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Hurricane: Vom Co-Autor von The Walking Dead
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eBook375 Seiten5 Stunden

Hurricane: Vom Co-Autor von The Walking Dead

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Über dieses E-Book

New Orleans 2005: Hurricane Katrina tobt durch die Stadt. Moses de Lourde bleibt in seinem Haus im French Quarter. Mit den Gefahren des Sturms hat er gerechnet, doch nicht mit dem, was dann an seine Türe klopft. Als FBI-Profiler Ulysses Grove nach dem Sturm den Leichnam seines Freundes sieht, ist ihm sofort klar, dass Moses nicht das letzte Opfer sein wird …
SpracheDeutsch
HerausgeberCBX Verlag
Erscheinungsdatum30. Apr. 2015
ISBN9783945794579
Hurricane: Vom Co-Autor von The Walking Dead

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    3/5
    The city of New Orleans has more than a hurricane to worry about - a killer is at work and he has done it before. This time it's personal for Special agent Ulysses Grove. The victim was a personal friend, a respected Tulane professor and an expert on ancient histories. One of those ancient histories is very much alive and looking for sacrifices.

    The book was okay but I don't think I will waste anymore good reading hours on them.

Buchvorschau

Hurricane - Jay Bonansinga

Opfer.

Teil 1

Opfergaben

Wenn ein normaler Hund mit einem verrückten Hund

kämpft, ist es der normale Hund, dem ein Ohr abgebissen

wird.

Burmesisches Sprichwort

Kapitel 1

«Waren Sie schon mal in New Orleans?»

Der alte Mann hinter dem Lenkrad versuchte, Konversation zu machen und die düstere Stimmung im Inneren des verbeulten Kleinbusses, der wild schwankend über den schlaglochübersäten Asphalt des nächtlichen Highways holperte, ein wenig aufzuhellen. Er war ein dunkelhäutiger Mann kubanischer Herkunft, dessen Alter man nur schwer schätzen konnte. Beim Fahren schielte er immer wieder hinüber zu dem Herrn, der stocksteif neben ihm auf dem Beifahrersitz saß.

Der gutaussehende und elegant gekleidete Afroamerikaner hatte seit seiner Ankunft am Flughafen von New Orleans so gut wie überhaupt nichts gesagt. In seinem edlen Burberry-Trench-coat, aus dessen Kragen ein tiefschwarzer Seidenschal hervorlugte, wirkte er so starr und unnahbar wie eine Schaufensterpuppe. Der Tod des Professors steckte ihm offenbar noch in den Knochen, und man merkte ihm an, dass ihm dieser plötzliche und unerwartete Verlust schwer zu schaffen machte. Man sah es in den mandelförmigen, kaffeebraunen Augen des Mannes, die mit ihren fast feminin wirkenden Wimpern und Augenbrauen auf den ersten Blick wie die eines Filmstars wirkten. Erst bei längerer Betrachtung verrieten sie tiefsitzende Ängste und schmerzhafte Erfahrungen, über deren Natur der Fahrer nur Vermutungen anstellen konnte.

«Ja, mehrmals», antwortete Ulysses Grove, während er nachdenklich durch das mit Regentropfen dichtbesprenkelte Seitenfenster blickte. Sie hatten soeben den Flughafen verlassen, auf dem noch längst nicht alle Hurrikanschäden repariert waren, und fuhren nun durch eine Gegend, die ihm wie ein gottverlassener, unentdeckter Planet am Rand eines unbewohnbaren Sonnensystems vorkam. Im Schein der nur sporadisch funktionierenden Natriumdampflampen waren überall die Auswirkungen der letzten großen Flut zu erkennen.

Vor Katrina – oder v. K., wie die Einwohner von New Orleans die Zeit vor dem verheerenden Wirbelsturm im Jahr 2005 bezeichneten – war diese Gegend am Highway 10 ein geschäftiges, modernes Industriegebiet gewesen. Nun waren die immer noch halb im Wasser stehenden Lagerhäuser und aufgegebenen Fabriken seit Monaten verlassen und moderten inmitten einer toten, verseuchten Schlammfläche vor sich hin.

«Das erste Mal war ich vor vielen Jahren im Auftrag der Army hier», sagte Grove mit leiser Stimme.

