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Emscher-Boogie: Ein Ruhr-Blues-Kriminalroman
Emscher-Boogie: Ein Ruhr-Blues-Kriminalroman
Emscher-Boogie: Ein Ruhr-Blues-Kriminalroman
eBook351 Seiten4 Stunden

Emscher-Boogie: Ein Ruhr-Blues-Kriminalroman

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Über dieses E-Book

Freddy Spiekers zweiter Fall: Freddy Spieker ist Bluesmusiker im Ruhrgebiet und neuerdings Privatdetektiv. Als er beschließt, sich wieder ganz seiner Musik zu widmen, erhält er einen lukrativen Auftrag und stößt auf ein bisher nicht aufgeklärtes Verbrechen. Je mehr er nachforscht, umso mehr gerät er in turbulente Abenteuer.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum6. Okt. 2020
ISBN9783347155220
Emscher-Boogie: Ein Ruhr-Blues-Kriminalroman
Autor

Peter Reidegeld

Peter Reidegeld, geboren 1960 in Gelsenkirchen und seit vielen Jahren in Bochum wohnhaft, ist ein echtes Kind des Ruhrgebietes. Seine jahrelangen Erfahrungen und Erlebnisse in der Blues-Szene hat er jetzt in einem Kriminalroman verarbeitet. Die Ereignisse rund um seinen eigenwilligen Protagonisten und Blues-Bassisten Freddy Spieker sind sein erster Roman.

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    Buchvorschau

    Emscher-Boogie - Peter Reidegeld

    1

    Der Mann saß auf einem alten Holzstuhl. Er war benommen. Er hörte diese schrille Stimme, die in seinen Ohren schmerzte, konnte aber ihren Sinn nicht erfassen. Ihm war, als müssten die Teile seines Verstandes wie einzelne Puzzlestücke wieder zusammengefügt werden.

    Ihm war übel. Plötzlich musste er sich heftig übergeben. Er fand nicht die Zeit, sich weiter vorzubeugen, sodass das Erbrochene auf seiner Hose landete.

    »Iiiiiiiiiiiih …!«

    Wieder schmerzte es in seinen Ohren. Die Stimme kam ihm bekannt vor. Im nächsten Moment fiel ihm ein, dass es die seiner Tochter Tanja sein musste.

    Er keuchte und wollte sich den Mund abwischen. Aber es ging nicht. Seine Hände waren auf dem Rücken zusammengebunden. Er brauchte einen weiteren Moment, um dies zu realisieren.

    Als er den Kopf drehen wollte, um zu sehen, wie seine Hände fixiert waren, spürte er, dass etwas um seinen Hals gelegt war. Das grobe Seil kratzte auf seiner Haut.

    Was war geschehen? Seine Erinnerung ließ ihn im Stich.

    Er schaute nach oben und dabei direkt in das Licht einer Taschenlampe. Es brannte in seinen Augen. Er drehte den Kopf mit einem Stöhnen zur Seite.

    Speichel und Schleim tropften aus seinem offenen Mund und vermengten sich mit dem Erbrochenen. Er versuchte zu spucken. Es gelang ihm nicht.

    »Jetzt hat sich das alte Schwein auch noch vollgekotzt.«

    Den verächtlichen Tonfall kannte er gut.

    »Hanna?«

    Seine Stimme krächzte, als er den Namen seiner Frau aussprach. Im nächsten Moment musste er husten. Beim Sprechen hatte er bemerkt, dass der Strick um seinen Hals doch ein wenig strammer war, als er zunächst bemerkt hatte.

    »Hanna?!«

    Seine Stimme klang jetzt schon kräftiger. Die Puzzleteile in seinem Kopf setzten sich nach und nach zusammen.

    Allmählich dämmerte es ihm, dass Hanna für seine Lage verantwortlich war. Ärgerlich versuchte er sich mit heftigen Armbewegungen von den Fesseln zu befreien. Er scheiterte.

    »Ja, mein Gebieter?«

    Die höhnische Antwort war typisch für sie.

