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Töte, um zu leben
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eBook703 Seiten9 Stunden

Töte, um zu leben

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Über dieses E-Book

Ein Junge, der den Mörder seines Vaters finden will. Ein Serienkiller, der seine Opfer bestialisch verstümmelt. Eine Detektivin, die den Spuren der Toten folgt. Fehler, die das Leben kosten. Töte, um zu leben. Samantha Veselkovas zweiter Fall.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum18. Nov. 2014
ISBN9783942725040
Töte, um zu leben

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    Buchvorschau

    Töte, um zu leben - Sönke Brandschwert

    Form.

    1 | Zu spät

    Sämtliche Abläufe führte der Fremde mit einer solchen Selbstverständlichkeit und Ruhe aus, dass es Edwin fast beiläufig vorkam, wie er niedergestochen wurde.

    Es war vollkommen anders, als er es erwartet hätte. Der Schmerz war gar nicht so groß, als sich der kalte Stahl in seine Gedärme bohrte. Viel größer als die Pein war der Schock darüber, dass jemand gerade dabei war, ihn umzubringen.

    Sein eigenes Gesicht spiegelte sich in der futuristischen Brille des Fremden wieder, und Edwin erkannte den Glanz seiner feuchten Stirn.

    Schon glitt die Klinge wieder aus seinem Körper heraus, und er spürte, wie die Haut um die Wunde herum warm wurde. Gleichzeitig nahm er den Geruch wahr. Den Geruch von Blut. So stark und eindeutig, wie er ihn nie zuvor gerochen hatte. Dabei hätte er früher niemals den Geruch von Blut beschreiben können. Er hätte nicht einmal sagen können, ob Blut überhaupt roch.

    Beim Hinuntersehen erkannte er den roten Fleck, der sich schnell auf seinem weißen Hemd ausbreitete. Dann drang die Klinge erneut in seinen Körper ein, diesmal in der Herzgegend. Als ob der Fremde genau wusste, an welchen Stellen sich Edwins Rippen befanden, bewegte sich das Metall genau zwischen zweien hindurch. Dieser Stich war schmerzvoller als der erste. Viel schmerzvoller.

    ‚Du musst etwas von ihm erwischen, damit sie eine Spur haben‘, schoss es Edwin durch den Kopf. Ihm war bewusst, dass er keine Minute mehr zu leben hatte. Um die letzten Sekunden seines Lebens so intensiv wie nur irgend möglich auszukosten, erlebte Edwin sie mit einer fantastischen Klarheit. Das in enormen Dosen ausgeschüttete Adrenalin konnte ihn zwar nicht retten, aber immerhin sein Gehirn zu einer letzten Höchstleistung bewegen. In einer reflexartigen Bewegung griff er nach dem Schal des Fremden und ballte seine Faust um den Stoff.

    Der Fremde ließ es widerstandslos geschehen, als Edwin an dem Kleidungsstück riss. Er spürte, wie das Tuch zwischen seinen Fingern hindurch glitt, merkte, wie sich flauschige Fusseln in seiner Hand sammelten. Mit einer infantilen Genugtuung riss er noch fester, während es in seinem Geist schon zu dämmern begann.

    Er bedauerte zutiefst, dass er nun nicht mehr die Dinge mit seinem Sohn tun würde, auf die er sich gefreut hatte. Erst vor wenigen Minuten hatte er beschlossen, sein Leben komplett zu ändern und mehr Zeit mit seiner Familie zu verbringen.

    Und jetzt spürte Edwin, wie der Tod seine kalten Finger nach ihm ausstreckte. Er würde ihn nicht mehr loslassen.

    Ingrid würde sich gut um den Jungen kümmern, da war er sich sicher.

    Dann stellte er sich kurz die Frage nach dem Warum. Einen Sekundenbruchteil später entschied er, dass die Frage völlig unwichtig sei, denn unabhängig von dem Grund war das Ergebnis dasselbe.

    Die Nacht, die ihn einfing, wurde immer schwärzer. Langsam entfernten sich die Schmerzen. Ebenso das Licht seines Büros, und auch der Fremde schien plötzlich nicht mehr da zu sein. Eine Ruhe kehrte ein, eine endlose, friedvolle Stille, die sich hinzog, bis sein Gehirn keinen Gedanken mehr dachte und keinen Traum mehr träumte.

    2 | Auftrag

    „Weißt du, was ich jetzt am liebsten essen möchte?", fragte Sam, während sie die Haustür hinter sich schloss.

    „Pizza?", vermutete Nika.

    „Liest du meine Gedanken? Leider glaube ich nicht, dass ich noch eine im Gefrierschrank habe."

    Nika lächelte sie an, während sie ihre Jacken an die Garderobe hängte. „Ich habe gestern eingekauft. Was sollte meine Samantha lieber essen wollen als eine Pizza? Du hast die Wahl zwischen Mozzarella, Salami oder Hawaii."

    Sie gingen hinauf in die Küche und Sam setzte sich an den Tisch. „Ich möchte die Salami, aber mit frischen Tomatenscheiben drauf."

    „Nicht, dass du dir einbildest, ich würde in Zukunft das Küchenmädchen sein", erwiderte Nika, während sie die tiefgefrorenen Pizzen herausholte.

    „Ich dachte, ich würde bestimmen, was du in Zukunft machst. Wolltest du nicht meine kleine Sub werden?" Sam hatte Nika bereits früher erklärt, dass im BDSM-Bereich der untergebene Teil in einer dominant-devoten Beziehung als Sub bezeichnet wurde. Natürlich meinte sie das nicht ernst, denn sie wusste sehr gut, dass Nika mit BDSM nichts anfangen konnte – im Gegensatz zu ihr selbst. Aber sie hatte sich die Bemerkung nicht verkneifen können. Sie war guter Laune. Endlich war sie aus dem Krankenhaus heraus, in dem sie die letzten Tage verbracht hatte. Zum Glück war die Schussverletzung an ihrer Hüfte nur eine Fleischwunde, die schnell verheilte. Die Schmerzen waren zwar noch nicht ganz weg, aber es ging ihr verhältnismäßig gut. Viel wichtiger war sowieso, dass sie Bruno zur Strecke gebracht hatte. Der Killer hatte nicht nur Sams besten Freund ermordet, sondern war auch kurz davor gewesen, Nika und sie selbst umzubringen. Jetzt war alles ausgestanden. Sie war zu Hause, und das Leben würde sich normalisieren – dachte sie. Bis das Klingeln ihres Detekteitelefons sie daran zweifeln ließ.

    „Geh nicht ran, Samantha!", forderte Nika sie auf.

    Aber Sam würde auch in Zukunft Geld verdienen müssen. Die Ergreifung von Bruno hatte sie auf eigene Rechnung erledigt. Außerdem hatte die kürzlich durchgeführte Installation der Sicherheitseinrichtungen in ihrem Haus eine Menge Geld verschlungen. Es half nichts. Es war allerhöchste Zeit für einen neuen Auftrag.

    „Veselkova", meldete sie sich.

    „Endlich erreiche ich Sie, kam die Stimme eines Kindes. „Ich habe es gestern schon den ganzen Tag versucht. Was kostet bei Ihnen eine Ermittlung?

    Sam staunte nicht schlecht. Sie hatte zwar überhaupt keine Lust auf ein Gespräch mit einem Minderjährigen, war aber in zu guter Stimmung, als dass sie ihn mit groben Worten abserviert hätte.

    „Das kommt immer darauf an, worum es geht. Musst du einen Aufsatz über Detektive schreiben?"

    „Nein, ich möchte Sie engagieren."

    „Oh", sagte Sam nur und wartete auf das, was noch kam.

