Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Spuren im Sand: Roman einer Jugend
Spuren im Sand: Roman einer Jugend
Spuren im Sand: Roman einer Jugend
eBook445 Seiten6 Stunden

Spuren im Sand: Roman einer Jugend

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Ein Chronist Deutschlands: Hans Werner Richter
Als Gründer der einflussreichen Gruppe 47 ist Hans Werner Richter aus der deutschen Literaturgeschichte nicht wegzudenken. Nun sind zwei Werke wieder lieferbar, die seinen engen Bezug zu Vorpommern, wo er geboren wurde, zeigen. 'Spuren im Sand' aus dem Jahr 1953 erzählt, weitgehend autobiografisch, die Geschichte
einer Jugend auf Usedom. 'Mag die Zeit, von der der Autor erzählt, auch vorbei sein, verloren ist sie keineswegs', schreibt Siegfried Lenz in seinem Nachwort. Im 1990 erschienenen Band 'Deutschland deine Pommern' macht sich Hans Werner Richter auf die humorvolle Suche nach 'den' Pommern und spürt Erlebnisse, Anekdoten und erdachte Gespräche auf.
SpracheDeutsch
HerausgeberHinstorff Verlag
Erscheinungsdatum1. Mai 2015
ISBN9783356020076
Spuren im Sand: Roman einer Jugend

Mehr von Hans Werner Richter lesen

Ähnlich wie Spuren im Sand

Ähnliche E-Books

Fiktion für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Spuren im Sand

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Spuren im Sand - Hans Werner Richter

    Lenz

    Als ich geboren wurde, machte der Kaiser noch seine Nordlandfahrten, trugen die Männer des Dorfes, in dem ich den ersten Schrei ausstieß, den Es-ist-erreicht-Schnurrbart, gab es noch die klingenden Taler und das goldene Zwanzigmarkstück. Der Ort war ein aufblühendes Seebad, und wenn der Kaiser Ende August, nicht weit davon entfernt, von seiner kaiserlichen Jacht an Land stieg (damals stieg man noch an Land), versäumte er es nie, unseren Ort zu besuchen und sich huldvoll seinen Untertanen zu zeigen. »Der Kaiser kommt!« hieß es dann, und alles lief auf die Straße. »Ta-tü-tata«, schrie die kaiserliche Autohupe, wobei »ta« »der«, »tu« »Kaiser« und »tata« »kommt« hieß.

    Damals stand meine Mutter noch an einem Waschzuber und wusch Tag für Tag die feine Leinenwäsche der adligen Gäste unseres Ortes; mein Vater war Bademeister und rettete in jedem Sommer ein oder zwei leichtsinnige Personen, meist weiblichen Geschlechts, vor dem Tod des Ertrinkens. Der Tod des Ertrinkens war die einzige Art des Todes, die ich damals kennenlernte, und jahrelang schien es mir so, als könne man nur ertrinkend ums Leben kommen. Zwar jagte mein Vater mich immer davon, wenn er gerade wieder einen Halbtoten an den Strand zog; aber es gelang mir fast immer, zwischen seine Beine zu kriechen, um von dort aus einen Blick auf das grün und blau angeschwollene Gesicht des Halbertrunkenen zu werfen.

    Mein Vater hatte bei den Ulanen in Prenzlau gestanden, und auch er trug den wachsgezwirbelten kaiserlichen Schnurrbart, dessen zitternde Spitzen bis an die Augenwinkel reichten. Er hielt sich stramm, wie sich alle damals stramm hielten, mit durchgedrücktem Kreuz und stolzem, geradeaus gerichtetem Blick. Etwas von dem Stolz und der Macht des Kaiserreichs war um ihn. Er konnte nicht schwimmen und war doch Bademeister – aber was machte das schon, angesichts von soviel Haltung und Würde, die damals überall zum Ausdruck kam. Mit aufgekrempelten Hosen stand er barfuß auf der Treppe der Badeanstalt, eine Art Autohupe in der linken Hand, und sah aufs Meer hinaus. Wenn jemand zu weit hinausschwamm, führte er die Hupe an den Schnurrbart, plusterte die Backen auf und gab einen schauerlichen Ton von sich. Mir erschien es dann, als beruhige sich das Meer unter diesem gewaltsamen, herrischen Ton meines Vaters augenblicklich.

    Damals war das Meer, das heißt ein Stück des Meeres, noch für die Badenden abgezäunt und mit Stacheldraht und Planken begrenzt, so dass eigentlich niemand weit hinausschwimmen konnte; aber es war anscheinend eine Zeit der verbotenen Wege, und so gelang es immer einigen Verwegenen, das offene Meer zu erreichen. Meinem Vater missfielen diese Leute außerordentlich, denn er hatte nun einmal bei den Ulanen in Prenzlau gestanden und das Gehorchen gelernt. Er amtierte in einem Familienbad. Es gab außerdem noch ein Herren- und ein Damenbad, denn damals wurden die Geschlechter noch säuberlich voneinander getrennt.

