlich, sie trugen Krawatten zu weißen Hemden, natürlich, und die goldenen Uhren, die unter den weißen Manschetten sichtbar wurden, als sie die schwarzledernen Pilotenkoffer anhoben, waren Rolex, natürlich.

    Wieso finde ich das eigentlich natürlich, dachte Bärger, es ist durch und durch unnatürlich. Allein, dass ich selber schon diese Statussymbole wahrnehme, dass ich weiß, wie eine Rolex aussieht, ist der Anfang einer Akzeptanz dieser absurden Gesellschaftsspiele.

    Er sah einem Sperber nach, der über die Wiese nahe den Kühltürmen strich, rüttelnd verharrte und sich dann mit angelegten Schwingen fallen ließ. Kurz über dem hohen Gras breitete er die Flügel aus, fing den Sturzflug ab und stieß, die gespreizten Fänge voran, zwischen die dichten Halme.

    Als Lothar nach ihm rief, war die Gruppe schon fast an der Tür.Bärger warf einen letzten Blick auf den Sperber, der inzwischen in Richtung des Waldes abstrich. Dann drehte er sich um und ging ihnen nach.

    Es war verabredet, dass er an der Beratung nicht teilnehmen, sondern in dieser Zeit auf einem Rundgang durch Turbinenhalle und Verwaltungsgebäude eine Einschätzung des Bauzustandes vornehmen sollte. Er hatte erklärt, dass durch eine bloße Inaugenscheinnahme – keiner hatte an dem Begriff Anstoß genommen – nur eine sehr vorläufige Bewertung vorgenommen werden könne. Es waren aber alle darin übereingekommen, dass in dieser Phase der Verhandlung eine Übersicht über mögliche vorhandene Schäden völlig ausreichend sei. So hatte Bärger denn Kamera und Lasermessgerät an den Gürtel gehängt, das Notizbuch in die Hemdtasche geschoben und sich für anderthalb Stunden, wie er meinte, auf den Weg gemacht.

    Da er bereits in dem Verwaltungsbau war, beschloss er, dort zu beginnen.

    Zweibündige Anlage, trug er ein, Geschosshöhe 2,80 m, Abmessungen etwa 15 x 60 m, Flachdach – ich muss mir unbedingt die Dachdeckung ansehen. Bärger machte eine flüchtige Skizze, suchte und fand Messpunkte für den Entfernungsmesser und trug schließlich, zufrieden mit seiner Schätzung, die genauen Außenmaße ein. Am Giebel der Nordseite fand er eine Kellertreppe mit verschlossener Stahltür; den Lichtschächten nach zu urteilen war etwa ein Viertel des Baus unterkellert. TGA – Räume, dachte Bärger, Hausanschluss, Heizung, Elektro mit Stark- und Schwachstrom. Na ja, dachte er beim Blick auf den riesigen Reaktor, Energie müsste wohl immer ausreichend vorhanden gewesen sein.

    Er sah sich den Sockelbereich an und fand auch hier keine Schäden aus aufsteigender Feuchtigkeit; der Putz war trocken und rissfrei. In der Kiesschüttung rings um das Gebäude wucherten dicke Polster von gelbem Mauerpfeffer.

    An der Wetterseite war die Farbe der ehemals weißen Fassade ein wenig vergraut, Rotznasen hatten sich vom herablaufenden Wasser zu beiden Seiten der Sohlänke gebildet, aber das war alles normal und im Rahmen des üblichen Verschleißes. Rinne und Fallrohre waren intakt, nur in der Nähe des Südgiebels stand reglos in der Spätsommersonne ein kleine Birke auf dem Dach. Bei ihrem Anblick fiel Bärger die Dachdeckung ein und er stieg in dem halligen Treppenhaus hinauf in die dritte Etage, um nach einem Dachausstieg zu suchen. Als er gedankenlos nach dem Handlauf griff, wirbelte er eine Wolke grauen Staubes auf

    Er fand den Ausstieg am Ende des Flures in Form in der Wand eingelassener Steigeisen, die zu einer Luke in der Decke führten.

    Es war nicht schwer, den Deckel anzuheben, der durch eine Kette gesichert wurde und einen Moment später stand Bärger auf dem Dach. Er sah sich um. Die Deckschicht war eine hellbunte Kiesschüttung und trug erstaunlich wenig Bewuchs, wenn man von vereinzelten Polstern des Mauerpfeffers und der kleinen Birke am Giebel absah.