    »Nimm die verdammte Taschenlampe weg! Was soll das das ganze Theater hier?«

    Er wurde klarer und spürte den Schmerz an verschiedenen Stellen seines Körpers. Was hatten sie mit ihm gemacht? Wo war er? Dem muffigen Geruch und der Dunkelheit außerhalb des Scheins der Taschenlampe nach befand er sich im Keller. Wie war er dort hingekommen? Er erinnerte sich an das gemeinsame Abendessen. Es war wie immer. Seine Frau war offensichtlich schlecht gelaunt, was keine Seltenheit war. Merkwürdig kam ihm nur vor, dass seine Tochter mit am Tisch gesessen und sich nicht wie üblich mit einem dürftigen Bissen in ihr Zimmer zurückgezogen hatte.

    Ab da hatte er einen Blackout.

    »Macht mich los! Seid ihr bescheuert? Soll das ein Witz sein?«

    Hanna lachte hässlich. »Dreimal darfst zu raten, warum du hier sitzt! Meine Frage vorhin hast du ja offensichtlich vergessen.«

    »Wenn ihr mich nicht augenblicklich losmacht, schlage ich euch windelweich.«

    »Horst, Horst, Horst!«, erwiderte Hanna mit gespieltem Bedauern. »Du mieser, kleiner Drecksack! Jetzt wirst du für all das büßen, was du uns angetan hast.«

    Sein Kopf dröhnte, aber er war wieder bei klarem Verstand. Eine Ahnung überkam ihn. Dennoch leugnete er.

    »Ich weiß nicht, was du meinst.«

    »Und ob du das weißt! Verarsch uns nicht!«

    Das war Tanja. Sie hörte sich an wie ihre Mutter, als sie jung war. Hannas freche Art hatte ihn damals heiß gemacht, als sie sich kennenlernten.

    Er versuchte aufzustehen, aber seine Beine waren an die Stuhlbeine gebunden. Jetzt konnte er erkennen, dass es offenbar starkes Textilband war. Seine Arme waren auf die gleiche Art zusammengebunden.

    Wütend ruckelte er hin und her, in der Absicht zu Fall zu kommen und dabei den Stuhl zu zerbrechen. Aber dieser wurde von den beiden Frauen festgehalten.

    »Ruhig Blut! Das nützt dir nichts. Erst musst du uns sagen, was du damit gemacht hast.«

    Zunächst hatte er den Impuls zu fragen, was Hanna mit »damit« meinte. Aber es wusste es.

    Wie waren sie nur darauf gekommen? Er hatte das Bargeld, den Schmuck aus dem Einbruch vor einem Jahr und das Sparbuch doch im Schließfach. Und den Schlüssel trug er immer bei sich. Er entschied sich, zunächst weiter den Unschuldigen zu spielen.

    »Reg‘ dich nicht auf! Es ist in Sicherheit!«

    Die Taschenlampe war weiterhin auf sein Gesicht gerichtet. Er konnte nicht erkennen, ob sie ihm glaubten.

    Einen Moment lang herrschte Schweigen.

    »Und weiter?« Hannas Stimme klang ungeduldig.

    »Nichts weiter! Ich habe es bei einer anderen Bank eingezahlt. Eine kleine Geldwäsche sozusagen.«

    »Und bei welcher Bank?«

    »Einer kleinen Privatbank am Rande des Ruhrgebiets.«

    »Name?«

    »Kennst du eh‘ nicht!«

    Sie packte ihn an Haaren und zog seinen Kopf mit einem Ruck nach hinten. Er schrie auf.

    »Wie heißt diese scheiß Bank und warum hast du mir davon nichts gesagt?« Sie kreischte. Er spürte ihren heißen Atem auf seinem Gesicht.

    Es war schwierig, sich in dieser Situation eine neue Lüge einfallen zu lassen. Irgendein Name musste her, um Zeit zu gewinnen. Ein Fantasiename. Irgendwann mussten sie ihn losmachen.

    »Danhofer Institut!«

    Er hatte nicht die geringste Ahnung, wie er auf diesen Namen gekommen war. Vielleicht hatte er irgendetwas in der Werbung gesehen.

    »Nie gehört!«

    »Sag‘ ich doch.«

    »Google das mal.«

    Seine Tochter hatte ihr Smartphone sofort zur Stelle. In Zeiten des Internets konnten sich Lügen schnell verbreiten. Oder auch sehr kurze Beine haben.

    »Häh! Hier steht irgend so ein Quatsch von Musikschule Graz!«

    Hanna versetzte ihm eine Ohrfeige. Es fühlte sich für ihn an, als habe sie mit einem Baseballschläger zugeschlagen. Das Mittel, das sie ihm offensichtlich ins Essen gemischt hatte und das für seine Ohnmacht verantwortlich war, hatte Nachwirkungen. Heftiger Kopfschmerz machte ihn erneut benommen.