    Das war mein Vater. Er hatte, wie die meisten Väter im Ort, acht Kinder, und einige hatten zehn oder zwölf. Es war eine Zeit des Überflusses. Der Kaiser ging mit einem gesunden Geburtenüberschuß voran – und alle, alle folgten ihm. Es herrschte Ruhe und Ordnung, und auch in unserem Ort gab es eine feststehende Hierarchie, die mit dem Gemeindevorsteher und Feuerwehrhauptmann begann und mit dem ärmsten Waldarbeiter endete.

    Eines Nachmittags, und dieser Nachmittag gehört zu meinen ersten unklaren Erinnerungen, saß ich zu Füßen meiner Mutter, die an einem Plättbrett stand und bügelte, als eine Frau mit einem hochgeschnürten Busen eintrat und mit meiner Mutter ein Gespräch begann.

    »Anna«, sagte sie, »was ist denn nun mit Richard?«

    »Was soll schon mit Richard sein?«

    »Der Großherzog ist doch dagewesen?«

    »Du meinst den Großherzog von Mecklenburg?«

    »Ja … und die Tochter … ?«

    »Die …«, sagte meine Mutter, »… die hatte zu viel Wasser geschluckt, und Richard hat sie rausgeholt.«

    »Na, nun werdet ihr ja reich werden.«

    »Einen Taler hat er bekommen«, sagte meine Mutter, zuckte die Schultern und stellte das Bügeleisen auf einen Teller.

    »Ach Rosa«, begann sie wieder, »jetzt bin ich mal wieder soweit.«

    »Was ist denn?«

    »Na ja, du weißt doch, die Männer lassen einen nicht in Ruh’.«

    »Was«, sagte die hochgeschnürte Rosa, »schon wieder? Seit wann denn?«

    »Im dritten Monat«, sagte meine Mutter.

    So erfuhr ich, dass es einen Großherzog von Mecklenburg gab, dessen Tochter mein Vater für drei Mark gerettet hatte, dass die Männer die Frauen nicht in Ruhe lassen und dass man im dritten Monat sein konnte. Jene hochgeschnürte Frau namens Rosa hieß School mit Nachnamen, und ihr Mann Heinrich hatte nicht weit von uns einen Kolonialwarenladen und fast eben so viel Söhne und Töchter wie mein Vater.

    Der Ort lag am Meer, in einer weitgeschwungenen Bucht, mit Steilküsten, Buchen- und Tannenwäldern, und einer, wie im Badeprospekt stand, ozonreichen Luft. Es war ein kleiner Ort, mit etwa 500 Einwohnern, und seine Häuser, am Strand noch drei- und vierstöckig, wurden etwa einen Kilometer landeinwärts immer kleiner, bis hin zu den armseligen Hütten der Fischer. Die Sozialdemokratie, damals noch eine revolutionäre Partei, war noch nicht bis ans Meer gedrungen. Mein Vater war noch stolz darauf, herrschaftlicher Diener auf einem Gut in Hinterpommern gewesen zu sein, und meine Mutter wusch mit Hingabe die Unterwäsche der Baroninnen und Komtessen, die im Sommer kamen, um sich unter der Aufsicht meines Vaters und seiner Kollegen ins salzhaltige Ostseewasser zu begeben. Damals gab es noch keine Strandkörbe, sondern nur Badehütten, und der Strand war deshalb nur spärlich beflaggt. Aber auf den drei Bädern – schlossähnlichen Bretterbauten mit Zinnen und Türmen – wehte die schwarzweißrote Flagge und die Reichskriegsflagge. Sie kündeten von der kaiserlichen Macht und von der Ruhe und Ordnung im Lande, und oft kam es mir vor, als ständen sie ebenso wachssteif im Wind wie der Schnurrbart meines Vaters, der jeden Morgen vor dem Spiegel balsamiert und hochgezwirbelt wurde.

    An jenem Nachmittag nun, an dem ich erfahren hatte, dass man im dritten Monat sein konnte und dass der Großherzog von Mecklenburg meinem Vater einen Taler für die Errettung aus Badenot gegeben hatte, erschien auch unser Gemeindevorsteher, ein ehemaliger Offizier niederen Ranges, und gratulierte meinem Vater, der dabei verlegen an seinen Schnurrbartenden zupfte. »Sie haben sich um das Reich verdient gemacht«, sagte der Gemeindevorsteher, wobei seine Lippen unter dem Bart feucht wurden. Er trug einen anderen, anscheinend älteren Bart als mein Vater. Er spross an den Backen entlang und nannte sich noch nach Kaiser Wilhelm dem Ersten. Nachdem der Gemeindevorsteher gegangen war, zog mein Vater sich die Feuerwehrlitewka an und wollte hinausgehen.

    »Wo willst du hin?« fragte meine Mutter, die immer noch am Plättbrett stand und bügelte.

    »Mal sehen«, antwortete mein Vater, »ist ja ein großer Tag heute.«

    »Wieso großer Tag? Für einen Taler hast du die aus dem Wasser gezogen – und jetzt auch noch feiern?«

    »Lass man, Anna, war ja auch die Tochter des Großherzogs. So ein Glück, was? Ganz weiß war sie wie die Wand.«

    »So hochgeboren«, sagte meine Mutter, »und so geizig.«

    »Geizig?«

    »Na, ist das nicht geizig, das ganze Leben für einen Taler?«

    Aber mein Vater ließ sich nicht beirren. Er ging hinaus, die Kellertreppe empor, und ich sah ihn an unserem Hause entlangschreiten, aufgerichtet, mit durchgedrücktem Kreuz, ein Bademeister und Ulan vom Scheitel bis zur Sohle.