Er dachte an seine längst vergangene Zeit bei der Armee, in der er als Ermittler bei der Kriminalabteilung der Militärpolizei gedient hatte. Damals war er für ein paar Tage nach New Orleans gekommen, um die Familie eines Deserteurs zu befragen. Es war eine Routineaufgabe gewesen, aber Grove hatte in den paar Tagen die Stadt ziemlich gut kennen- und irgendwie auch lieben gelernt, obwohl er gegen ihre eher ausschweifenden Vergnügungen von Anfang an eine gewisse Abneigung verspürt hatte.

New Orleans war ihm wie eine kokette, aufgetakelte Hure vorgekommen, und sie war es nach wie vor-trotz der ihr auferlegten Prüfungen des Hurrikans und der später folgenden, eher kosmetischen Reparaturen. Dennoch war Ulysses Grove die Crescent City seit seinem Aufenthalt im Jahr 1987 ans Herz gewachsen. Vielleicht, weil sie einen Teil seiner Seele berührt hatte, dessen Existenz er sonst gründlich verdrängte.

Ulysses Grove war ein Meister der Verdrängung. Nur so konnte er all das Grauen vergessen, mit dem er es in seinem Beruf immer wieder zu tun hatte. Auch seinen Schmerz und seine Trauer verdrängte er zumeist. Als vor etwas mehr als fünf Jahren seine Frau Hannah ihrem Krebs erlegen war, hatte er den Schmerz verdrängt, und jetzt, angesichts von de Lourdes Tod, war es nicht anders. Vielleicht war er deshalb in so tiefe Melancholie versunken, und der Anblick des noch immer von Katrina verwüsteten New Orleans kam ihm wie ein Spiegel seiner verletzten Seele vor.

«Ah, ein Soldat!», rief der Fahrer aus und hob erfreut die buschigen, leicht ergrauten Augenbrauen. Miguel Lafountant, ein alter Freund und Kollege von de Lourde, war von Beruf Musikprofessor an der Tulane University, auch wenn er in seinem Leopardenjackett eher wie ein Zuhälter aussah. Im fahlen Licht der Amaturenbrettbeleuchtung sah sein weiches, rundliches Gesicht düster und faltig aus. «Hast du das gehört, Delilah?», sagte er in stark kreolisch gefärbtem Akzent zu der Frau auf der Rückbank, die ein laszives Kichern hören ließ. «Unser Gast war bei der Army! Was muss der für einen feschen Soldaten abgegeben haben!»

«Ach Gottchen», lachte die Frau mit einer tiefen, rauchigen Stimme. «Für den hätte ich bestimmt ein Auge riskiert.»

Grove drehte sich zu der Frau um, aber er hatte Mühe, ihr Gesicht im dunklen Wageninneren zu erkennen. Nur hin und wieder warf eine der wenigen noch funktionierenden Straßenlaternen einen kurzen Lichtschein auf ihre statuenhafte Gestalt. Delilah Debuke war eine groß gewachsene, farbige Amazone mit hoch auftoupierten, rabenschwarzen Haaren, die in pailettenbesetztem Top und Federboa sehr beeindruckend wirkte, auch wenn Grove schon auf den ersten Blick erkannt hatte, dass sie in Wirklichkeit ein Er war.

Grove musste lächeln. In seiner langjährigen Tätigkeit als Profiler beim FBI hatte er es mit so vielen Grenzbereichen menschlichen Verhaltens zu tun gehabt, dass er Drag Queens, Transvestiten und Transsexuelle als harmlose, spleenige Exzentriker ansah. Auch die gelegentlichen Annäherungsversuche schwuler Männer fasste er regelrecht als Kompliment auf.

Hier in New Orleans, der Stadt des Professors, wo verfallene Friedhöfe heruntergekommenen Stripclubs den Platz streitig machten und die Gespenster der Vergangenheit wie Absinth aus den Sprüngen im alten Kopfsteinpflaster emporstiegen, kam Grove all das fast normal vor. Professor de Lourde hatte die Crescent City geliebt, den Big Easy, wo Katrinas Fluten sich in den Flanken der Gebäude eingeätzt hatten wie die Brandzeichen einer uralten, grauenvollen Apokalypse. Je länger Grove daran dachte, desto schwerer wurde ihm ums Herz.

«Haben Sie je mit dem Professor zusammengearbeitet?», fragte die rauchige Stimme von der Rückbank und riss Grove aus seinen düsteren Gedanken. «An irgendeinem brutalen Mord vielleicht?»