    »Was hast du mir da ins Essen gemischt, du verdammte Schlampe?«

    Hanna lachte. »Schon mal was von K.O.-Tropfen gehört? Scheinen dir nicht besonders gut zu bekommen! Tanja und ich waren auch nicht zimperlich, als wir dich schweren Sack die Treppe hinunter geschleift haben. Oder hat dich der Strick um deinen Hals kotzen lassen?«

    Sie hielt die Taschenlampe zur Seite und sah ihm direkt ins Gesicht. »Ich fand es merkwürdig, dass du in letzter Zeit so gut gelaunt warst. Und als du dann so komisch reagiert hast, als ich den Schlüssel für das Schließfach haben wollte, dachte ich mir, ich lass dich mal ’ne Runde schlafen, Tanja hineinschauen und das Sparbuch holen.«

    Sie kramte das rote Heftchen hervor, blätterte auf die letzte Seite mit den Einträgen und hielt es ihm direkt vors Gesicht. »Erklär’ mir das mal! Und wo ist das Bargeld hin? Wenn du mich noch einmal anlügst, werde ich mir noch ganz andere Dinge für dich einfallen lassen!«

    »Hanna, hör‘ auf mit dem Scheiß! Das Geld ist in Sicherheit.« Seine Gefühle schwankten zwischen Panik, Wut und der Hoffnung, sie wieder herumkriegen zu können. Wenn er ihr in der jetzigen Situation die Wahrheit sagte, musste er damit rechnen, dass sie ihm spontan etwas antun würde.

    »Wenn du mich losmachst, werde ich dir alles erklären.«

    Er hatte nicht die leiseste Absicht, ihr die Wahrheit zu sagen. Sobald sie ihn befreit hätte, würde er sie zunächst zusammenschlagen, seiner Tochter ein paar kräftige Ohrfeigen geben, sie aufs Zimmer schicken und erklären, dass er das Geld verspielt habe und sie verdammt nochmal aufhören sollten, ihn als Lügner zu bezeichnen. Sodann würde er ein paar Sachen zusammenpacken und so schnell wie möglich verschwinden. Länger konnte er nicht warten. Er hatte seinen Abgang zwar anders geplant, aber da die beiden nun mal bemerkt hatten, dass das Geld nicht mehr da war, blieb ihm keine Wahl mehr.

    Es herrschte Stille im Raum. Er hörte nur seinen eigenen schweren Atem. Er versuchte es auf die weiche Tour.

    »Ich verstehe, dass ihr sauer seid. Okay, vielleicht hätte ich es euch vorher sagen sollen, aber ich wollte nur unser Bestes. Das müsst ihr mir glauben.«

    Wenn es für ihn kritisch wurde, war es ihm bisweilen mit dieser Masche gelungen, seinen Willen durchzusetzen.

    »Na gut! Binde seine Beine los!«

    »Aber, Mama!«

    »Du sollst seine Beine losmachen, habe ich gesagt!«

    Der Hauch eines Lächelns huschte über sein Gesicht. Die Panik verflog. Er war sich sicher, bald wieder Herr der Lage zu sein. Es kam sogar ein wenig Vorfreude darüber auf, dass er die beiden bald ordentlich verdreschen würde.

    Er spürte, wie seine Tochter ihm das Band von seinen Beinen löste.

    Schließlich konnte er mit wackeligen Beinen aufstehen. Seine Arme waren nicht mit der Stuhllehne zusammengebunden worden, sodass er sie einfach abstreifen konnte. Er erwartete, dass sie ihm jetzt die Handfesseln lösen würde.

    Stattdessen verschwand die Taschenlampe vor seinem Gesicht. Seine Augen brauchten einen Moment, um sich von der starken Blendung zu erholen. Allmählich erkannte er Tanjas Gesicht. Sie starrte ihn hasserfüllt an.

    Er wollte sie gerade anfahren, worauf sie denn noch wartete, als der Strick seinen Hals so stark nach oben zog, dass ihm die Luft wegblieb.

    »Steig auf den Stuhl!«

    Hannas Stimme klang merkwürdig ruhig.

    Das irritierte ihn.