    »Lass ihn gehen«, sagte meine Mutter, »er wird sich schon noch die Hörner abrennen.«

    Ich merkte, dass sie traurig war, und versuchte deshalb, von unten in ihr Gesicht zu sehen, aber ich konnte es nicht erkennen. Vor mir hing, von dem Plättbrett herab, ein Damenbeinkleid, mit Spitzen und Rüschen reich besetzt, und es sah wie eine lange, ornamentierte Röhre aus. Ich konnte mir nichts anderes vorstellen, als dass es der Tochter des Großherzogs gehöre. Ich zupfte an dem Rock meiner Mutter und sagte:

    »Gehört das der Tochter des Großherzogs, Mutti?«

    »Ich weiß nicht«, antwortete sie, »irgend so einer wird es schon gehören, irgendeinem von diesen Dämchen, die sich für drei Mark aus dem Wasser ziehen lassen und die hochgeborenen Augen verdrehen, als ob sie etwas Besonderes wären. Aber sie sind gar nichts Besonderes; sie kriegen auch Kinder, sind dann auch im dritten Monat und schreien genauso wie wir dabei.«

    Meine Mutter hatte anscheinend vergessen, dass ich unter dem Plättbrett saß. Sie sprach wie zu sich selbst und setzte dabei das Bügeleisen hart und energisch auf das Damenbeinkleid.

    Es mag ein Jahr später gewesen sein, als Rosa School mit wogendem Busen und hochgeröteten Backen in das Hinterzimmer ihres Kolonialwarenladens trat. Ich saß weinend neben ihrem jüngsten Sohn Willi, der mir hinterlistig eine Strähne aus meinem Haar geschnitten hatte. Das Sofa, auf dem wir saßen, roch nach Thymian, Petersilie und Bohnenkraut, und auf der Lehne lag ein schwarzweißrot gesticktes Kissen. Heinrich, Rosas Mann, lang und hager und fast immer mit einem glänzenden Tropfen an der Nasenspitze, saß an einem Tisch und rechnete. Rosa blieb vor ihm stehen und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Ich erinnere mich, dass es eine fleischige, wulstige Hand war und dass der Ehering auf dem Ringfinger tief eingekerbt, wie überwachsen, im Fleisch saß.

    »Was ist mir dir, Rosa?«

    »Es ist soweit, Heinrich«, sagte Rosa, und sie nahm die Hand von der Schulter und legte sie auf seinen Scheitel.

    Wir beide, Willi und ich, begannen noch lauter zu weinen, aber Rosa ließ sich dadurch nicht beirren.

    »Ach, Heinrich«, sagte sie, »unser armer Kaiser.«

    »Was ist mit unserem Kaiser?«

    »Es geht los, Heinrich, die Franzosen, dieses Pack …«

    »Wie?« sagte Heinrich.

    »Die Franzosen!« schrie Rosa plötzlich und begann ebenfalls zu weinen.

    »Was ist mit den Franzosen, Rosa?«

    »Sie wollen unseren armen Kaiser nicht leben lassen. Sie sind neidisch auf uns, Heinrich, sie wollen uns vernichten.«

    »Wie?« fragte Heinrich, der sich anscheinend nicht vorstellen konnte, wie die Franzosen seinen Kolonialwarenladen vernichten wollten.

    »Es gibt Krieg, Heinrich.«

    Nun sprang auch Heinrich auf. »Krieg!« schrie er, reckte sich, riss seine Frau in seine Arme, und ich sah, wie sich die Lippen der beiden aufeinander zubewegten.

    »Raus, Kinder«, sagte Rosa, »los, raus mit euch.«

    Ich verstand nicht, warum wir raus mussten, aber ich brachte es mit den sich aufeinander zubewegenden Lippen in Zusammenhang und auch mit jenem dritten Monat, von dem meine Mutter mit Rosa gesprochen hatte.

    »Dann muss ja auch Hoogie weg«, hörte ich Heinrich sagen.

    »Hoogie ist noch zu jung; er kann sich höchstens freiwillig melden.«

    »Freiwillig?«

    »Natürlich«, sagte Rosa, »für Kaiser und Reich, für unseren armen Kaiser«, und sie begann wieder zu weinen. Hoogie war der älteste Sohn der Familie School, hieß eigentlich Robert und war von Rosa für die Marinelaufbahn vorgesehen.

    »Nun aber raus mit euch, was steht ihr da herum?« schrie sie uns an, und ich nahm Willi, den Jüngsten, an die Hand und schlich mit ihm durch den Kolonialwarenladen auf die Straße.