    Es dauerte eine Weile, bis der Junge wieder fragte: „Also, was würde ich bezahlen müssen, wenn Sie etwas für mich herausfinden sollen?"

    „Was soll ich denn für dich herausfinden? Darf ich überhaupt Du sagen?"

    „Ich will wissen, wer meinen Vater getötet hat." Die Stimme hörte sich vollkommen ernst an.

    Jetzt war Sam konzentriert. „Meinst du nicht, dass die Polizei das herausbekommen wird?"

    „Nein, die Polizei glaubt, dass es der Serienmörder war."

    „Und du glaubst das nicht?" Sam war sich nicht über das Alter des Anrufers im Klaren und wusste deshalb nicht, wie sie mit ihm umgehen sollte. Daher wollte sie das Gespräch so führen, als würde sie mit einem Erwachsenen reden. Allerdings fiel ihr das nicht leicht, denn zunächst nahm sie den Jungen nicht wirklich ernst.

    „Ich glaube, dass meine Stiefmutter dahinter steckt, erklärte der Junge. „Vielleicht stimmt das ja nicht, aber ich muss sicher sein.

    Sam dachte nach. Serienmörder? Der Junge sprach doch wohl nicht von dem Wahnsinnigen, der seit einiger Zeit im Rhein-Main-Gebiet Menschen tötete und verstümmelte!?

    „Ich glaube nicht, dass ich dir helfen kann", erklärte Sam. Ihre Stimme klang jetzt reserviert. Sie wollte dem Jungen keine falsche Hoffnung machen. Vielleicht hatte er sich in etwas verrannt. Dann wäre es nicht gut, wenn sie das Feuer noch schürte.

    „Woher wollen Sie das wissen, wenn Sie es nicht probiert haben?"

    „Jetzt sag mir erst mal, wie du heißt", entgegnete Sam.

    „Das sage ich Ihnen, wenn Sie für mich arbeiten wollen."

    „Wie soll ich entscheiden, ob ich für dich arbeiten will, wenn ich nichts über dich und den Fall weiß?"

    „Den Fall habe ich Ihnen erklärt. Dazu kann ich Ihnen sagen, dass ich 2.800 Euro auf einem Sparkonto habe. Jetzt können Sie entscheiden, ob das reicht oder nicht. Ich habe nämlich keine Ahnung, wie viel ein Detektiv kostet."

    „Das ist nicht alles, wonach ich entscheide. Für mich ist es ebenso wichtig, ob ich den Job für sinnvoll halte."

    „Aber sie wollen doch Geld verdienen, oder? Ich möchte etwas wissen und Sie dafür bezahlen, dass Sie es herausfinden."

    Obwohl Sam seiner Logik durchaus folgen konnte, sagte sie: „So einfach ist das nicht. Ehrlich gesagt hätte ich ein schlechtes Gewissen, von einem Jugendlichen Geld anzunehmen." Das Wort Kind vermied sie bewusst.

    „Ich gebe es Ihnen doch freiwillig. Dafür bekomme ich ja auch etwas von Ihnen."

    Sam ging die ziellose Diskussion auf die Nerven. Sie musste das beenden. „Hör zu! Wenn es dir wichtig ist, dann unterhalten wir uns von Angesicht zu Angesicht. Du erzählst mir alles über die Hintergründe, und ich entscheide, ob ich es mache oder nicht."

    „Aber ich …"

    Die Detektivin ließ ihn nicht ausreden: „Entweder so oder gar nicht."

    Stille. Eine ganze Weile passierte nichts. Sam wollte schon auflegen, da meldete sich der Junge wieder: „Wann und wo?"

    „Deine Entscheidung", antwortete Sam ebenso knapp.

    „Im Dachcafé der Zeilgalerie. Heute Nachmittag um drei?"

    „Wie erkenne ich dich?"

    „Ich warte unten am Eingang der Zeilgalerie. Es werden nicht allzu viele Jungs in meinem Alter dort abhängen."

    „Okay. Dann brauche ich noch deine Rufnummer." Als der Anruf eingegangen war, hatte Sam bereits festgestellt, dass mit unterdrückter Rufnummer angerufen wurde.

    „Warum?"

    „Woher weiß ich, dass du dir nicht einen Spaß erlaubst? Entweder ich kann dich zurückrufen, oder wir lassen es."

    Wieder Stille.

    „Na, komm schon, munterte Sam den Jungen auf. „Du willst mir eine Menge Geld bezahlen, wenn ich für dich arbeite, traust dich aber nicht, mir deine Nummer zu geben?

    „Gut. Es ist ohnehin nur mein Handy. Da geht meine Stiefmutter nicht ran." Er gab seine Nummer durch.

    „Danke. Wir legen jetzt auf und ich rufe dich zurück, damit ich sicher bin, dass du mir die richtige Nummer gegeben hast."

    Keine Minute später stand die Verbindung wieder. Sam erfuhr, dass sein Name Daniel war. Dann beendete sie das Gespräch: „Okay, wir sehen uns nachher. Und überlege dir, wie du mich überzeugen kannst."

    Nach dem Gespräch sah Sam ihre Freundin ratlos an. „Da will mich ein kleiner Junge beauftragen, den Mord an seinem Vater aufzuklären."

    Nika machte große Augen. „Wie klein?"

    „Ich weiß nicht. Keine 15, schätze ich."

    „15 ist nicht klein", stellte Nika fest.

    Sam zuckte mit den Schultern. „Er bietet mir 2.800 Euro von seinem Sparkonto an."

    Als Nika darauf nichts sagte, fragte Sam: „Willst du heute eigentlich noch in die Uni?"

    „Nein, wieso?"

    „Er will sich in Frankfurt mit mir treffen. Es wäre schön, wenn du mitfahren würdest. Ich weiß nicht, ob ich wirklich schon wieder so fit bin."

    „Kein Problemo. Wann?"

    „Um drei an der Zeilgalerie."

    „Hey, danach können wir noch ein paar Sachen von mir abholen, schlug Nika vor. „Ich werde in Zukunft sicher öfter bei dir sein.

    Sam entging nicht die leichte Unsicherheit in der Stimme des Mädchens. Seitdem sie Nika kurz nach dem Erwachen im Krankenhaus geküsst hatte, war die Sprache nicht mehr auf die Art ihrer Beziehung gekommen. Jetzt erschien es Sam, als habe Nika Angst, dass sie den Kuss vielleicht falsch interpretiert haben könnte.

    Mit gekräuselter Stirn, innerlich jedoch schmunzelnd, fragte Sam: „Wieso ein paar Sachen von dir holen?"

    Verdutzt sah Nika ihr in die Augen. Obwohl das Mädchen es offenbar versuchte, konnte es die Traurigkeit in seinem Blick nicht unterdrücken.

    Die Detektivin konnte nicht länger ernst bleiben und lachte herzhaft. „Wir sollten gleich eine ganze Menge mitnehmen, Kleines!"

    Plötzlich schien Nika wie befreit. Sämtliche Anspannung wich aus ihrem Gesicht, in dem man bereits keine Spuren mehr von den blauen Flecken sah, die Bruno ihr zugefügt hatte. Sie strahlte. „Du hast es also wirklich so gemeint", stellte sie fest.

    „Wie hätte ich es denn sonst meinen können?" Sam lachte immer noch.

    „Naja, es könnte eine spontane Reaktion gewesen sein, weil wir es einfach geschafft haben, da raus zu kommen."

    „Nein, das war es nicht. Ich möchte mit dir zusammen sein, Kleines."

    „Aber du weißt doch noch gar nicht, wie es mit mir ist. Ich meine …" Augenscheinlich suchte Nika nach Worten, die sie nicht fand.