«Ja, letztes Jahr», antwortete Grove. «Kurz vor Katrina. Der Professor hat mir bei einem äußerst schwierigen Fall geholfen.»

«Und haben Sie den Täter geschnappt?»

«Haben wir.»

«Gut so.»

Wenn man darüber nachdachte – und Grove dachte ziemlich häufig darüber nach –, war es schon ein merkwürdiger Zufall, dass Katrina wenige Tage nach dem Abschluss des Sun-City-Fal-les über New Orleans hereingebrochen war. Als hätten sich die Schleusen des Himmels geöffnet und die obere Atmosphäre von einer bösartigen Kraft gereinigt, die dort lange Zeit vor sich hingeschwärt hatte. Die Folge war die schlimmste Naturkatastrophe gewesen, die jemals die Vereinigten Staaten heimgesucht und unzähligen Menschen auf tragische Weise das Leben genommen hatte. Katrina hatte dem Land eine seiner tiefsten Wunden geschlagen, die noch immer nicht verheilt war, und für Grove war der Sun-City-Fall eine persönliche Katastrophe gewesen, ein Wendepunkt in seinem Leben, der sein gesamtes Wertesystem erschüttert hatte.

Zunächst hatte alles angefangen wie viele andere Fälle auch: An verschiedenen Orten im Mittleren Westen waren Leichen gefunden worden, die allesamt durch tiefe Schnittwunden im Genick getötet und postmortem in bestimmte Haltungen gebracht worden waren. Aber was für grausige Dimensionen der Fall wirklich hatte, war Grove erst während eines Urlaubs in Alaska klargeworden. Er hatte dort ein entlegenes Labor besucht, in dem gerade eine sechstausend Jahre alte, von Bergsteigern auf einem Gletscher gefundene Mumie untersucht wurde. Das für Grove Seltsame und Unerklärliche an ihr war gewesen, dass sie bis ins letzte Detail hinein dieselben Verletzungen aufgewiesen hatte wie die Opfer des Serienmörders, dem Grove seit Monaten erfolglos auf der Spur gewesen war.

Von da an war der Sun-City-Fall so seltsam geworden, dass Grove schließlich Professor de Lourde hinzugezogen hatte.

Ihre erste Begegnung hatte sich im Bankettsaal eines Hotels in San Francisco zugetragen, wo der Sun-City-Mörder erneut zugeschlagen hatte. De Lourde war Mitglied eines Stabes von Wissenschaftlern gewesen, der für Grove eine Verbindung zwischen den Morden des Serientäters und einer Reihe von ähnlichen, vor Tausenden von Jahren verübten Bluttaten erarbeitet hatte, und war in vielerlei Hinsicht an der Ergreifung des Täters, eines Buchhalters namens Richard Ackerman, beteiligt gewesen.

Gemeinsam mit Grove hatte er die Theorie aufgestellt, dass Ackerman von einem Wesen, so alt wie die Mumie aus dem Eis, besessen war, und als der Fall schließlich auf einem zerklüfteten Felsenberg in Alaska sein Ende gefunden hatte, war dieses Wesen aus dem sterbenden Mörder in Ulysses Grove gefahren.

Nach wie vor war sich der Profiler nicht sicher, was an jenem Tag wirklich geschehen war, aber eines wusste er genau: dass Moses de Lourde der Reinigungszeremonie, mit der ihm diese bösartige Energie wieder ausgetrieben worden war, von Anfang bis Ende beigewohnt hatte. Der Professor war dabei gewesen, als man ihm damals in Tom Geisels Hütte tief im Wald die Seele gerettet hatte – und vielleicht auch den Verstand.

«Er hat mir vermutlich mehr geholfen, als es mir bewusst war», murmelte er leise, während er durch die regennasse Windschutzscheibe nach vorn starrte. «Der Professor war ein außergewöhnlicher Mann.»

«Er war immer so stolz darauf, dass er Katrina überlebt hat», ließ die Drag Queen von der Rückbank vernehmen.

Grove fragte Miguel und Delilah, ob sie selbst während des Sturms in der Stadt geblieben wären.

«Ich war in null Komma nichts von hier weg», antwortete die Drag Queen und betrachtete eingehend ihre lackierten Fingernägel. «Mir braucht kein Bürgermeister zu sagen, wann ich die Fliege machen muss.»