    Draußen flimmerte die Sonne. Es war ein hochsommerlicher Tag. Von der Promenade her kamen die Klänge der Kurkapelle. Ich erinnere mich nicht mehr genau, was sie spielte, aber es müssen wohl Militärmärsche gewesen sein. Ein paar heisere Stimmen schrien irgendwo hurra. Ich ließ den weinenden Willi, der immerfort »Krieg, Krieg« rief, stehen und rannte, so schnell mich meine Beine trugen, nach Hause. Es war mir absolut unklar, was eigentlich vorging, aber das Wort »Krieg« hatte auch mich elektrisiert.

    Meine Mutter stand auf dem Hof und wrang mit meiner ältesten Schwester Wäsche aus. Sie drehten ein Wäschestück, jede an einem Ende und jede in entgegengesetzter Richtung, hochrot im Gesicht.

    »Wo kommst denn du her?« fragte meine Mutter.

    »Krieg«, stotterte ich.

    »Was ?«

    »Frau School hat es gesagt.«

    »Rosa?«

    »Rosa«, sagte ich und nickte verständnisinnig mit dem Kopf.

    »Sie sollte so etwas nicht sagen«, sagte meine Mutter, »sie hat genug mit ihrem Heinrich zu tun.«

    In diesem Augenblick kam mein Vater auf dem Bürgersteig heran. Er ging sehr schnell und aufgeregt. Er hatte die Hosen noch hochgekrempelt, und seine Füße waren nackt.

    »Was treibt der sich denn hier herum?« sagte meine Mutter, »der hat doch in der Badeanstalt zu sein!«

    Sicher ist wieder jemand ertrunken, dachte ich, eine Großherzogin oder die Tochter eines Großherzogs, denn seit jener Rettungstat meines Vaters ertranken für mich nur noch Großherzoginnen und deren Töchter.

    »Anna«, schrie mein Vater und rannte geradewegs auf meine Mutter zu.

    »Bist du verrückt?« sagte meine Mutter.

    »Es ist Krieg, Anna, jetzt geht’s los.«

    »Um Gottes willen!«

    »In sechs Wochen sind wir wieder hier! Oder in Paris! Ich muss mich stellen, gleich!«

    Und er rannte barfuß, wie er war, die Kellertreppe hinunter, ohne meine Mutter weiter zu beachten. Meine Mutter bückte sich und legte das auf den Boden gefallene Wäschestück in den Korb. Ich stand daneben und weinte. Ich wusste nicht, warum ich weinte, aber die Tränen liefen mir die Backen hinunter, und nun begann auch meine Schwester zu weinen. Sie war schon sechzehn Jahre alt und hatte eigentlich kein Recht, so loszuheulen; aber sie tat es.

    »Heult euch man richtig aus«, sagte meine Mutter, »es ist traurig genug.«

    Sie nahm den Wäschekorb und ging meinem Vater nach, die Kellertreppe hinunter. Ich wunderte mich, dass meine Mutter nicht von dem armen Kaiser sprach, wie Rosa School es getan hatte, und auch nichts von meinem ältesten Bruder sagte, der doch schon fünfzehn war und sich vielleicht freiwillig hätte melden können. Ich schlich meiner Mutter nach in den Keller. Dort stand mein Vater mit nacktem Oberkörper, über eine Waschschüssel gebeugt, und rieb sich mit beiden Händen den Hals mit Seife ein.

    »Ich leg’ dir alles zurecht«, sagte meine Mutter und warf ihm ein sauberes Handtuch über die Schulter.

    »Ja, tu das, beim Kommiss kommt’s auf Sauberkeit an.«

    »Bei mir auch«, sagte meine Mutter und verschwand in die Plättstube. Mein Vater war nicht sehr groß, aber ich bewunderte seinen nackten, massigen Oberkörper. Ich hatte ihn noch nie so gesehen, und es kam mir vor, als würde er ganz allein den Krieg gewinnen, von dem alle sprachen.

    Mein Vater verschwand, und die Gäste reisten Hals über Kopf ab. Der kleine Landungssteg wurde gesprengt, wegen der Russengefahr, und Rosa School kam, wogenden Busens, jeden Tag zu meiner Mutter und sprach von Spionen, die mit Gold nach Russland unterwegs seien. Ich träumte von einem Spion, der mit einem Boot voll Gold übers Meer kam und den ich einfing, als er gerade landen wollte. »Ach du«, sagte der Spion, aber ich hatte ihm schon das Gold abgenommen und trieb ihn vor mir her, dem Kaiser zu, der auf der Promenade vor seinem Wagen stand und mich mit den Worten »Nun, mein Sohn« empfing. In diesem Augenblick erwachte ich; schweißgebadet und voller Angst kroch ich unter die Bettdecke, denn draußen heulten die Herbststürme.

    Ulanen und Husaren ritten an unserem Haus vorbei, die Ulanen mit eingelegten Lanzen, an denen bunte Wimpel hingen, und die Husaren mit roten Jacken und krummen Säbeln, die gegen ihre Schäfte schlugen. In den Dünen zwischen unserem Ort und dem nächsten wurden Schützengräben ausgehoben, von denen niemand wusste, gegen wen sie gerichtet waren, und die wir später benutzten, wenn wir die Schule schwänzten.