    „Du meinst, wie es ist, Sex mit dir zu haben? Aber du weißt es doch auch nicht und willst mit mir zusammen sein."

    Nikas Stimme wurde leise. „Aber ich liebe dich, Samantha."

    Nun lächelte Sam und sagte sanft: „Siehst du, Kleines, es hat nicht nur mit Sex zu tun. Ich weiß nicht genau, was es ist, aber ich fühle mich zu dir hingezogen und habe dich sehr, sehr lieb. Ob es Liebe ist, kann ich dir nicht sagen. Ich war noch nie in meinem Leben wirklich verliebt. Aber es ist ein ziemlich heftiges Gefühl und ich will dich bei mir haben. Reicht dir das?"

    Die Studentin lächelte und hatte glänzende Augen. „Das hast du lieb gesagt. Ja, das reicht mir." Noch einmal öffnete sie den Mund, schloss ihn dann aber wieder, ohne etwas zu sagen.

    „Was?", fragte Sam nur.

    „Ach, nichts."

    „Fang bloß nicht damit an!, gab Sam zurück. „Sprich!

    Es war eines der seltenen Male, dass Nika rot wurde. „Was ist mit der Domina Sam? Du weißt, dass ich mit Sado-Maso nichts am Hut habe."

    Sam sah Nika verwundert an. „Was soll mit ihr sein? Die wird es auch in Zukunft geben. Zum einen ist es ein Teil von mir, zum anderen verdiene ich mir damit ein paar Brötchen."

    „Kannst du nicht von der Detektei leben?"

    „Versuch bloß nicht, mich zu verändern, Nika! Dann können wir es nämlich gleich lassen." Sam erkannte, dass sie etwas zu schroff gewesen war, aber das spielte für sie jetzt keine Rolle. Wenn sie diese Dinge nicht von vornherein klarstellte, würde es immer wieder Probleme deswegen geben.

    Die patzige Antwort, die Sam erwartet hatte, blieb aus. Stattdessen war Nikas Stimme ruhig und glich der eines Engels: „Ich will dich doch gar nicht ändern, Samantha. So wie du bist, habe ich dich lieben gelernt."

    „Und wieso schlägst du dann vor, dass ich keine SM-Spiele mehr machen und ausschließlich von der Detektei leben soll?" Noch immer sprach Sam sehr distanziert.

    Nikas Stimme hingegen blieb sanft. Dabei erkannte Sam keinen Rückzug. Auch das Schuldgefühl, das Sam ihr unbewusst zu machen versucht hatte, war offensichtlich nicht vorhanden. „Habe ich gesagt, du sollst keine SM-Spiele mehr machen? Nika machte eine kurze Pause, die lang genug war, damit die Frage bei Sam ankam, aber zu kurz, als dass es für eine Antwort gereicht hätte. „Nein, Samantha, das habe ich nicht gesagt. Das ist etwas, das ich dir ebenso wenig geben kann wie Sex mit einem Mann. Gegen beides werde ich niemals etwas sagen. Aber beides kannst du auch haben, ohne Geld dafür zu nehmen.

    Die Worte beeindruckten Sam. Zwar war sie nicht unbedingt gleicher Meinung, aber immerhin versuchte Nika nicht, sie von Dingen abzubringen, die einfach zu tief in ihr verwurzelt waren. Sam war Domina mit Leib und Seele, und sie konnte sich ein Leben ohne SM kaum vorstellen. „Wo ist der Unterschied, ob ich Geld dafür nehme oder nicht?"

    Nika musste keine Sekunde über diese Frage nachdenken. „Sag mir, Samantha: Wenn du einen Kunden hier hast, machst du dann immer alles genauso, wie du es gerne machen würdest, oder nimmst du auf die Wünsche des Kunden Rücksicht?"

    „Es gibt wenige Kunden, bei denen ich machen kann, was ich will. Jeder hat seine eigenen Vorstellungen von einer Session. Es gibt aber Ausnahmen, wie Gregor zum Beispiel. Er ist ein Kunde, wie ich mir einen nicht-zahlenden Sub vorstellen würde. Aber ich kann mich ebenso bei den anderen recht gut ausleben."

    „Recht gut, wie toll!", bemerkte Nika ironisch.

    „Ja, es ist gar nicht schlecht. Ich mache das ja schon viele Jahre, und durch die Detektei bin ich nicht auf jeden Cent angewiesen. So kann ich mir die Kunden schon einigermaßen aussuchen. Früher, als ich noch studiert habe, war das anders."

    „Einigermaßen, genauso toll!"

    „Naja, wenn du Geld für etwas nimmst, dann bist du in gewisser Weise Dienstleister."

    „Siehst du, und genau das ist es, was ich meine: Es ist völlig okay für mich, wenn du dich auslebst. Was mir gegen den Strich geht, ist, wenn du für Geld Dinge tust, die du nicht 100-prozentig möchtest."

    „Jeder, der Geld verdient, tut oft Dinge, die er nicht gerne macht, meinst du nicht?"

    „Aber nicht mit seinem Körper, oder?"

    „Ein Handwerker arbeitet sehr wohl mit seinem Körper."

    „Komm schon, du weißt ganz genau, was ich meine."

    „Ja, das weiß ich schon. Aber ich bin eben anderer Meinung. Überzeuge mich, und ich werde darüber nachdenken. Aber für mich ist es ein Handwerk."

    „Ich dachte, es ist eine Passion", entgegnete Nika.

    „Das auch, aber …"

    „Widerspricht sich das nicht?"

    „Tut es das? Andere malen leidenschaftlich Bilder, und verkaufen diese. Sie verdienen mit ihrer Passion ebenfalls Geld, und niemand würde etwas Verkehrtes darin sehen."

    „Aber sie malen nur das, was sie wollen. Sie handeln erst. Nur wenn jemandem das Ergebnis gefällt, bekommen sie etwas dafür. Sollten sie …"

    Diesmal war es an Sam, ihre Freundin zu unterbrechen: „Portraitmaler, die im Auftrag des Kunden malen?"

    „Meinst du, sie haben wirklich genauso viel Spaß daran wie der Maler, der sich seine Mona Lisa selbst aussucht?"

    „Verurteilst du denn auch die Portraitzeichner, die ihre Dienste auf den Märkten anbieten?"

    Nika seufzte und schien angestrengt nachzudenken. Sam war sich 100-prozentig sicher, vom rein Logischen her recht zu haben. Nika würden die Argumente ausgehen. Aber das war es gar nicht. Hier ging es nicht um Vernunft, sondern um Gefühle.

    „Samantha, ich möchte nicht, dass wir uns darüber streiten. Du weißt, dass ich dich liebe. Vermutlich möchte ich deshalb nicht, dass du damit Geld verdienst. Ich bekomme BAföG, und wenn ich öfter bei dir bin, werde ich mich natürlich an den Kosten beteiligen. Behalte dir diesen Gregor doch als Sub, ohne Geld von ihm zu nehmen, und von mir aus suche dir noch andere. Weißt du, es tut mir einfach weh, wenn du dich verkaufst, auch wenn ich nicht erklären kann, warum es so ist."

    Was sollte Sam dazu sagen? Einen Moment lang sahen sich die Frauen schweigend in die Augen, dann bat Nika: „Versprich mir, dass du wenigstens darüber nachdenken wirst. Bitte."

    Wieder gab es eine kurze Pause, dann antwortete Sam, jetzt in versöhnlichem Ton: „Ich werde darüber nachdenken. Ich weiß, dass es mit mir nicht ganz einfach ist. Ich bin es nicht gewohnt, dass ich in meine Entscheidungen eine weitere Person einbeziehen muss. Weißt du eigentlich, dass du meine erste feste Beziehung bist?"