«Ich habe auch das Weite gesucht», sagte der Fahrer nicht ohne einen Anflug von Scham in der. Stimme. «Mir persönlich hat Camille im Jahr 69 vollauf gereicht. Damals war ich gerade als Assistent an die Uni gekommen, und es war einfach fürchterlich. Aber gegen Katrina war Camille nur ein Stürmchen.»

«Als wir wieder zurückkamen, war nichts mehr da», sagte Delilah, deren Stimme seltsam mitgenommen klang. «Von meinem Haus in der Napoleon Avenue haben nur noch ein paar Kamine aus dem Wasser geragt. Das Dach war einfach eingestürzt, und als das Wasser wieder weg war, haben sie unter dem Gebälk meine Vermieterin gefunden. Von der war nicht mehr viel übrig.»

Grove sprach ihr sein Beileid aus.

«Damals sind viele umgekommen», fuhr Delilah fort. «Aber der alte Moses hat überlebt. Hat den Sturm im French Quarter durchgestanden, eisern und unbeugsam wie die Jungfrau von Orleans. Moses hatte immer schon einen Sinn fürs Dramatische. Er hat gesagt, er würde im Haus bleiben, und wenn es von der Flut hinaus in den Golf gespült würde.»

«Ist ihm was passiert?», fragte Grove.

«Moses hatte Glück. Das Quarter steht auf einem Sandhügel und ist der höchste Punkt in der ganzen Stadt. Die meisten der alten Häuser dort haben den Sturm überstanden.»

Miguel Lafountant ließ ein trauriges Kichern hören. «Ich bin ein paar Wochen nach Katrina zurück in die Stadt gekommen, nachdem sie die Brücke wieder repariert hatten», sagte er. «Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich Moses wieder getroffen habe. Er saß in Riley’s Bar in der Bourbon Street, genau da, wo wir uns vor dem Sturm voneinander verabschiedet hatten. Wie aus dem Ei gepellt in Leinenjackett und Seidentuch, schlürfte er seinen Sour Mash, als wäre nichts geschehen. Soviel ich weiß, hat das Riley’s auch während der Flut nicht zugemacht.»

Grove seufzte leise. «Ich kann es einfach nicht glauben, dass er tot ist», sagte er. «lrgendwie will mir das nicht in den Kopf.»

Eine Weile fuhren sie schweigend.

Als sie sich dem Central Business District näherten, tauchten am Horizont die Lichter der Altstadt auf. Nach schmerzlichen Monaten voller Anarchie, Verfall, Wiederaufbau und Trockenlegung klammerte sich die alte Crescent City noch immer wie eine hartnäckige Miesmuschel an ihre schlammige Halbinsel zwischen dem Lake Ponchartrain und dem Mississippi. Ein Jahr nach Ka-trina standen manche Teile der Stadt noch immer unter Wasser, und überall sah man die filigranen Gittermasten von Kränen, die neben eingestürzten Häusern und enthaupteten Kirchtürmen in den düsteren Himmel ragten.

Aus dem feuchten Boden stieg ein fauliger Gestank auf, der Gestank von Schimmel und Fäulnis, in den sich Methangas aus dem Sumpf mit den Ausdünstungen verschmutzter, müllverseuchter Kanäle mischte und der vom süßlichen Geruch der Industrie nach Malz, Fett und verbranntem Zucker nur unzureichend überdeckt wurde.

Sie bogen in die Canal Street ab, eine mehrspurige Straße mit Straßenbahngleisen, auf der überall abgerissene Äste herumlagen. Schwer zu sagen, ob sie Überbleibsel von Katrina oder vom letzten Wirbelsturm waren, der die Stadt erst vor ein paar Tagen heimgesucht hatte. Bald bogen sie nach Osten ins French Quarter ab. Hier, wo die Reifen des Kleinbusses über hundert Jahre altes, regennasses Kopfsteinpflaster ratterten, waren die Häuser älter und die Straßen schmaler. Altmodische Gaslaternen flackerten hinter einem Vorhang aus feuchtem Dunst. Grove kurbelte sein Fenster herunter und ließ die Luft herein, die so muffig roch wie ein übervoller Wäschekorb. Überall auf den Gehsteigen lag vom letzten Sturm verwehter Müll herum.