    Der Ort veränderte sich von Grund auf. Ruhe, Stabilität und die Ordnung, in der seine Bewohner fast fünfzig Jahre gelebt hatten und deren Veränderung sich niemand mehr vorstellen konnte, schienen sich aufzulösen. Die männliche Bevölkerung verschwand, und nur einzelne kamen zeitweise in Uniform zurück, auf Urlaub, und die Gäste, nicht mehr so zahlreich wie zuvor, waren immer häufiger weiblichen Geschlechts.

    In dieser Zeit gebar Rosa School ihre Tochter Ilse. Meine Mutter kam in der Nacht zurück, knotete ihr Kopftuch auf und schüttelte ihr strähniges, mattblondes Haar.

    »Was die zusammenschreit«, sagte sie, »und dabei ist es doch schon ihr viertes.«

    Es wurden viele Söhne und Töchter in diesen Wochen, genau neun Monate nach Beginn des Kriegs, in dem Ort geboren.

    Auf dem Sofakissen der Familie School prangte jetzt ein Eisernes Kreuz, und an der Wand hing ein Bild des ältesten Sohnes Hoogie in einer strahlenden Marineuniform. Hoogie, der sich freiwillig gemeldet hatte, diente auf einem Schlachtschiff und hatte seiner Mutter Rosa geschrieben: »Unsere Zukunft liegt auf dem Wasser« – einen Wahlspruch seines Kaisers, dessen Geburtstag wir eben feierten.

    »Antreten«, schrie der Lehrer. »In drei Reihen! Die Großen nach vorn, die Kleinen nach hinten.«

    Ich stand ganz hinten und fror. Meine Mutter hatte mir einen weißen Matrosenanzug mit blauem Kragen angezogen, und sie hatte gesagt:

    »Wenn du ihn dreckig machst, gibt’s ein paar hinter die Ohren.«

    Ich dachte an meine Mutter und versuchte mir gleichzeitig den Kaiser vorzustellen, wie er in seinem Hauptquartier stand und seine siegreichen Armeen dirigierte. »Ohne Tritt, marsch«, schrie der Lehrer.

    Vorne über den Großen flatterte an einer Bambusstange die Reichskriegsflagge, und wir sangen »Zu Straßburg auf der Schanz« und dann »Es braust ein Ruf wie Donnerhall«. Wir marschierten an den leeren Schützengräben entlang, die man zu Beginn des Krieges in den Dünen ausgehoben hatte, und der Lehrer schrie:

    »Eins-zwei-drei, eins-zwei-drei.«

    Die Feier fand in dem Schulgebäude des nächsten Ortes statt. Ein Schulrat sprach von dem unvergänglichen Ruhm des Kaisers, und wir brachen in ein donnerndes Hurra auf diesen Ruhm aus. Dann sangen wir mehrstimmig »Heil dir im Siegeskranz«, und der Schulrat sagte anschließend mit tiefer, überzeugender Bassstimme: »Gott strafe England.«

    Auf dem Nachhauseweg lösten wir die Reihen auf, rannten in die leeren, wartenden Schützengräben und begannen, Krieg zu spielen. Aus Strandsand bauten wir ein Panzerschiff, sammelten trockenes Strandhafergras und zündeten ein mächtiges Feuer unter dem Kessel des Schiffes an, der ein alter Kochtopf war. Dichter, dunkler Rauch zog über den Strand aufs Meer hinaus. Willi School stand auf dem Vordersteven des Schiffes und schrie immerfort »Volldampf voraus«, ein paar Jungens riefen »Gott strafe England«, und ich heizte in meinem weißen Matrosenanzug den Kessel des Schiffes.

    »Geschütze klar zum Gefecht«, schrie Willi School, aber in diesem Augenblick fing mein Matrosenanzug Feuer, und ich brach in ein wildes Geschrei aus. »Feuer«, schrie Willi School, »Feuer im Schiff«, aber es war bereits zu spät. Ich rannte zum Wasser hinunter und warf mich in die Wellen, die langsam und monoton auf den Strand liefen. Die Jungen kamen alle hinter mir her und standen mit betretenen Gesichtern um mich herum. Langsam erhob ich mich aus dem kalten Wasser.

    Der Matrosenanzug war auf der Brust versengt und an den Ärmeln halb verkohlt.

    »Was wird meine Mutter sagen«, flüsterte ich.

    »Es ist Krieg«, sagte Willi School, »und im Krieg passiert so etwas alle Tage.«

    »Ja«, sagte ich, »Gott strafe England.«

    »Er strafe es«, sagte einer der Jungen.

    Immer noch zog der dichte Rauch des Panzerschiffes über den Strand. Das Wasser lief an meinem Matrosenanzug hinunter, und ich begann zu frieren. Langsam ging ich nach Hause. Das Meer rauschte hinter mir, und Willi School schrie: »Wir brauchen einen neuen Heizer, wer macht den Heizer, freiwillig?«, und ich dachte: England ist an allem schuld.

    »Wie siehst du denn aus?« sagte meine Mutter, als ich in der Tür stand.

    »Wir haben Krieg gespielt, Mutti.«

    »Was habt ihr gespielt?«

    »Krieg.«

    Meine Mutter stand langsam auf und kam mir entgegen.