    Je hysterischer sie war, umso mehr war er sich sicher, dass er sie mit Gewalt wieder gefügig machen konnte. Ihr anschließendes Gewimmer war immer ein Triumph für ihn.

    Jetzt hatte sie Gewalt über ihn. Das musste er so schnell wie möglich ändern. Er versuchte, mit heftigen Bewegungen zu reagieren. Nebenbei bemerkte er, dass Tanja aus seinem Blickfeld verschwand und sich der Zug auf seinen Hals verstärkte. Er röchelte. Bald würde sein Sauerstoffvorrat aufgebraucht sein.

    »Du sollst auf den Stuhl steigen, habe ich gesagt!«

    Einen Moment lang versuchte er sich zu befreien. Woher hatten die beiden nur diese Kraft?

    Als er bemerkte, dass er kurz vor der Ohnmacht stand, begann er auf den Stuhl zu steigen, was in dieser Situation nicht so einfach war. Er musste sich zur Seite drehen und mit verbundenen Händen aufsteigen, ohne den Stuhl sehen zu können.

    Im ersten Versuch warf er ihn um. Er bemerkte, dass sich der Strick um seinen Hals etwas lockerte und dass der Stuhl wieder aufgestellt wurde.

    »Los jetzt!«

    Einen kurzen Moment dachte er daran, eine Ohnmacht vorzutäuschen. Seine Panik ließ dies jedoch nicht zu. Beim zweiten Versuch gelang ihm der Aufstieg unter größten Schwierigkeiten. Er spürte, dass Tanja ihn stabilisierte und den Stuhl festhielt. Fast hätte er sich für die Hilfestellung bedankt.

    Keuchend und nass geschwitzt stand er endlich oben. Der stramm gespannte Strick ließ ihm gerade so viel Luft, dass er leise sprechen konnte. Er erkannte jetzt die Ziegelsteine des Kellergewölbes. Die Metalltür war geschlossen. Ob ihn jemand hören würde, wenn er um Hilfe schrie?

    Tanja blickte mit verschränkten Armen und grimmigem Blick zu ihm hinauf. Ihre rot gefärbten Haare, die Tattoos auf ihren Unterarmen und die stabförmigen Piercings in ihren Ohren gaben ihr etwas Diabolisches. Nie hätte er gedacht, dass er einmal Angst vor seiner Tochter verspüren würde.

    Er blickte zur Seite und sah, wie Hanna den Strick an einem der unterhalb der Decke entlang führenden metallenen Wasserrohre verknotete. Oberhalb führte das Seil durch einen an der Decke befestigten stabilen Haken.

    Hanna stellte sich neben ihre Tochter. »Na, meine geliebter Ehegatte. Möchtest du uns etwas sagen?«

    Das Sprechen fiel ihm schwer. Die nächste Lüge fiel ihm spontan ein. »Das Geld ist im Ausland.«

    »Im Ausland? Lass mich raten, in der Schweiz?«

    Hanna klang so, als habe sie den Köder geschluckt.

    »Genau. Da kommt kein noch so raffinierter Fahnder dran.«

    »Und wie ist es dort hingekommen?«

    »Ich habe meinen alten Kumpel Jens beauftragt, dahin zu fahren und es sicher anzulegen. Er hatte dort selbst geschäftlich zu tun. Hat mich zwar zweitausend gekostet, aber es hat funktioniert.«

    Hanna lachte laut auf. »Als ob du jemandem so viel Geld anvertrauen würdest. Und ausgerechnet Jens, der würde alles Mögliche mit der Kohle anstellen, aber nicht für dich in der Schweiz deponieren. Und selbst wenn es stimmen würde, warum verschweigst du uns solch eine Aktion?«

    Sie kam näher an ihn heran, packte seine Hoden und drückte zu. Ein kurzer Schrei entfuhr ihm.

    »Ich will dir sagen warum. Du wolltest dich mit der Kohle aus dem Staub machen. Du hättest dir dann ein schönes Luxusleben gegönnt. Wir hätten von scheiß Hartz IV leben können.«

    Sie ließ ihn los und betrachtete ihn verächtlich.

    »Komisch! Früher hast du immer einen Ständer bekommen, wenn ich deine Eier gequetscht habe.«

    Tanja lachte kurz, verstummte aber, als ihre Mutter sie mit einem strengen Blick bedachte.