    „Das ist nicht dein Ernst!"

    „Doch, ist es. Wahrscheinlich habe ich in meinem Leben schon mehr Sex gehabt als andere mit 50, aber zu einer Beziehung hat es bisher nicht gereicht. Wahrscheinlich bin ich viel zu kompliziert für so etwas."

    Jetzt stahl sich wieder dieses freche Lächeln auf Nikas Gesicht, das Sam so liebte. „Und du willst dich trotzdem auf mich einlassen?" Der fordernde Unterton war nicht zu überhören.

    „Ja, lachte Sam, „das will ich.

    Nika stand auf, kam zu Sam, und setzte sich auf ihren Schoß. Dabei wählte sie die Seite mit der unverletzten Hüfte. Sam sah das Leuchten in Nikas Augen, als sich ihre Lippen aufeinander legten. Der Kuss war voller Leidenschaft und löste in Sam ein Verlangen aus, von dem sie nicht gewusst hatte, dass sie es für eine Frau entwickeln konnte. Eine tiefe, angenehme Wärme erfasste sie, und sie schaltete ihren Verstand aus. Als sie Nikas Hand zwischen ihren Beinen spürte, war sie erst ein wenig amüsiert, weil es die erste Frauenhand war, die dort Zugang fand, dann gab sie sich ihrer Erregung hin.

    Wenige Minuten später waren die beiden Frauen im Schlafzimmer und genossen sich in Sams riesigem Wasserbett. Ihre erste sexuelle Erfahrung mit einer Frau war für Sam in vielerlei Hinsicht eine Überraschung. Zum einen war es ihre Premiere für Erotik, in der sie nicht führte oder gar dominierte, sondern sich einfach fallen und Nika gewähren ließ. Zum anderen war es die Erfahrung, dass offenbar kaum jemand besser wusste, wo und wie man eine Frau stimulieren musste als eine andere Frau.

    Als das Mädchen später unter ihren Liebkosungen heftig kam, genoss sie es endlos, den sich windenden Körper zwischen ihren Händen zu spüren. Warum hatte sie das nicht schon viel früher ausprobiert?

    Irgendwann richtete Nika sich unvermittelt auf und rief: „Mist, es ist schon kurz nach zwei! Wir müssen los!"

    3 | Kurzrecherchen

    Während Nika fuhr, hatte Sam ihr Notebook mit dem mobilen Internetzugang auf dem Schoß. Sie suchte im Internet nach Fakten zu dem Serienkiller, der eventuell für den Mord an Daniels Vater in Frage kam.

    Schnell fand Sam über eine Suchmaschine diverse Berichte von einem Opfer, das vor zwei Tagen tot aufgefunden worden war. Der Täter hatte den 53-jährigen Edwin B. abends in seinem Büro in Eschborn überrascht. Über die Tötungsart wurde nichts geschrieben, es war lediglich von Verstümmelungen im Genitalbereich die Rede. Eine ausführlichere Beschreibung fehlte.

    Der Getötete war ein wohlhabender Unternehmer und hinterließ Frau und ein Kind.

    Stichhaltige Beweise wurden in all den Berichten nicht im Detail aufgeführt. Allerdings sollte es eindeutige Beweise geben, die den Mord dem Serienkiller zuordnen ließen. Auch hier wurden die Berichte nicht konkreter.

    Manche Zeitungen beschäftigten sich mit der Bezeichnung des Killers. Nach dem vorletzten Mord hatte man ihn offenbar den „D-Day-Killer" getauft, weil er nur an Diens- und Donnerstagen zuschlug, also an Tagen, die mit dem Buchstaben D anfingen. Das letzte Opfer war allerdings an einem Freitag gestorben, womit der Name hinfällig war.

    Ein weiterer Fall lag etwa vier Monate zurück. Hermann Wenzler, ein 24-jähriger Student aus Bad Homburg, war in seiner Garage überrascht worden, als er von dem Treffen mit einem Freund nach Hause kam. Ebenso wie die Verstümmelungen wurden auch hier Beweise erwähnt, welche die Tat als die des Serientäters identifizierten. Genaue Details glänzten leider wieder durch Abwesenheit. Sam stellte lediglich fest, dass Hermann Wenzler am Abend eines Donnerstags gestorben war.

    Nach dem nächsten Fall musste die Detektivin etwas länger suchen, denn er lag schon ein Jahr zurück. Die an einem Dienstag, ebenfalls abends, ermordete Stefanie H. war eine kinderlose, verheiratete Frau aus Wiesbaden. Der Mörder lauerte der 28-Jährigen in der Waschküche auf. Offenbar war sie das dritte Opfer gewesen. Zu diesem Zeitpunkt gingen die Medien noch davon aus, dass der Killer sich ausschließlich weibliche Opfer suchte.

    Sam recherchierte nach den beiden ersten Opfern. Mittlerweile befanden sich Nika und Sam in der Nähe der Frankfurter Hauptwache, als die Detektivin endlich fündig wurde. Die ersten beiden Morde lagen nur einen Monat auseinander und geschahen vor zwei Jahren. Das erste Opfer war eine Frankfurter Prostituierte namens Hanna Gelbwald. Als wenige Wochen später ein weiteres leichtes Mädchen tot aufgefunden wurde und die Polizei bekannt gab, dass es sich eindeutig um den gleichen Täter handelte, sprach man bereits vom Rhein-Main-Ripper. Dieser Begriff tauchte in späteren Berichten nicht mehr auf.

    Während Nika im Parkhaus Hauptwache ins dritte Obergeschoss fuhr, gab Sam ihr eine kurze Zusammenfassung von dem, was sie gelesen hatte. Dann machten sie sich auf den Weg zur Zeilgalerie.

    4 | Daniel

    Die beiden Frauen sahen nur einen Jungen, der sich vor der Zeilgalerie herumdrückte. Kurze, dunkelbraune und leicht gekrauste Haare zierten das Haupt des Jungen. Die Füße steckten in Chucks. Der offene Reißverschluss seiner schicken, schwarzen Lederjacke gab ein rotes T-Shirt mit dem Aufdruck einer stilisierten E-Gitarre preis. Er hatte sich unter die Überdachung gestellt, vermutlich um sich vor dem leichten Nieselregen zu schützen, der vor kurzem eingesetzt hatte. In der Menschenmenge, die zu jeder Tageszeit die Zeil füllte, konnten Sam und Nika den Eingang der Zeilgalerie eine Weile beobachten, ohne dass sie von dem Jungen gesehen wurden.

    Da sich auch nach einer Weile kein anderer Junge dort hinstellte, gingen die jungen Frauen direkt auf ihn zu.

    „Du bist Daniel?", fragte Sam.

    Nachdem er sich nach allen Seiten umgesehen hatte, als fürchte er, dass Sam ungebetene Gäste mitgebracht haben könnte, nickte der Junge und reichte der Detektivin seine Hand. „Sie sind Frau Veselkova?"

    „Nenn mich einfach Sam. Das ist Nika."

    „Guten Tag, grüßte Daniel höflich, während er nun Nika die Hand reichte. „Sie sind aber noch sehr jung für eine Detektivin.

    „Nika ist meine Expertin für Recherchen im Internet, log Sam. „Lass uns nach oben gehen.

    Fünf Minuten später saßen sie mit Getränken an einem Tisch. Während Sam einen Cappuccino trank, hatten sich Nika und Daniel für heiße Schokolade entschieden. Auf einen Außenplatz verzichteten sie wegen des Wetters.