    »Eigentlich solltest du Ohrfeigen haben«, sagte sie.

    »Ja«, flüsterte ich, »aber es ist Kaisers Geburtstag.«

    »Das ist mir egal. Ihr sollt nicht Krieg spielen. Dieser Krieg ist schlimm genug.«

    Und ich begriff, dass meine Mutter diesen Krieg nicht mochte und dass ihr auch der Kaiser nicht viel bedeutete. Schweigend zog ich den ehemals weißen und jetzt braun versengten Matrosenanzug aus, während meine Mutter sagte:

    »Zieh den Dreck aus und scher dich ins Bett.«

    Mein Vater kam nur einmal auf Urlaub. Er stand, wie man damals sagte, in Russland, trug einen feldgrauen Rock und braune, hohe Kavalleriestiefel. Statt des hochgezwirbelten Es-ist-erreicht-Schnurrbarts trug er jetzt einen schwarzen Spitzbart. Ich erkannte ihn nicht wieder, aber er versicherte mir mehrmals, er sei mein Vater, bis ich es schließlich glaubte.

    Er priemte noch immer und legte den Priem vor dem Essen auf den äußersten Rand seines Tellers, nachdem er ihn vorher umständlich aus den Zähnen gezogen hatte. Dieser Vorgang erregte stets aufs neue den Unwillen meiner Mutter. »Leg deinen Priem woanders hin«, pflegte sie zu sagen, worauf mein Vater den Priem vom Rand des Tellers nahm und ihn an die Kommode klebte.

    Ich weiß nicht, wann mein Vater wieder verschwand, aber er verschwand, wie er gekommen war. Einige Monate später hörte ich ein ähnliches Gespräch zwischen Rosa School und meiner Mutter wie damals vor dem Krieg.

    »Du hast doch jetzt genug Gören«, sagte Rosa School, »wozu denn das noch?«

    »Sag das denen mal, die kümmern sich doch nicht darum«, antwortete meine Mutter und begann zu weinen.

    ›Ja, die Männer«, sagte Rosa und stieß einen Seufzer aus, während sie die Hände demütig vor dem Bauch faltete.

    Zu dieser Zeit meldete sich mein ältester Bruder, der auf einer Präparandenanstalt als Lehrer ausgebildet werden sollte, freiwillig. Er würde sich erhängen, schrieb er, wenn er sich nicht freiwillig melden dürfe, und meine Mutter schrieb ihm zurück, er solle sich erhängen. Ein Jahr später schrieb er von der Westfront, er würde sich erhängen, wenn er nicht sofort von der Front wegkäme und den grauen Rock an den Nagel hängen könne, und meine Mutter schrieb ihm zurück, er solle sich nicht erhängen, denn der Krieg ginge bald zu Ende.

    In diesen Tagen sprach man bei uns viel von der Skagerrakschlacht. Einige behaupteten sogar, sie hätten den Geschützdonner in der Nacht gehört, aber andere sagten, in der Nacht könne man auf See nicht schießen. In dem Kolonialwarenladen der Familie School ging es während dieser Tage aufgeregt zu.

    »Mein Hoogie ist dabei«, sagte Rosa jedem Kunden, der es hören oder nicht hören wollte, und griff sich an ihren hochgeschnürten Busen.

    »Er wird schon durchkommen«, antwortete meine Mutter und legte Rosa die Hand auf den Unterarm.

    »Mein Junge«, seufzte Rosa, »ach Gott, mein Junge.«

    Sie sagte nichts mehr von dem armen Kaiser, doch in ihren etwas feuchten Augen war immer noch der Stolz der Unbesiegbaren. Wenige Tage später lief ihr Hoogie auf einem halbzerstörten Schlachtschiff in den benachbarten Hafen ein und kam als Held auf Urlaub. Er war von gedrungener Gestalt, mit einem hochroten, gutmütigen Gesicht und etwas abstehenden Ohren.

    »Denen haben wir’s gegeben«, sagte er bei jeder Gelegenheit, und die Einwohner des Ortes standen um ihn herum und nickten mit den Köpfen.

    An einem Nachmittag, ich spielte bei Willi School auf dem Boden, saß er mit meiner Schwester auf dem nach Thymian riechenden Sofa im Hinterzimmer des Kolonialwarenladens. Meine Schwester hatte das Kissen mit dem gestickten Eisernen Kreuz, auf dem »Im Felde unbesiegt« stand, auf den Knien, und Hoogie hatte den Arm um sie gelegt. Meine Schwester trug wollene Strümpfe, und ihr Rock war etwas zu kurz. Hoogie saß da wie ein Held, mit offener Matrosenbluse, so dass die Brusthaare sichtbar waren. Sie sangen zweistimmig »Annemarie« und dann »Mein Sohn heißt Waldemar«. Sie lachten jedes mal bei dem Refrain, sahen sich in die Augen und wiederholten ihn, meine Schwester mit hoher Falsettstimme und Hoogie im Bariton. Plötzlich versuchte Hoogie, meine Schwester zu küssen, er beugte sich vor, hielt ihren Kopf fest und drückte seine Lippen auf ihren Mund.