    Horst atmete laut, der Schmerz ließ langsam nach. Fieberhaft dachte er nach, wie er der Situation entkommen konnte. Die Wahrheit war dabei die allerletzte Option. Dann wäre er erledigt. Er hatte trotz seiner kritischen Lage nicht die geringste Absicht, das Geld mit dieser Schlampe, mit der jetzt schon lange genug verheiratet war, zu vergeuden. Sie war in die Jahre gekommen, kurz vor ihren fünfzigsten.

    »Du Arschloch!«, schrie Hanna. »Du willst mir doch nicht ernsthaft solch einen Scheiß verkaufen. Du lässt Jens mit der ganzen Kohle in die Schweiz fahren, ohne auch nur im geringsten eine Sicherheit zu haben, dass du jemals an das Geld herankommst? Für wie blöd hältst du mich eigentlich?«

    Sie hatte sich derart in Rage geredet, dass ihm einerseits klar wurde, dass er sie von dieser Version nicht überzeugen konnte, andererseits verlor sie zusehends die Kontrolle über sich. Dies war gefährlich, konnte aber auch ein Vorteil für ihn sein. Vielleicht würde er sich befreien können.

    Sie stand jetzt in einer Entfernung von ihm, dass er sie mit einem gezielten Tritt an den Kopf außer Gefecht setzen konnte. Dann war zwar noch Tanja da. Aber er war sich sicher, sie ohne den Einfluss ihrer Mutter und mit einer neuen Lüge wieder gefügig machen zu können. Gleichzeitig versuchte er, den Kopf in der Schlinge in eine Stellung zu drehen, die es ihm ermöglichte, herauszuschlüpfen. Dies war nicht so einfach, da zum einen das Seil um seinen Hals recht straff und zum anderen der Zug nach oben etwas locker war, sodass er dann ein wenig in die Hocke würde gehen müssen.

    In dem Moment als er sein rechtes Bein mit aller Kraft zur Seite schwang, so wie er früher die Eckbälle in seinem Fußballverein getreten hatte, war er überzeugt, dass er Erfolg haben würde. Er hatte nicht einkalkuliert, dass sein letztes Match viele Jahre her war und er infolge der K.O.-Tropfen weiche Knie hatte.

    Das Bein verfehlte Hanna zudem um Haaresbreite. In einer Reaktion, die er ihr nicht zugetraut hätte, wich sie aus, wodurch sein Bein hoch nach oben schwang, während das andere wegknickte. Im gleichen Moment kippte der Stuhl mit einem Ruck zur Seite.

    Das Seil spannte sich heftig unter dem beachtlichen Gewicht von einhundert Kilogramm.

    Als sie das hässliche Knacken hörten, ahnten Hanna und Tanja, dass sie als Erben dieses Mannes leer ausgehen würden.

    2

    Die Röhren des Gitarrenverstärkers glühten hellrot. Die Lautstärke war vergleichbar mit der eines startenden Düsenjets. Der junge Gitarrist drosch auf sein Instrument ein, als wolle er auf jeden Fall vermeiden, dass die Saiten hielten. Mit dem letzten Akkord schaffte er es, die hohe E-Saite zu durchtrennen.

    Sein Arm schwang windmühlenartig nach. Das hatte er einmal bei Pete Townshend von The Who gesehen und er hielt es für einen guten Showeffekt. So beeindruckte man sein Publikum.

    Seine Ekstase legte sich. Er sah sich erwartungsfroh im Musikproberaum um. Er hatte nicht mitbekommen, dass der Rest der Band längst zu spielen aufgehört hatte. Die Lautstärke seiner E-Gitarre hatte alles andere übertönt und jetzt schaute er in eine Reihe skeptischer Gesichter.

    Was hatten die anderen denn? Die mussten doch völlig begeistert sein von seinem Spiel. Einen besseren neuen Gitarristen konnten sie gar nicht bekommen.

    Einen Moment lang herrschte Stille. Nur sein voll aufgedrehter Verstärker brummte einsam vor sich hin. Irritiert sah er von einem zum anderen.

    Schließlich räusperte sich der stämmige Bassist, der ihn zum Vorspielen eingeladen hatte, und kratzte sich nachdenklich am unrasierten Kinn.

    »Ja, so schon mal gar nicht!«, war der knappe und vernichtende Kommentar.

    Er hatte sich als Freddy Spieker vorgestellt. Der Gitarrist hatte bereits beim ersten Telefonat gemerkt, dass der Mann keine großen Worte machte, sondern umgehend auf den Punkt kam.