«Ich weiß es wirklich zu schätzen, dass Sie mich vom Flughafen abgeholt haben», unterbrach Grove schließlich das lange Schweigen. «Besonders an einem traurigen Tag-»

Er hielt inne, weil er bemerkte, dass der alte Kubaner leise vor sich hin weinte. Seine Schultern zitterten, und dicke Tränen liefen ihm über die zerfurchten Wangen.

«– wie diesem», beendete Grove seinen Satz. Am nächsten Tag würde der Professor bestattet werden, und die gedrückte Stimmung, die über der sturmgebeutelten Stadt lag, machte Groves Gefühl von Verlust und Hoffnungslosigkeit noch schlimmer.

Auch der Transvestit auf dem Rücksitz kämpfte mit den Tränen. «Die Sache stinkt zum Himmel», stieß er hervor.

Das war nun wirklich seltsam, dachte Grove. Er drehte sich zu Delilah um, und auf einmal sah er in ihrem vom Licht der vorbeiziehenden Straßenlaternen nur sporadisch beleuchteten Gesicht einen Ausdruck, den er bisher noch nicht an ihr bemerkt hatte, den er aber nur allzu gut kannte. Im Lauf der Jahre hatte er gelernt, was diese hin und her huschenden Blicke aus tränenfeuchten Augen bedeuteten. Er hatte es an Zeugen, Tätern und den Angehörigen von Opfern beobachtet: Wer so aussah, der wollte etwas loswerden.

«Pardon, aber wie meinen Sie das?»

«So, wie ich es sage. Die Sache stinkt zum Himmel», erwiderte Delilah, deren stark geschminktes Gesicht für einen kurzen Augenblick von den Scheinwerfern eines entgegenkommenden Autos grell angeleuchtet wurde. «Und zwar in doppelter Hinsicht. Einerseits muss es da draußen am Point, wo der arme Moses gefunden wurde, wirklich gotterbärmlich stinken, aber sein Tod stinkt auch aus einem anderen Grund zum Himmel.»

«Tatsächlich?», fragte Grove. «Soviel ich weiß, wurde er von umherfliegenden Trümmern erschlagen. Stimmt das nicht?»

«Ich frage mich, weshalb er in Algiers war», sagte Delilah und zog die Augenbrauen hoch.

«Jetzt fang nicht schon wieder damit an», sagte Miguel mit etwas unsicherer Stimme.

«Halt du dich da raus, Miguel. Ich rede jetzt mit unserem schmucken Soldaten.» Sie blickte wieder hinüber zu Grove und lächelte ihn freundlich an. «Tatsache ist nun mal, dass unser lieber, streitbarer Moses in Algiers nicht tot im Schlamm hätte liegen dürfen»

«Und warum nicht?», fragte Grove.

«Weil er nie freiwillig in das Jefferson Parish gegangen wäre»

Grove erwiderte, dass er immer noch nicht so recht verstand.

«Er ist dort einmal fast zu Tode geprügelt worden», mischte Miguel sich ein. «Als er noch ein junger Assistenzprofessor an der Tulane war. Erzähl ihm die Geschichte, Delilah.»

Delilah seufzte. «Er musste sich ja unbedingt für die Sache der Schwulen einsetzen», sagte sie. «Wo er herkommt, in Old Birmingham, hatten Schwule noch nie einen leichten Stand, und damals, in den 6oer Jahren, war es besonders schlimm. Da hatten sich die Schwarzen hier im Süden ja noch mit den Jim-Crow-Gesetzen herumzuschlagen. Können Sie sich vorstellen, was es bedeutete, wenn ein Junge damals schwarz und schwul war? Aber das ist eine andere Geschichte.»

«Erzähl ihm von dem Überfall», drängte Miguel.

«Erzähl du es ihm, Chéri. Mir fehlt die Kraft dazu.»