    »Da«, sagte Willi School und stieß mich in die Seite, »da guck mal.«

    In diesem Augenblick hob meine Schwester das schwarz-weiß rote Kissen und schlug Hoogie damit über den Kopf. Als er sie losließ, drückte sie das Kissen in sein Gesicht, und zwar so heftig, dass wir Hoogie schnaufen hören konnten.

    »Da«, sagte sie, »da, du Held vom Skagerrak.«

    Dann sprang sie auf und lief mit ihrem zu kurzen Rock durch den Kolonialwarenladen hinaus. Hoogie warf das Kissen beiseite, starrte uns beide einen Augenblick an und sagte:

    »Deine Schwester ist eine Kuh.«

    Ich blieb ruhig sitzen. Hoogie jedoch sprang auf, zog seine Matrosenjacke herunter und schlug die Tür hinter sich zu. Nach einer Weile kam er mit einem anderen Mädchen zurück. Es war Irma, die Pflegetochter des Fuhrwerksbesitzers Hermann Mai, dem das Haus gehörte, in dem sich der Kolonialwarenladen befand. Sie setzten sich ebenfalls auf das Sofa und unterhielten sich flüsternd. Nur einmal hörte ich Hoogie sagen:

    »Irma, was macht das schon. Als wir am Skagerrak lagen, habe ich oft an dich gedacht. Wenn man so im Feuer der schweren Schiffsgeschütze liegt, denkt man an manches.«

    »An mich hast du gedacht?« fragte Irma.

    »An wen denn sonst?« sagte Hoogie.

    »Wirklich an mich?«

    »Natürlich«, sagte Hoogie, und dann begannen auch sie zweistimmig »Annemarie« und dann »Weil es im Walde war« zu singen; und einmal hörte ich Irma sagen: »Eigentlich ist das unanständig«, aber Hoogie lachte, und Irma sagte: »Die beiden Kleinen könnten sich rausscheren.« Aber wir beide blieben sitzen, als hätten wir nichts gehört. Ich fand Irmas Stimme viel schöner als die meiner Schwester. Es war eine weiche, seidige Stimme, und während Hoogie laut und brummend sang, flüsterte sie fast. Ich saß auf dem Boden und starrte sie immerfort an. Auch sie hatte das schwarzweißrote Kissen auf den Knien, aber sie stützte ihre Ellbogen darauf und saß, etwas vorgebeugt, mir zugewandt. Sie hatte große, ovale Augen, ihr braungelocktes Haar fiel über ihre Hände, und der Ansatz ihrer Brust schimmerte weiß im Ausschnitt ihres Kleides.

    »Was starrst du mich so an«, flüsterte sie nach einer Weile.

    »Solche Jungs«, sagte Hoogie, »als ob die auch schon etwas davon verstehen.«

    »Schick sie raus«, sagte Irma.

    »Willst du mit mir allein sein?« fragte Hoogie.

    »Das nicht gerade, aber …«

    »Aber?«

    »Ich weiß nicht, Hoogie, schick sie raus.«

    Ich stand auf und ging bis zur Tür. An der Tür drehte ich mich um und sah Hoogie ins Gesicht. Er sah noch röter aus als sonst.

    »Warum heißt der Sohn Waldemar, Hoogie?«

    »Was?«

    »Warum der Sohn Waldemar heißt?«

    »Raus«, schrie Hoogie, »jetzt aber raus mit dir!« Er warf das schwarzweißrote Kissen, das er Irma vom Schoß gerissen hatte, hinter mir her, und ich hörte Irma lachen. Es war ein helles Lachen, und mir schien es wie der Ton einer Spieluhr, die ich in einem Uhrmacherladen auf der Promenade gehört hatte.

    In der Nacht träumte ich von Irma und von Hoogie. Hoogie war sehr viel größer als sonst, fast ein Riese. Er stand auf unserer Landungsbrücke und hatte Irma auf dem Arm, die er langsam hochhob und dann ins Meer warf. Ich schrie nach meinem Vater, der sie retten sollte, aber mein Vater stand auf seinem Badesteg in grauer Uniform, nahm seinen Priem aus dem Mund und sagte:

    »Er war bei Skagerrak.«

    In der Schule feierten wir jeden Tag Siege und lernten die Schlachten des Krieges auswendig. Zwar sagte meine Mutter: »Ihr solltet lieber etwas Vernünftiges lernen«, doch wir sangen jeden Morgen »Steh’ ich in finstrer Mitternacht« und »O Deutschland, hoch in Ehren« und »Lieb Vaterland, magst ruhig sein«. Aber es schien, als ob das liebe Vaterland immer unruhiger wurde, obwohl wir jeden Morgen so einsam auf der Wacht standen und unsere Armeen, nach den Worten unseres Lehrers, fast alles geschlagen hatten, was es in der Welt zu schlagen gab.