    Die Anschlüsse an die Außenwände waren fehlerfrei, ebenso die Verkleidungen der Abluftrohre und Schächte – soweit erkennbar, notierte er einschränkend in sein Notizbuch. Dann schob er das Notizbuch zurück in die Tasche, setzte sich auf die blechverkleidete Haube des Abluftschachtes und schaute sich um.

    Der Sperber war längst verschwunden, aber hinten am Waldrand schien ein großer Raubvogel zu kreisen.

    Wie still es hier ist, dachte Bärger.

    Er sah hinüber zu den Kühltürmen, die auch aus dieser Höhe noch als gestaltgewordene Mathematik seinen Standort weit überragten. Er würde hinübergehen, war Bärger sich sicher, auch wenn er nicht genau sagen konnte, warum. Aber vorher musste er sich wohl noch die Turbinenhalle ansehen.

    Nach einem letzten Blick in die Runde stieg Bärger zurück in den Schacht, sicherte die Luke hinter sich und machte sich auf den Weg.

    Wie erwartet, war auch die Schlupftür in dem riesigen Schiebetor unverschlossen. Er zog die schwer gängige Tür hinter sich zu. In der leeren Halle war das Geräusch wie ein lauter Schuss. Mit klatschendem Flügelschlag flatterten zwei Tauben von einem der stählernen Dachbinder auf und flogen nebeneinander aus einem der offenstehenden Fenster unterhalb des Kranbahnträgers. Staub flimmerte in den Lichtbalken, die durch die Oberlichtbänder in die Halle fielen.

    Nichts erinnerte mehr an die Maschinen, die hier gestanden haben mussten. Vielleicht war zwischenzeitig schon eine andere Nutzung geplant worden und nicht zur Ausführung gekommen, denn nicht nur die Wände sahen wie frisch geweißt aus, sondern auch der mit Steinzeugfliesen belegte Boden zeigte keine merklichen Schäden. Bärger suchte nach Spuren der Maschinenfundamente, konnte aber außer einigen Unregelmäßigkeiten im Fugenbild der Platten nichts entdecken. Selbst die Kranbahn im östlichen Hallenschiff schien noch vorhanden. Aber soweit, auch deren Zustand zu untersuchen, ging seine Neugierde nicht.

    Bärger notierte seinen Befund und auch die Vermutung, dass hier bereits vorbereitende Maßnahmen einer neuen Nutzung vorgenommen wurden. Das Dach werde ich mir schenken, dachte er, nachdem er einen Blick auf die Uhr geworfen hatte. Es zog ihn zu den Kühltürmen.

    3

    Wenig später verließ er die Halle, trat blinzelnd in den gleißenden Sonnenschein zurück, ging über den Werkhof und dann durch das hohe Gras den Türmen entgegen, als seien sie das eigentliche Ziel der Fahrt gewesen. Sie standen, wie sich beim Näherkommen zeigte, auf einer kleinen Anhöhe innerhalb des Firmengeländes, das von einem hohen Drahtzaun noch immer lückenlos umschlossen wurde. Reste eines von tiefen Radspuren zerfurchten Weges wurden unter dem Gras sichtbar.

    Bärger folgte ihm bis auf ein Plateau, das scheinbar für den Bau der Türme planiert worden war.

    Die Einbauten schienen auch hier längst entfernt zu sein. Jedenfalls konnte er zwischen den Stützenbändern hindurch, deren Höhe er auf ungefähr drei Geschosse schätzte, auf der anderen Seite das Gras der sonnenbeschienenen Wiese erkennen. Der Neigungswinkel der Stützen schien die Hyperbelkurve der Turmwände bis auf den Boden zu verlängern. Er sah hinauf zum oberen Rand des Turmes und ihn befiel ein Schwindel, weil sein Auge keinen Halt fand an der riesigen gewölbten Fläche, die sich vor ihm erhob.

    Bärger ging näher heran, stieg auf den Rand des Ringfundamentes und trat dann zwischen den Stützen hindurch ins Innere des Kühlturms.