Der Kubaner zuckte traurig mit den Achseln. «Na schön. Eines Abends ist Moses auf der falschen Seite des Flusses spazieren gegangen. Ich weiß es noch gut, es war so ein schwüler Frühlingsabend, und wir saßen zusammen im Old Napoleon’s, wo wir früher oft hingegangen sind. Ich war müde und ging früh nach Hause, aber Moses wollte unbedingt noch einen Spaziergang machen. Er mochte es, mit seinem albernen Spazierstock herumzustolzieren wie ein französischer Adeliger. Nun, jedenfalls ist er an dem Abend zur Spanish Plaza gegangen und hat von dort aus die letzte Fähre hinüber nach Algiers genommen. Bis heute weiß ich nicht, weshalb er dorthin wollte, aber er hat es getan, so viel steht fest. Und war zur falschen Zeit am falschen Ort. An einem Ort, an dem nachts niemand etwas zu suchen hat, und schon gar nicht ein Mann mit Moses de Lourdes Neigungen …»

Lafountant schüttelte den Kopf, als wäre die bloße Erinnerung zu viel für ihn.

Von hinten ließ sich die tiefe, empörte Stimme von Delilab vernehmen: «Ein Wagen voller Besoffener hätte ihn beinahe überfahren. Dann sind die Typen ausgestiegen und haben ihm fast die Seele aus dem Leib geprügelt. Und das nur, weil er schwul war.»

«Kann gut sein, dass Moses sie provoziert hat», meinte der Kubaner. «Er konnte ganz schön ausfallend werden – Gott sei seiner armen Seele gnädig.»

«Was für ein Blödsinn, Miguel.» Der Transvestit machte eine abfällige Bewegung mit seiner perfekt manikürten Hand. «Wie hätten die Typen in dem Wagen denn hören sollen, was er gesagt hat? Die wollten an dem Abend einfach jemanden fertigmachen, und der arme Moses war der Erste, der ihnen über den Weg lief. «Er blickte Grove aus seinen mit Kajal umrandeten Augen an. «Am nächsten Morgen haben sie ihn mit heruntergezogener Hose bewusstlos in der Gosse gefunden. Jemand hatte ihm mit roter Farbe das Wort auf den Hintern gesprüht. Moses hatte ein Dutzend Knochenbrüche und wäre fast verblutet.»

Grove fragte, ob man die Angreifer verhaftet hätte.

«Moses hat nicht einmal Anzeige erstattet», sagte Delilab mit einem erschöpften Seufzer.

Grove dachte über das Gehörte nach und schaute Delilab dabei unverwandt an. «Und das ist damals in derselben Gegend geschehen, in der man am Sonntag seine Leiche gefunden hat?»

«Richtig.»

«Hmm.»

«Warum?», fragte Miguel.

«Warum was?»

«Warum haben Sie gesagt?», fragte der Kubaner lächelnd.

«Habe ich das?»

«Ja, haben Sie.»

«Tut mir leid. Das hatte nichts zu bedeuten.»

«So klang es aber nicht», murmelte Miguel, während er den Kleinbus vor dem Hotel Philippe de Champaigne in der Dau-phine Street zum Stehen brachte. Er schob den Automatikhebel in die Parkposition und senkte den Blick. «Ist auch egal. Den alten Moses macht sowieso nichts wieder lebendig.»

Mit diesen Worten nahm der alte Kubaner seinen Stock mit dem Elfenbeingriff und stieg aus. Dann humpelte er zur hinteren Tür, um Grove mit seinem Gepäck zu helfen.

In den frühen Morgenstunden saß Grove in seinem dunklen Hotelzimmer und starrte auf die Fensterscheibe, gegen die unentwegt der vom Wind gepeitschte Regen trommelte. Er dachte über den großen Moses de Lourde nach.

Der alte Mann war ein echtes Original im Stil des alten Südens gewesen, eine Art akademischer Oscar Wilde, der schon zu Lebzeiten zu einer Legende geworden war. Er hatte mehrere Lehrstühle an den renommiertesten Universitäten in den Südstaaten innegehabt und war wegen seiner charismatischen Persönlichkeit bei den Studenten sehr beliebt gewesen. In Erinnerung bleiben würde er den meisten aber wohl eher wegen seines persönlichen Steckenpferds: der fast schon besessenen Erforschung von Gewaltverbrechen quer durch alle Zeitalter der Menschheitsgeschichte. Seine mysteriösen Feldforschungen und die hin und wieder in wissenschaftlichen Zeitungen erschienenen, kontrovers diskutierten Artikel zu diesem Thema hatten ihn berühmt gemacht und schließlich auch dafür gesorgt, dass Ulysses Grove auf ihn aufmerksam geworden war.