    „Dein Vater war Edwin B., vermute ich", brachte Sam das Gespräch umgehend auf den Grund des Treffens.

    Daniel nickte. „Wir heißen Bach mit Nachnamen."

    „Zunächst möchte ich dir sagen, wie leid es mir tut, was mit deinem Vater geschehen ist."

    Der Junge drehte den Kopf zum Fenster und sah eine Weile hinaus, ohne etwas zu sagen. Dann rieb er sich wie beiläufig die Augen und sah wieder zu Sam.

    „Wie werden Sie vorgehen?", fragte er.

    „Erst mal werde ich feststellen, ob ich den Auftrag annehme oder nicht."

    Er zögerte einen Moment und antwortete dann: „Gut, dann stellen Sie das bitte fest. Wenn es nur am Geld liegt, dann schlage ich vor, dass ich Ihnen die 2.800 Euro als Vorschuss gebe. Wenn Sie herausgefunden haben, wer es war, wird der Verwalter des Vermögens meines Vaters sie sicher bezahlen, wer auch immer das dann sein mag."

    „Über das Geld reden wir später. Jetzt erzähle mir erst mal, warum du etwas anderes glaubst als die Polizei."

    „Meine Stiefmutter hat einen Freund. Sie müssen wissen, dass sie nur halb so alt wie mein Vater ist. Wir haben ziemlich viel Geld. Mein Papa besitzt mehrere Firmen. Sie können sich also vorstellen, was meine Stiefmutter von meinem Vater wollte."

    „Ich kann mir vieles vorstellen. Vermutlich wollte sie Liebe und Zuneigung?"

    „Sollten Sie als Detektivin nicht realistischer sein?", fragte er trotzig.

    „Als Detektivin nehme ich zunächst alle Fakten auf, bevor ich zu urteilen anfange. Vorurteile oder unbestätigte Vermutungen bringen mich absolut nicht weiter. Du kannst mir natürlich deine Mutmaßungen mitteilen, aber ich möchte wissen, wofür es eindeutige Beweise gibt, wofür lediglich Hinweise, und was du einfach nur glaubst."

    Nachdem er kurz den Blick auf seine Tasse gesenkt hatte, sah er ihr wieder in die Augen. Für einen Moment konnte Sam Trotz darin lesen, dann änderte sich sein Ausdruck. Von einer Sekunde auf die andere wirkte er plötzlich viel reifer. Der Trotz war einer Entschlossenheit gewichen, die keineswegs kindlich aussah.

    Dann begann er zu erzählen: „Als mein Vater sie kennen gelernt hatte, war sie ziemlich arm. Sie hatte keinen Job."

    Sam hob kurz die Hand, um ihn zu unterbrechen. „Wann haben sie sich kennen gelernt?"

    „Ungefähr vor sieben Jahren. Ich war gerade sechs."

    „Weißt du, was sie davor gearbeitet hatte?", fragte Sam.

    „Ich kann mich an Gespräche erinnern, in denen sie von einem Job in einem Büro erzählt hatte. Angeblich hatte sie die Stelle zwei Monate vorher verloren, weil die Firma bankrottgegangen war. Warum?" Diesmal kam die Frage nicht trotzig, sondern neugierig.

    „Nun, wäre sie schon ewig ohne Arbeit gewesen, hätte man unterstellen können, dass ihr vielleicht nicht sonderlich viel daran gelegen hatte, in naher Zukunft wieder arbeiten zu gehen. Da sie aber scheinbar noch einen Job hatte, kurz bevor sie deinen Vater kennen gelernt hatte, stufe ich sie zunächst nicht wirklich als Faulenzer und Drückeberger ein, auch wenn du das wohl gerne anders sehen möchtest."

    Er machte eine kurze Pause, bevor er fortfuhr: „Wenigstens zeigt mir das, dass Sie ernsthaft über das nachdenken, was ich sage."

    „Dessen kannst du dir sicher sein. Um Babysitter zu spielen, ist mir meine Zeit zu schade. Ich habe dir versprochen, dich anzuhören, und ich werde dich genauso wie jeden anderen potentiellen Kunden behandeln. Das muss für dich allerdings nicht unbedingt etwas Gutes bedeuten. Also weiter!"

    „Seit sie mit meinem Vater zusammen ist, war sie niemals arbeiten. Ich habe auch nie etwas von einer Arbeitssuche mitbekommen und nehme an, dass sie gar keinen Job wollte."

    ‚Oder dein Vater wollte nicht, dass sie arbeiten geht‘, dachte Sam, ohne etwas dazu zu sagen.

    „Aber sie hat ein Hobby: Sie malt Aquarelle. Angeblich kann sie das ganz gut. Mir gefallen ihre Bilder jedenfalls nicht. Sie hat da diesen Freund, Georg. Er ist Kunsthändler und besitzt eine Galerie in Frankfurt, in der sie manchmal ihre Bilder ausstellen darf. Georg unterstützt sie, und die beiden sehen sich ständig. Meine Stiefmutter hat Georg öfter gesehen als meinen Vater. Wenn sie sich begrüßen, umarmen sie sich. Der Mann ist viel jünger als mein Vater und hat die gleichen Interessen wie meine Stiefmutter. Ich bin mir sicher, dass da mehr als eine harmlose Freundschaft dahintersteckt."

    „Hast du den Nachnamen von diesem Georg?", fragte Sam, während sie einen kleinen Block aus ihrer Tasche holte.

    „Er heißt Georg Hadjigidi."

    Sam zog die Augenbrauen hoch. „Weißt du, wie man das schreibt?"

    „Ja. Sein Name steht groß am Eingang seiner Galerie." Er buchstabierte den Namen, und Sam notierte ihn sich.

    „Und wie heißt deine Stiefmutter?"

    „Ingrid. So nenne ich sie auch. Ich sage nicht Mama oder Mutter zu ihr."

    Die Detektivin machte sich Notizen. „Gut, sagte sie dann. „Angenommen, Ingrid und Georg haben tatsächlich ein Verhältnis, dann würde das Ingrid noch immer nicht zu einer Mörderin machen. Es gibt Tausende, wahrscheinlich Millionen von Menschen, die neben ihrem festen Partner ein Verhältnis haben. Trotzdem laufen diese Menschen nicht mordend umher.

    „Aber wenn Ingrid sich von meinem Vater hätte scheiden lassen, hätte sie vermutlich kein Geld von ihm bekommen. Nun erbt sie einen großen Teil, und meinen Anteil wird sie auch verwalten, bis ich 18 bin."

    „Hat sie dich eigentlich adoptiert? Ist sie offiziell deine Erziehungsberechtigte?"

    „Ja."

    „Das bedeutet, dass sie dich am Hals hat. Das hätte ihr auch vorher schon klar gewesen sein müssen."

    Er saß eine Weile schweigend da, und Sam ließ ihm Zeit. Irgendwann kam wieder Leben in ihn und er trank einen Schluck seines Kakaos.

    „Was ist eigentlich mit deiner richtigen Mutter?", fragte Sam.

    „Sie lebt nicht mehr", antwortete Daniel leise.

    „Das tut mir leid." Manchmal bedeuteten Fragen, alte Wunden aufzureißen. Als Detektivin konnte Sam nicht immer Rücksicht darauf nehmen.

    Wieder dachte er eine Weile nach. Dann sprach er weiter: „Mein Vater ist spät abends in seinem Büro überfallen worden. Er bestand immer darauf, dass nach 20 Uhr das Gebäude abgeschlossen wird. Es hat aber keinen Einbruch gegeben. Wie soll der Mörder denn da reingekommen sein, wenn es ein Fremder war?"