    Freddys angedeutete Vokuhila-Frisur schwang ein wenig hin und her, als er langsam den Kopf schüttelte.

    »Wir spielen hier kein Death Metal, sondern Blues.«

    Der Gitarrist fühlte sich in seiner Ehre gekränkt. Hatten die denn gar nicht mitbekommen, über welch exzellente Spieltechniken er verfügte?

    »Oder bist du im Auftrag eines HNO-Arztes hier, dem die Patienten ausgehen?«

    Und der Sound seines Marshall-Verstärkers? Der war doch grandios.

    »Hm. Oder wolltest du die Schalldichte unseres Proberaumes testen?«

    Jetzt grinste ihn Freddy auch noch an. Der Schlagzeuger und der Keyboarder ließen sich ein kurzes Lachen entlocken, während sich der Sänger seufzend aus dem abgewetzten und durchgesessenen Sessel mühte, der Teil einer alten Sitzgruppe war, die in einer Ecke des Raumes stand. Dabei nahm er demonstrativ die Wattebäuschchen aus den Ohren und warf sie zielsicher in den Abfalleimer direkt neben den Gitarristen.

    Was waren das denn für Ignoranten? Das sollten die weit über die Grenzen des Ruhrgebiets bekannten Blues Bandits sein?

    Er sah an sich herunter. Die gerissene E-Saite baumelte an seiner Ibanez-Gitarre. Dabei fühlte er sich, als stünde er mit heruntergelassener Hose da. Allein diese Gitarre hatte einen Wert, der den der Verstärkeranlage überstieg.

    Er versuchte, seine Enttäuschung zu verbergen, sah für die anderen aber vermutlich ziemlich bedröppelt drein. Im nächsten Moment stieg Ärger in ihm hoch. Er drückte den Rücken durch und richtete den Gitarrenhals wie den Lauf eines Gewehres auf Freddy.

    »Was habt ihr denn erwartet? Vielleicht solltet ihr gleich bei Eric Clapton anrufen. Ich fürchte nur, dafür seid ihr nicht gut genug!«

    So! Das hatte gesessen. Für wen hielten die sich?

    Zu seiner Überraschung reagierte Freddy nicht beleidigt, sondern grinste ihn immer noch an. Kurz hatte er eine Augenbraue gehoben, als er »nicht gut genug« vernahm. Lässig hatte er ein Bein auf eine Monitorbox gestellt und sich vorgebeugt. Die Arme hingen locker über Hals und Korpus seiner Bassgitarre.

    »Jetzt mal ernsthaft… äh, wie war noch mal dein Name?«

    »Sven!«

    »Genau! Du weißt schon, welche Art von Musik wir machen? Ich habe dir doch unsere letzte CD zugeschickt. Oder hast du sie dir nicht angehört?«

    »Klar habe ich sie mir reingezogen. Und ich habe mir gedacht, ein bisschen mehr Pep könnte der Sache nicht schaden.«

    Freddy überlegte kurz und stellte dann seinen Bass ab. Er begab sich zur Sitzgruppe und fläzte sich auf die Couch.

    »Weißt du, mehr Pep heißt nicht unbedingt mehr Lautstärke. Schon gar nicht, wenn dem Rest der Band dabei die Ohren abfallen. Mehr Pep heißt für mich mehr Groove und Gefühl und vor allem …«

    Er beugte sich vor und sah Sven scharf an. »… mehr Zusammenspiel mit der Band. Solointerpreten suchen wir hier nicht.«

    Sven stand noch immer wie festgewurzelt da, während sich die anderen zu Freddy gesellten.

    Er kam sich vor wie ein Schuljunge, der vor versammelter Klasse vom Lehrer bloßgestellt wurde. Klar, er war mit Anfang zwanzig recht unerfahren. Einige der Blues Bandits konnten seine Väter sein. Aber hatte ihm sein Gitarrenlehrer nicht außergewöhnliches Talent bescheinigt, ja ihm sogar Hoffnung auf eine Profikarriere gemacht?

    In einer Annonce hatte er dann gelesen, dass die Bandits einen neuen Gitarristen suchten. »Keine Anfänger« hatte darin gestanden und »Bühnenerfahrung« wurde verlangt. Das mit der »Liebe zum Blues« hatte er nicht so ernst genommen. Aber genau daran schien es jetzt zu mangeln.