Grove stand auf, tigerte ruhelos durch sein Hotelzimmer und dachte über den Professor nach. Schließlich kam ihm der Gedanke, im Internet nachzusehen, ob es neue Informationen über de Lourdes Tod gab. Er verband seinen Laptop mit der DSL-Buchse an der Wand und tippte in einer Suchmaschine den Namen de Lourde ein. Auf Anhieb fielen ihm zwei neue Einträge auf, die das letzte Mal, als er diese Suche durchgeführt hatte, noch nicht da gewesen waren. Einer davon führte zu einer Meldung aus der «Times-Picayune»:

Bekannter Professor Opfer des Sturms?

(New Orleans) Am Algiers Point in der Nähe der Sequin Street wurde am Sonntagmorgen ein Toter gefunden, der als der emeritierte Universitätsprofessor Moses A. J. de Lourde identifiziert wurde. Der in der Dumaine Street Nr. 748 wohnhafte de Lourde lehrte an der Tulane University.

«Offenbar ist er vom Sturm überrascht worden», erklärte Captain Grayson Capps aus dem Polizeirevier von Jefferson Parish gestern auf einer Pressekonferenz. «Umherfliegende Trümmer und Hochwasser können während eines Wirbelsturms sehr gefährlich werden.» Die genaue Todesursache, so erklärte Capps, wird der Gerichtsmediziner so lange zurückhalten, bis de Lourdes Angehörige verständigt wurden. Der Leichnam wurde am Sonntag bei Tagesanbruch von einem Hafenarbeiter entdeckt – wenige Stunden nachdem der Hurrikan Cassandra über das Zentrum von New Orleans hinweggezogen war. Sollte der Sturm an de Lourdes Tod schuld sein, wäre der Professor sein einziges Todesopfer. Die bisherige Bilanz der Schäden beläuft sich auf dreiundsiebzig Verletzte und Sachschäden in Höhe von zwei bis vier Millionen Dollar, was im Vergleich zu Katrina eher unbedeutend ist. Wenn Cassandra wirklich Moses de Lourde, einem prominenten Überlebenden von Katrina, zum Verhängnis wurde, wäre das eine Ironie des Schicksals.

Grove fragte sich, was die Autopsie wohl ergeben hatte. Der Artikel ließ nicht nur diese Frage unbeantwortet.

Der zweite Link führte Grove auf ein hauptsächlich von Underground-Kunst und -Kultur geprägtes Webzine namens «Synapse», eine vermutlich von Studenten gestaltete Website,auf deren Homepage jetzt ein Foto des jugendlichen Moses de Lourde prangte:

Stern der TU erloschen

Seit Sonntag ist die Tulane um eine Institution ärmer. Ganz gleich, ob man ihm in den trostlosen Gängen der anthropologischen Fakultät über den Weg lief, ob man ihn im Antoine’s Hof halten sah oder ob man ihm zuhörte, wenn er mit den Dixie Jammers vor der St. Louis Cathedral (nicht allzu gut) Klarinette spielte: Moses de Lourde war in jeder Hinsicht ein Unikat. Sui generis. Ein echtes amerikanisches Original. Aber der Professor, der am Sonntag während des Hurrikans ums Leben kam, verlässt uns nur körperlich. Sein Geist lebt weiter, ob in den spätnächtlichen Gruppendiskussionen in der Dinwiddie Hall, den nicht enden wollenden Streitgesprächen über Cheeseburgern und Cola im Camellia Grill oder in den alkoholgeschwängerten Träumereien der «Graddies» in Jimmy’s Bar. De Lourde verfügte über jenes unbeschreibliche Fluidum, jene geheimnisvolle Aura, die ein Lehrer braucht, wenn er seine Studenten immer wieder faszinieren will. Niemand konnte erahnen, was für eine ausgefallene Theorie er als nächste aufstellen würde. Aber wie John Steinbeck schon sagte: Die Toten, die wir geliebt haben, werden uns niemals wirklich verlassen. Immer wenn ein zugekiffter Student im Morgengrauen eine abstruse Erklärung für die Entstehung des Universums vor sich hin brabbelt oder wenn ein Erstsemester urplötzlich ein unerklärlicher und unbezähmbarer Wissensdurst packt, wird er mitten unter uns sein. Ruhe in Frieden, Moses! Wir werden dich nie vergessen.