    „Vielleicht hat jemand an dem Tag vergessen, die Tür abzuschließen?"

    „Glauben Sie an so große Zufälle?"

    „Es muss gar kein Zufall gewesen sein. Wer weiß, vielleicht hat der Täter deinen Vater schon lange beobachtet und einfach auf den Tag gewartet, an dem jemand nachlässig war."

    Wieder eine Pause. „Sie machen sich wirklich Gedanken. Ich möchte Sie echt gerne als Ermittlerin haben."

    „Wie viele Detekteien hast du denn angerufen?"

    „Ein paar. Aber überall kriegt man nur eine Sekretärin ans Telefon, wenn überhaupt jemand ran geht. Und dann heißt es immer, dass meine Eltern anrufen sollen."

    Sam nickte leicht mit dem Kopf. „Was kannst du mir noch berichten?"

    „Ingrid hat oft gesagt, wie froh sie wäre, wenn sie ihr eigenes Geld hätte, und dass sie es hasste, auf meinen Vater angewiesen zu sein. Er sah das natürlich anders."

    „Sie hat das auch in seinem Beisein gesagt?", wollte Sam wissen.

    „Ja, und es schien ihn nicht zu stören."

    „Okay, was noch?"

    „Sie ist übertrieben lieb zu mir, seit Vater tot ist. Ich habe den Eindruck, dass sie ein schlechtes Gewissen hat."

    „War sie vorher nicht lieb zu dir?"

    „Doch, aber nicht so wie jetzt."

    „Glaubst du eigentlich, dass sie überhaupt in der Lage ist, einen Menschen kaltblütig umzubringen? Wäre sie körperlich imstande dazu? Oder ist dein Vater erschossen worden?"

    „Nein, nein, ich glaube nicht, dass sie es selbst getan hat. Sie war ja an dem Abend bei mir. Ich glaube, dass sie jemanden dafür bezahlt hat. Vielleicht war es ja auch Georg. In letzter Zeit waren die beiden noch öfter zusammen als vorher."

    Als auch nach geraumer Zeit nichts mehr kam, nickte Sam langsam. „Das war es?", fragte sie.

    „Ja, das war es. Und mein Bauchgefühl."

    Wieder nickte Sam. Lange dachte sie nach, bevor sie endlich ihre Meinung offenbarte. „Die Polizei hat ganz bestimmt stichhaltige Gründe dafür, dass sie den Serienmörder für den Täter hält. Wenn es sogar so in der Zeitung steht, dann müssen eindeutige Beweise vorliegen. Sämtliche Dinge, die du aufgezählt hast, kämen in Frage, wenn man nach einem Motiv suchen müsste. Sie deuten aber nicht zwangsläufig darauf hin, dass Ingrid dahintersteckt. Es ist eine von ungefähr 100.000 Möglichkeiten, und es erscheint mir nicht die wahrscheinlichste."

    „Glauben Sie nicht, dass auch die Polizei Fehler machen kann?"

    „Doch, das kann sie durchaus. Überall, wo Menschen arbeiten, werden Fehler gemacht. Aber eine so eindeutige Aussage würden sie niemals aufgrund einer einfachen Vermutung machen. Serienmörder sind unberechenbar. Dieses Mal hat es deinen Vater getroffen. Wenn die Umstände gleich sind wie bei den anderen Opfern, dann ist es doch sehr realistisch, dass es der Serientäter war, meinst du nicht?"

    „Nein, überraschte der Junge sie mit seiner Antwort. „Sollte man bei einem Serienmörder nicht immer ähnliche Opfer haben? Zum Beispiel nur Frauen, oder nur kleine Jungs, oder Rothaarige oder so was? Mein Vater passt nirgendwo rein. Ich habe im Internet geschaut: Alle anderen Opfer waren noch keine 30 Jahre alt. Mein Vater war über 50!

    „Ein Serientäter kann aber sein Muster auch mal verändern. Das größte Problem bei Serienmördern ist, dass jeder anders ist. Vielleicht gibt es ein Muster, das noch niemandem aufgefallen ist, in das dein Vater aber leider hineinpasste."

    „Dann wird es Ihr Job sein, dieses Muster zu finden, damit die Polizei ihn fangen kann!"

    „Könntest du bitte Du zu mir sagen?"

    „Wenn Sie woll… wenn du willst. Also: Wenn es der Serienmörder war, dann möchte ich, dass Sie das Muster finden und bei der Überführung des Täters helfen. Zunächst aber sollen Sie … sollst du aber herausfinden, ob es wirklich der Serienkiller gewesen ist."

    Der Junge war offenbar kaum von seiner Idee abzubringen.

    Wieder dachte Sam eine Weile nach. Dann fragte sie: „Warum möchtest du Geld für jemanden ausgeben, der vielleicht nicht einmal so gut ist wie die Polizei?"

    „Wenn Sie … wenn du nicht gut bist, dann will ich dich nicht."

    „Hoppla! Ich habe nicht gesagt, dass ich nicht gut bin. Aber mir fehlen einige Informationen, die nur die Polizei hat. Ich habe keine Einsicht in die Polizeiakten, und das macht es mir in Mordfällen verdammt schwer."

    „Sind Sie gut oder nicht?", fragte Daniel, ohne sich nochmals damit aufzuhalten, das Sie in ein Du zu korrigieren.

    „Ich bin gut, sonst würde ich den Job nicht machen."

    „Na also, dann ist mein Geld ja richtig angelegt. Weißt du, mein Vater hat so viel Geld, dass wir es kaum ausgeben können. Seine Firmen machen immer mehr Geld. Warum sollte ich also nicht einen kleinen Teil für ihn nutzen? Immerhin hat er dafür gearbeitet, und er verdient es nun, dass jede Möglichkeit genutzt wird, um seinen Mörder zu finden. Wahrscheinlich reichen die 2.800 Euro nicht, aber selbst wenn es das Zehnfache wäre, ist es im Verhältnis so gut wie nichts."

    „Wie stellst du dir das Ganze eigentlich vor? Ich müsste doch auch mit Ingrid reden. Was sage ich ihr dann, wer mich beauftragt hat?"

    Er zögerte. Es dauerte lange, und er trank mehrfach von seinem Kakao. „Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht." Seine Unsicherheit kam zurück.

    Sam ließ ihn nachdenken und war gespannt, auf was er nun kommen würde. Irgendwann hellte sich sein Gesicht kaum merklich auf. Einen Moment schien er noch an der Formulierung zu arbeiten, dann trug er seine Gedanken vor: „Da ich dich dafür bezahlen werde, solltest du auch Ideen für die Umsetzung liefern, oder? Immerhin hast du mehr Erfahrung damit als ich."

    Einen Augenblick sah Sam den Jungen verdutzt an, dann lachte sie laut auf. „Das war eine gute Antwort, das muss ich dir lassen."

    „Und? Wirst du es machen?"

    Während Daniel in seine Überlegungen vertieft gewesen war, hatte Sam einen Entschluss gefasst. Seine Antwort führte dazu, dass sie nun alles ein wenig umformulieren musste, aber die Quintessenz blieb die gleiche. Ob ihr Vorschlag für ihn akzeptabel sein würde, war ihr egal. Es war die einzige Möglichkeit, unter der sie für einen Minderjährigen arbeiten konnte.