    Freddy schaute in die Runde, um die Gemütslage seiner Mitmusiker abzuschätzen.

    Mike Bruns, der Sänger, hatte scheinbar mit der Sache abgeschlossen und seinen Gesangspart während des Probestückes abgebrochen, als ihm Svens Gitarre mit einem überlauten Solo das Wort abgeschnitten hatte. Jetzt saß er wie abwesend, den Blick an die Decke gerichtet, auf einem der abgeschabten Sessel und kramte eine Mundharmonika hervor. Er spielte You gotta move, was von allen außer Sven als Aufforderung verstanden wurde, dass sich der Vorspielende vom Acker machen sollte.

    Mike war eine gepflegte Erscheinung Mitte vierzig. Stets modisch gekleidet schwebte er immer in einer Wolke teuren AfterShaves. Er hasste es, wenn er sich wegen der Lautstärke der Band heiser sang. Da nützte es oft auch nichts, das Mikro lauter zu stellen, da es dann Rückkopplungen verursachte.

    Mike und Freddy hatten dramatische Geschehnisse in der Vergangenheit zusammengeschweißt. Trotz oder wegen der tragischen Umstände, die einige Musiker das Leben gekostet hatten, waren sie sich einig, die Blues Bandits wieder in neuer Formation aufleben zu lassen. Seit Wochen hatten sie neue Instrumentalisten gecastet.

    Zunächst waren sie schnell fündig geworden. Sie hatten den Keyboarder Chris Wenzel, einen schlaksigen, jungen Typen, der stark kurzsichtig war, fest engagiert. Er hatte die Bandits in früheren Zeiten schon als Gastmusiker begleitet.

    Chris war ein schweigsamer Mensch. So auch jetzt. Er saß da mit verschränkten Armen und schaute den Gitarristen direkt an. Es war nahezu unmöglich, seine Gefühlslage zu deuten.

    Schlagzeuger Steve Ofori konnte man als kompletten Gegenentwurf zu Chris bezeichnen. Und das nicht nur, was das äußere Erscheinungsbild anbetraf. Im Gegensatz zu dem kalkweißen Chris, dessen Gesicht nur die gelblichen Zähne etwas Farbe verliehen, fiel Steve mit seiner dunkelbraunen, fast schwarzen, samten schimmernden Haut und seinen schneeweißen Zähnen jedem auf. Er hatte ein offenes, gewinnendes und freundliches Naturell. Kaum jemand konnte sich dem entziehen. Selbst Chris ließ sich ein ums andere Mal von Steves Humor und Lebensfreude zu einem gelben Lächeln hinreißen.

    Steve stammte aus Ghana, lebte aber seit seinem achten Lebensjahr in Deutschland, als seine Eltern, ein Diplomatenpaar, übergesiedelt waren. Er war erst der zweite Schlagzeuger, der ihnen vorgespielt hatte und hatte mit seinem einmaligen Rhythmusgefühl und seiner Explosivität die Bandits auf Anhieb überzeugt.

    Schnell hatte er sich vor allem mit Freddy angefreundet. Dass er es bisweilen mit der Pünktlichkeit bei Probeterminen nicht so genau nahm, verzieh man ihm. Schließlich war er neben den Bandits ein gefragter Studiomusiker.

    Den jungen Gitarristen sah er jetzt breit lächelnd an. Auf Sven wirkte es jedoch, als hätte Steve seine Zähne nur aus Eitelkeit entblößt. Wollte er sich über ihn lustig machen?

    Sven kam sich vor wie bei einer dieser TV-Castingshows und erwartete jeden Moment einen weiteren beleidigenden Kommentar. Es fehlte nur der blonde Typ mit dem norddeutschen Akzent, der in den achtziger Jahren mit dieser fürchterlichen Musik, die sich immer gleich anhörte, Karriere gemacht hatte. Wie hieß der noch gleich?

    Es reichte ihm. Er entledigte sich seiner Gitarre und zerrte wütend an der zerrissenen E-Saite, die sich jedoch sträubte und deren Anfang sich nicht so leicht vom verwickelten Ende lösen ließ.

    »Langsam, junger Freund! Nicht so hektisch«, hörte er Freddy sagen. »Man muss erst an der Kurbel drehen, um die kaputte Saite entfernen zu können.«

    Steve lachte laut auf. Jetzt reichte es Sven. Er bugsierte seine

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