Grove hatte beim Lesen feuchte Augen bekommen, aber einige Fragen wollten ihm einfach nicht aus dem Kopf gehen. Warum hatte sich der alte Mann an einen Ort begeben, den er zutiefst verabscheut hatte? Was hatte er mitten in einem Hurrikan in Algiers zu suchen gehabt? Und was hatte es mit seinem mysteriösen, letzten Anruf bei ihm auf sich gehabt?

Er hatte ihn am späten Samstagabend erhalten, als er gerade auf der Couch einer Blockhütte eingedöst war. Die einsam in einem Wald in Virginia gelegene Hütte gehörte Tom Geisel, Groves Abteilungsleiter, der gleichzeitig sein bester Freund beim FBI war. Grove hatte dort das vergangene Jahr über gewohnt, um sich nach dem Sun-City-Fall von den körperlichen und seelischen Strapazen zu erholen. Viele Monate war ihm die Hütte wie ein willkommenes Refugium vorgekommen, aber in letzter Zeit hatte ihn eine zunehmende Unruhe ergriffen. Er hatte sich nach seiner Arbeit ebenso sehr gesehnt wie nach der Journalistin Maura County, die er gerne wiedergesehen hätte.

Zudem hatte er viele Albträume, in denen sich Richard Acker-man, der wahnsinnige Buchhalter aus dem Sun-City-Fall, in grässliche Gestalten verwandelte, aber er träumte auch von Afrika und seiner eigenen Geburt. Am Abend von de Lourdes Anruf hatte er gerade von seiner Mutter geträumt, als das Zirpen des Handys auf dem Couchtisch ihn aus dem Schlaf gerissen hatte. Auf dem Display war de Lourdes Handynummer erschienen, aber die Verbindung war sehr schlecht gewesen: «ffft … Ulysses … ffîtt … Hallo … hören Sie mich? Tut mir furchtbar leid, dass ich Sie so spät noch anrufe, aber … fffftttt … Hallo? Sind Sie noch dran?»

Grove hatte die Stimme selbst in seiner Schlaftrunkenheit sofort erkannt. Wegen der ständig knisternden und knatternden Störungen hatte er ihn nur undeutlich verstanden, und das «Hallo, hallo», das Grove ständig ins Telefon gerufen hatte, war bei dem Professor offenbar überhaupt nicht angekommen. «Ulysses, können Sie mich hören? Hallo? … Zzzzssssht … Es tut mir wirklich leid, mein Lieber, aber ich stecke in Schwierigkeiten … fffffttttht … In Schwierigkeiten, haben Sie verstanden? HALLO … FFSSSHHHHTTT!!»

Dann war der Anruf plötzlich abgebrochen, als hätte de Lourde aufgelegt, und Grove hatte den Rest der Woche über vergeblich versucht, den Professor zurückzurufen, und sich gefragt, was für «Schwierigkeiten» er gemeint haben könnte. Auf diese Fragen würde er vermutlich nie mehr eine Antwort bekommen, und irgendwie schien es ihm ein passendes Vermächtnis für einen Mann wie de Lourde zu sein, der immer –

Ein Geräusch.

Grove blickte auf.

Ein metallisches Klicken direkt unterhalb seines Fensters hatte ihn aus seinen Gedanken gerissen. Im Rauschen des Regens war es kaum zu hören gewesen, doch Grove stellten sich sofort die Nackenhaare auf. Er war nicht nur auf bestimmte Alarmsignale geeicht wie zum Beispiel das Entsichern einer Waffe oder knar-zende Fußbodendielen, sondern wurde sofort hellhörig, wenn ein Geräusch irgendwie deplatziert war. So wie dieses hohle, metallische Klicken. Es hatte nicht hergepasst, nicht direkt unter dieses Fenster, dessen Scheibe er vor ein paar Minuten ein Stück nach oben geschoben hatte, um etwas Luft ins Zimmer zu lassen.

Grove, der jetzt in höchster Alarmbereitschaft war, stand langsam auf. Er beugte sich vor, schaltete die Lampe auf dem Beistelltisch aus und schlich vorsichtig zum Fenster. Die Straßenlaternen schienen durch den Regendunst herein und zeichneten seinen von Wassertropfen verzerrten Schatten an die hintere Wand des Zimmers. Er blieb stehen und überlegte sich, ob er seine Waffe holen sollte.

Aber warum war er nur so angespannt? Vermutlich war es nichts weiter als ein

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