    Mein Bruder schrieb verzweifelte Briefe von der Westfront, meine Mutter weinte oft, mein Vater stand in Russland, und mein Zweitältester Bruder kam nach Spandau in die Munitionsfabrik. Die schwarzen Witwenschleier im Ort mehrten sich; und eines Tages fiel Hermann Friedrich. Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, dass Krieg etwas Unheimliches, Gefährliches, Tödliches sei. Es presste mir die Brust zusammen, und ich weinte, wie viele an diesem Tag in unserem Ort weinten.

    Ich saß auf dem Rollwagen des Fuhrwerkbesitzers Hermann Mai. Da es an Männern fehlte, schirrte Irma den etwas heruntergekommenen Schimmel an. Ich liebte diesen Schimmel, der sehr alt war, rotunterlaufene, tränende Augen hatte und Knochen, die spitz nach allen Seiten abstanden. Es war eigentlich mehr das Gerippe eines Pferdes als ein Pferd. Mais besaßen ihn noch nicht lange, sie hatten ihn von der Armee bekommen, denn es war ein alter, u.k.-gestellter Kriegsgaul. Meine Mutter sagte von ihm »Der Gaul sieht aus wie dieser ganze Krieg«, worüber ich mich ärgerte; aber meine Mutter sagte oft Dinge, die im Widerspruch zum allgemeinen Hochgefühl standen. An diesem Tag also schirrte Irma den Schimmel an, schob ihn langsam in die Deichsel, und der Schimmel sah sich dabei zu mir um, mit wehmütigen Augen, als wolle er »Hafer, Hafer« oder »Hunger, Hunger« sagen. Ich hatte großes Mitgefühl mit ihm, aber Irma schrie:

    »Los, du alte Mähre, geh schon.«

    »Du musst ihn nicht schlagen, Irma«, sagte ich.

    »Halt deinen Mund, dämlicher Bengel«, sagte sie und trat dem Schimmel vor das Bein. Ich musste an Hoogie denken, er sie sicherlich geküsst hatte, wie er meine Schwester küssen wollte, und ich ärgerte mich darüber. Ich streckte die Zunge heraus und lallte: »Mein Sohn heißt Waldemar!«

    »Ich kleb’ dir gleich eine«, sagte sie.

    »Tu’s doch«, antwortete ich, »tu’s doch. Ich sag’ es Mutti.«

    »Du sagst nichts, verstanden, und schon gar nichts von Hoogie.«

    Ich wurde rot, und Irma, die den Gaul inzwischen angeschirrt hatte, stieg auf den Wagen. Sie setzte das rechte Bein auf die Radnabe, wobei ich ihre schwarzweißroten Strumpfbänder sehen konnte, die fest um ihre Schenkel lagen, und schwang sich neben mich auf den Sitz.

    »Hü«, sagte sie und dann: »Der Hoogie ist jetzt wieder draußen auf See, weißt du, auf einem Torpedoboot. Er hat das Eiserne Kreuz bekommen für die Schlacht am Skagerrak.«

    Sie zog die Leine an, nahm die Peitsche aus dem hinteren Wagenteil und ließ sie über dem hageren Kopf des Schimmels tanzen.

    »Du sagst nichts von Hoogie, hörst du, wir haben doch nur zusammen gesungen.«

    »Du hast so schön gesungen, Irma!«

    »Ja«, sagte sie, »ich müsste Sängerin werden, aber Hoogie wird es wohl nicht wollen.«

    Wir fuhren langsam aus dem Hof hinaus. Der Schimmel ging Schritt für Schritt. Auf der rechten Kruppe trug er im Fell zwei große eingekerbte Buchstaben.

    Als wir auf der Straße zum Bahnhof waren und an unserem Haus vorbeikamen, hörten wir ein Geschrei. Es war ein langgezogenes, leises Heulen, das anschwoll, nachließ und dann wieder stärker wurde. Es kam aus dem Schulgebäude jenseits der Straße.

    »Was ist das?« flüsterte Irma, »es sind doch Ferien.«

    Sie zog an der Leine und hielt den Schimmel an, der ebenfalls den Kopf hob und zum Schulgebäude hinübersah. Das Schulgebäude lag einsam und verlassen in dem klaren Sommervormittag. Nur im oberen Stockwerk war ein Fenster halb geöffnet, aus dem das Heulen kam. Ich begann zu frieren.

    »Warum zitterst du?« fragte Irma.

    »Ich zittere doch nicht.«

    »Doch.«

    »Nein«, schluckte ich, aber in diesem Augenblick verstärkte sich das Heulen zu einem langgezogenen Schrei. Es war, als bliebe der Schrei in der Sommerluft stehen, als stände er über dem Ort für immer.

    »Es ist Frau Friedrich«, flüsterte Irma.

    »Frau Friedrich«, wiederholte ich.

    »Was mag sie haben? Vielleicht hat ihr Mann sie geschlagen?«

    Aber das glaubte ich nicht. Ich griff nach Irmas Hand und hielt sie fest. Es war eine warme, schmale Hand, die zwischen den langen Fingern die Leine hielt und nun unter meiner Berührung zusammenzuckte und die Leine anzog. Der Schimmel hob den Vorderhuf und stand plötzlich quer über der Straße. Er schüttelte unruhig den Kopf, wie eine alte Schlachtmähre, und tat, als wolle auch er

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1