    Trotz der immensen Größe des Raumes, innerhalb dessen er plötzlich stand, empfand er Beklemmung und Unsicherheit. Nein, nicht trotz, sondern wegen dieser enormen Ausmaße, wurde ihm schlagartig klar. Das Unmenschliche dieses riesigen Schlotes bestand ja wirklich im Fehlen jeden menschlichen Maßstabs. Er blickte nach oben, wo der glockenförmige Schacht sich in den blauen Sommerhimmel öffnete. Die Sonne schien in einem steilen Winkel durch die kreisrunde Öffnung, zeichnete einen scharf begrenzten Lichtschein auf die gegenüberliegende Innenwand und bis auf den Boden. Bärger versuchte, die Grenzlinie dieses leuchtenden Flecks, der aus der Deformation eines Kreises aus Licht bestand, dessen Strahlen auf die Innenseite einer Glocke aus Beton fielen, als geometrische Konstruktion nachzuvollziehen, aber es wollte ihm nicht gelingen. Es überstieg sein Vorstellungsvermögen.

    Er griff nach der Kamera, um diese Figur wenigstens zweidimensional zu erfassen, aber der Weitwinkel reichte nicht aus für die Wiedergabe des gesamten Bildes. Der Gedanke, dass sich dieser Raum seiner messenden Wahrnehmung entziehen wollte, brachte ihn dazu, nach dem Lasermessgerät zu greifen. Da die gegenüberliegende Seite in hellem Sonnenschein lag, ging Bärger einige Schritt zur Seite, bis er meinte, gegenüber den roten Messpunkt im Bereich des Eigenschattens der Turmwand erkennen zu können. Er pfiff durch die Zähne. Das Display zeigte, was sein Auge verweigert hatte – ein genaues Maß von 42,53 m. Er versuchte mehrfach, den oberen Rand anzupeilen und glaubte schließlich der dritten Messung, die genau 53 m auswies.

    Die Höhe am unteren Rand des Glockenmantels, den das schrägstehende Stützenband abfing, lag bei vier Metern, war also weit mehr als ein normales Geschoss hoch. Er stellte verwundert fest, dass es nichts mehr zu messen gab und gleichzeitig, dass diese Maße ihm nicht weiterhelfen konnten bei dem Versuch, diesen Raum zu erfassen.

    Auch wenn er nicht recht wusste, warum, schrieb er die Maße in sein Notizbuch, schob die Hände in die Taschen der Jeans und begann, mit gleichmäßigen Schritten das Rund des Kühlturms abzuschreiten. Am Ausgangspunkt angekommen hatte er 220 Schritte gezählt, was mit der Messung übereinstimmen konnte. Auf einer begrenzten Teilfläche des glatten Betons, der sich innerhalb des Ringfundaments als ein flaches Becken absenkte, lagen kleine Haufen blauschwarz glänzender Schlacken, Reste von Schweiß- oder vielmehr Schneidarbeiten an Stahlteilen. Auch die Stellen, an denen beim Abtransport von sperrigen Teilen der eigentlichen Kühlanlage die Kanten der Stützen beschädigt wurden, waren unübersehbar. Aber außer einer zerbrochenen Holzpalette und dem mumifizierten Balg einer Saatkrähe war der riesige Raum leer.

    Langsam ging Bärger bis in die Mitte, sah sich im Kreis um, dann nach oben und hatte plötzlich das Gefühl, dies runde Loch da oben, das in den Himmel zu führen schien, sei der eigentliche Ausgang. Eine Wolke schob sich über den Turmrand und wieder empfand er leichten Schwindel, weil seine Augen nicht unterscheiden konnten, ob Wolke oder Turm sich bewegte. Er setzte sich, wo er stand, an einem Punkt, den er für das Zentrum hielt, legte sich dann auf den Rücken und starrte in die Höhe, bis ihn die Augen schmerzten.

    Als er die Augen schloss, hörte er das Geräusch des Windes. Er blieb eine Weile so liegen, bis er sich einer neuen Empfindung bewusst wurde: Ihm war, als würde er leichter und leichter, biser zu schweben begann. Unendlich langsam begann sein Körper zu kreisen, während er ebenso langsam höher und höher stieg, der Öffnung ins Licht entgegen.

    Bärger fuhr auf, schüttelte heftig den Kopf und stellte sich breitbeinig aufrecht, bis das Gefühl des Taumelns sich verlor. Als er den Klang der Autohupe hörte, der sich mit kurzen Pausen wiederholte, wurde ihm klar, was ihn aus diesem seltsamen Wachtraum gerissen hatte. Er empfand ein Gefühl der Erleichterung, als er nicht allzu eilig zurückging zu den Anderen, die schon wartend bei den Wagen standen. Kurz vor dem Parkplatz aber drehte er sich noch einmal um.

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1