    „Du musst dich auf Folgendes einlassen: Wir werden zusammen mit Ingrid reden. Ich sehe kein Problem darin, wenn sie weiß, dass du mich kontaktiert hast, um den Mörder deines Vaters zu suchen. Sie muss ja nicht wissen, dass du sie verdächtigst. Im Gegenteil: Wir werden es so hinstellen, dass du ihr vertraust und sie deshalb einweihst. Dann kann ich ganz frei recherchieren und auch mit ihr reden, ohne dass es auffällt. Außerdem bin ich sehr auf ihre Reaktion gespannt. Wenn sie partout dagegen ist, werde ich mich fragen, warum. Ist sie einverstanden, werde ich ein wenig sicherer sein, was die Bezahlung betrifft. Nicht, dass ich dir misstraue, aber laut Gesetz darf ich mit dir gar keine Geschäfte in dieser Größenordnung abschließen. Ich lese in deinen Augen, dass dir das nicht gefällt, aber für mich ist es die einzig sinnvolle Möglichkeit. Denke einmal drüber nach. Es hätte überhaupt keine Nachteile für dich. Und aus meiner Sicht kann ich dir sagen: Entweder so, oder gar nicht."

    Daniel kaute auf seiner Unterlippe, während er sich ihren Vorschlag durch den Kopf gehen ließ. Einerseits hoffte Sam, dass er ablehnen und sich einen anderen Detektiv suchen würde. Andererseits war sie neugierig geworden. Der Junge hatte verdammt recht damit, dass sein Vater in kein offensichtliches Schema passte. Der Auftrag reizte sie. Nicht, weil sie Ingrid verdächtigte, sondern weil es wirklich ein sehr interessanter Fall war. Dabei war ihr klar, dass sie kaum über die Mittel verfügte, die sie für einen Serienmordfall benötigen würde. In jedem Fall konnte sie aber ein bisschen in andere Richtungen recherchieren, als die Polizei es tat.

    Daniel dachte so lange nach, dass Sam sich genötigt fühlte zu fragen: „Hast du Angst, es ihr zu sagen? Glaubst du, sie schlägt dich, wenn sie davon erfährt?"

    „Nein. Sie hat mich noch nie geschlagen, und ich glaube auch nicht, dass sie es tun würde. Aber ich würde mich komisch dabei fühlen, wenn ich es ihr erzähle."

    „Komisch fühlen? Ich sage dir mal etwas, junger Mann: Du hast ein Ziel, denn du möchtest den Mörder deines Vaters finden. Für dieses Ziel bist du bereit, viel Geld auszugeben. Du hast dich mit einer Detektivin getroffen und warst Manns genug, ihr von deinem Verdacht und den Hintergründen zu erzählen. Das finde ich für jemanden in deinem Alter bemerkenswert. Aber das alles wird null und nichtig sein, wenn du irgendwo durchhängst. Entweder du gehst den einmal eingeschlagenen Weg zu Ende, oder du hättest gleich zuhause bleiben sollen. Du wirst dich komisch fühlen? Gut, dann fühle dich verdammt noch mal komisch! Wenn du das nicht bringst, dann lasse die Polizei den Job machen."

    Nachdem sie ihre Standpauke beendet hatte, taten ihr die Worte bereits leid. Nicht, weil sie eventuell die Gefühle des Jungen verletzt hatte, sondern vielmehr weil sie befürchtete, ihn umstimmen zu können.

    Auf der Unterlippe kauend sah Daniel in seine mittlerweile leere Tasse. Sam konnte förmlich sehen, wie es in seinem Kopf arbeitete. Dann sah er auf und erklärte: „Wenn ich mit Ingrid rede, wirst du den Auftrag annehmen?"

    „Ja, das werde ich. Wenn ich irgendwann der Meinung bin, dass ein Weitermachen nicht mehr sinnvoll ist, werde ich aufhören. Aber zunächst nehme ich mir alle möglichen Alternativen vor und beleuchte sie. Einen Erfolg kann und werde ich nicht versprechen oder garantieren."

    „Gut. Ich werde noch heute mit Ingrid reden und mich dann bei dir melden. Er stand auf und reichte Sam die Hand. „Danke. Ich habe das Gefühl, an die Richtige geraten zu sein.

    „Setz dich wieder, sagte Sam, während sie selbst aufstand und ihm die Hand gab. „Du musst noch bezahlen. Spesen gehen immer auf Kosten des Auftraggebers.

    5 | Gregor

    Auf dem Weg nach Hause besorgten sie sich eine Tageszeitung. Wie Sam gehofft hatte, gab es einen Artikel zum letzten Mord. Und nicht nur das: Zur Überschrift „Das ist der Rhein-Main-Ripper!" gab es das allererste Fahndungsfoto von dem Täter!

    Scheinbar war das Bild von einer Videoüberwachungsanlage im Bürogebäude des letzten Opfers gemacht worden. Die Aufnahme war schwarzweiß und zeigte eine relativ große Gestalt in einem schwarzen, langen Mantel. Der obere Teil des Gesichts wurde von einem unmodernen Hut mit breiter Krempe verdeckt, der untere Teil durch einen Schal. Es konnte sich ebenso gut um eine Frau wie um einen Mann handeln.

    Die schwarze Hose sah weniger nach Jeans als nach Stoffhose aus, aber die Qualität des Bildes gab durchaus Spielraum für Irrtümer. Der leichte Glanz der dunklen Schuhe ließ auf frisch geputztes, schwarzes Leder oder Lack schließen.

    Dem Bericht konnte Sam wenig mehr entnehmen, als dass es sich eindeutig um den Killer handeln musste, weil die Uhrzeit der Aufnahme mit der Todeszeit übereinstimmte. Außerdem schätzte die Polizei die Größe auf 1,86 Meter. Das wiederum deutete für Sam sehr eindeutig auf ein männliches Geschlecht hin, so dass sie eine Frau zunächst ausschloss. Eines Besseren belehren lassen konnte sie sich später immer noch.

    Im Weiteren beschäftigte sich der Bericht damit, dass diverse Beweise und die Art der Verstümmelungen einen klaren Bezug zu den anderen Morden herstellten. Details zu den Verstümmelungen gingen aus dem Artikel nicht hervor.

    „Willst du dem Jungen tatsächlich Geld dafür abnehmen, dass du ihm am Ende doch nicht weiterhelfen kannst?", fragte Nika, während sie auf dem Weg zum Frankfurter Stadtteil Hausen waren, um ein paar Dinge von Nika zu holen.

    „Auf gar keinen Fall, antwortete Sam. „Ich will das Geld von der Stiefmutter haben.

    „Meinst du, sie gibt es dir? Die wird doch alles andere als begeistert von der Idee sein."

    „Wir werden sehen."

    „Und wo willst du anfangen zu recherchieren?"

    „Zunächst sehe ich, was im Internet noch alles zu finden ist. Dann versuche ich, gute Beziehungen zu nutzen." Dabei lächelte sie verschmitzt vor sich hin.

    „Gregor?"

    Sam gab keine Antwort, was für Nika genug Bestätigung zu sein schien. „Ich werde dir heute bei den Internetrecherchen nicht allzu viel helfen können", wechselte das Mädchen das Thema.

    Sam schmunzelte erneut, was ihr die Frage von Nika einbrachte: „Was ist los?"

    „Nichts." Dazu gab Sam ein herzhaftes Lachen als Antwort.

    „Nun sag schon!", drängte Nika.

    „Ich lache nur über mich selbst, weil ich dich in Gedanken immer noch als Mädchen bezeichne, obwohl du mit deinen 22 Jahren nur wenig jünger bist als ich. Aber du siehst echt aus wie ein Mädchen, das kurz davor ist, ihr Abitur zu machen."

    „Lach du nur. Wenn wir 40 sind, dann werde ich es sein, die lacht", versprach die Studentin.

    Nach einem weiteren Lachen fragte Sam interessiert: „Was hast du denn heute noch vor, dass du mir nicht helfen kannst?"

    „Wir haben heute Abend Probe. Nika stutzte einen Moment, dann sagte sie: „Habe ich dir davon eigentlich schon erzählt? Ich spiele in einer Band. In zwei Monaten haben wir einen Gig.

    „Du hast es mal erwähnt, ja, antwortete Sam. „Du spielst E-Gitarre, oder? Was für Musik macht ihr denn?

    „E-Gitarre und Stimmbandgeige. Allerdings mache ich nur Background Vocals. Wir machen Rockmusik."

    „Wow, meine Süße ist ein Rockstar!"

    „Soweit sind wir noch nicht. Wir spielen eigentlich nur, weil wir Spaß daran haben. Ich glaube nicht, dass wir irgendwann groß herauskommen oder so. Dazu machen wir es einfach nicht ernsthaft genug."

    „Aber ihr seid gut genug, um einen Auftritt zu haben", stellte Sam fest.

    „Klar, wir sind nicht schlecht. By the way: Darf ich mir für den Auftritt ein paar Klamotten von dir ausleihen?"

    Sam zog eine Augenbraue hoch. „Was möchtest du denn haben?"

    „Die Sachen, die ich im Grande Opera anhatte."

    Während der Ermittlungen zu ihrem letzten Fall hatte Sam ihre Freundin überredet, bei einem Besuch des SM- und Fetisch-Clubs mitzukommen. Da Sam dort als dominante Persönlichkeit bekannt war, hatte Nika als Sams Sklavin gehen müssen. Eigentlich hatte Sam erwartet, dass Nika nicht so gerne daran erinnert wurde. In einer bestimmten Situation hatte Sam sich genötigt gefühlt, ihre Freundin für eine Weile an einem Bock festzubinden. Danach hatten die Blicke von Nika förmlich Gift gesprüht.

    Wenn sie nun die gleichen Kleider, die sie an besagtem Abend getragen hatte, für ihren Auftritt haben wollte, konnte die Erinnerung daran ja nicht ganz so schlimm sein.

    „Klar kannst du sie dir nehmen. Dann ist es auch egal, wie gut ihr spielt. Du wirst so sexy aussehen, dass die Leute dich lieben werden, besonders die Jungs. Wo probt ihr eigentlich?"

    „Wir haben eine kleine Halle im Gallusviertel gemietet. Da ist rundherum nichts außer anderen Hallen, und wir können so laut sein, wie wir wollen. Um acht muss ich da sein."

    „Okay. Vielleicht kann ich ja Gregor dazu überreden, heute Abend mal zu kommen", dachte Sam laut nach.

    „Werdet ihr dann auch Sex haben?", platzte Nika heraus.

    Die Detektivin drehte sich zu ihr um und erkannte, dass sie rot wurde. „Vermutlich", antwortete Sam knapp. Dabei versuchte sie, Nikas Gedanken zu ergründen. Es regte sich aber keine Mine im Gesicht ihrer Freundin, das von Haaren im Prinz-Eisenherz-Schnitt umrahmt wurde.

    „Ich wäre ja schon mal neugierig darauf, da zuzusehen", sagte Nika dann. Sam überlegte, ob sie einen verletzten oder bitteren Unterton in Nikas Stimme feststellen konnte, fand aber beides nicht.

    „Keine Chance, gab sie zurück. „Wenn du eine Domme wärst, dann könnte ich es einrichten, aber so …

    „Wie soll ich denn wissen, ob es mir gefallen würde, in eine dominante Rolle zu schlüpfen, wenn ich nie sehe, was dabei so passiert?"

    Jetzt erkannte Sam, dass Nika ein Schmunzeln zu unterdrücken versuchte, und fragte: „Meinst du, es würde dir gefallen?"

    „Nein, kam prompt die Antwort. Jetzt hielt auch Nika ihr Lachen nicht mehr zurück. Dann stellte sie fest: „Ich fahre nach der Probe am besten nach Hause.

    „Das ist in der Tat besser." Sam überlegte kurz, ob sie Nika sagen sollte, dass es kein Problem sei, wenn sie spät in der Nacht noch käme. Dann entschied sie sich dagegen. Nika hatte sich in dem Wissen auf Sam eingelassen, dass es regelmäßig Kontakte zu Männern geben würde. Je früher sie damit direkt konfrontiert wurde, umso schneller konnte Sam erkennen, ob Nika nur groß mit Worten war, oder ob diese Worte auch Gehalt hatten.

    Sie erreichten die Straße, in der Nika wohnte. „Ich bin gleich wieder da", sagte sie beim Aussteigen und warf die Tür zu.

    Während Nika loszog, wählte Sam die Nummer von Gregor. Er meldete sich sofort: „Sam! Du bist also raus aus dem Krankenhaus. Wie geht es deiner Wunde?"

    „Relativ gut, danke. Ich bin schon wieder fleißig unterwegs. Nika spielt den Chauffeur."

    „Du solltest etwas auf dich aufpassen."

    „Keine Sorge, das tue ich. Sag mal, hast du heute Abend Zeit?"

    „Ich arbeite bis sieben. Danach habe ich noch nichts vor."

    „Hast du Lust, zu mir zu kommen?"

    Es vergingen einige Sekunden, bevor Gregor antwortete: „Da es selten ist, dass du anrufst um zu fragen, ob ich komme, vermute ich, dass du irgendetwas anderes von mir willst, als mit mir zu spielen."

    „Ja, ich möchte mit dir über etwas reden. Allerdings schließt das eine das andere ja nicht aus, oder?"

    „Okay. Ich kann um halb acht bei dir sein, dann können wir uns unterhalten. Ob ich für ein Spiel dableiben kann, möchte ich nicht versprechen. Je nachdem, ob mir noch etwas einfällt, was ich meiner Frau erzählen kann."

    „Mach dir keinen Stress. Ich würde mich zwar wirklich freuen, aber ich kann auch warten, bis du wieder Zeit hast."

    „Ich sehe zu, was ich machen kann. Gibst du mir noch ein Stichwort, worum es in dem Gespräch gehen wird?"

    „Der Rhein-Main-Ripper?", schlug Sam vor und ließ es sich wie eine Frage anhören.

    Nach einer kurzen Pause sagte er: „Ich bin gegen halb acht bei dir. Bis dann." Schon war die Verbindung unterbrochen.

    Es dauerte nicht lange, bis Nika mit einer großen, schwarzgelben Sporttasche kam, die sie in den Kofferraum warf. „Mama hat mir selbstgebackene Kekse eingepackt. Du wirst sie lieben."

    „Deine Mama? Hattest du mir nicht mal erzählt, dass deine Mutter deinem Vater weggelaufen sei?"

    „Habe ich das schon erzählt? Normalerweise gehe ich damit nicht so schnell hausieren. Aber es stimmt. Sie hat meinen Vater schon vor sehr vielen Jahren verlassen. Gidi ist eigentlich meine Stiefmutter, aber ich bin mit ihr aufgewachsen und sie ist wundervoll. Für mich ist sie Mama und für sie bin ich ihre Tochter."

    „Ihr versteht euch also gut?"

    „Wir verstehen uns super. Du wirst sie irgendwann kennen lernen."

    6 | Austausch

    „Zieh dein T-Shirt aus!", sagte Nika, während sie sich bereits für die Musikprobe fertig machte.

    „Willst du mich noch mal vernaschen, bevor du gehst?", fragte Sam überrascht.

    „Quatsch. Ich will nur nachsehen, ob der Verband noch richtig sitzt. Wenn Gregor kommt, sollst du deinen Spaß und keine Probleme mit der Wunde haben."

    „Du erstaunst mich immer wieder aufs Neue, Kleines", antwortete Sam und

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