Simon der Dichter: Teilsichten aus einem Künstlerleben
Von Paul Gisi
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Paul Gisi
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Buchvorschau
Simon der Dichter - Paul Gisi
Ich schreibe unter dem spinnverwebten Weltalldach
Simon
Je mehr mich das Leben umherschleuderte, gleichsam von mir wegschleuderte, erlebte ich, dass ich das Gefühl bekam, mich wiederum ein bisschen näher kennen gelernt zu haben, paradox, doch das, was bewirkte, dass ich mich verlor, bewirkte, dass ich mich fand, so lösten sich mit der Zeit alle festgefügten Rahmen, alle Eindeutigkeiten in ein Vorläufiges oder gar in ein Nichts auf, in eine Vorstufe, die zu etwas ganz anderem führte, als es gedacht war, ich, Simon der Dichter, schreibe auf, verwerfe, füge zusammen, lockere auf, schleudere weg, hasche nach Wind, erzähle Teilsichten aus meinem Leben, rede von dem, was ich sah, erlebte, mir einbildete, von andern hörte, einst reiste ich, Simon der Dichter, kreuz und quer durch Europa, Marseille, Avignon (und vieles mehr in der Provence), Bordeaux, Paris, Bremen, Hölderlins Tübingen, München, Wien, Kafkas Prag, auf eine Alp im Urner Schächental, ins Elsass, um nur ein paar Destinationen zu nennen, seit etwa zwanzig Jahren bevorzuge ich, Simon der Dichter, die Reisen im Drehfauteuil, mit einem Buch, in einem Buch, ohne zu schwitzen oder mit Touristen in einer Warteschlange zu stehen, schlendere ich durch die Alhambra, besteige den Fudschijama, gondle den Mekong hinunter, streife durch Mexico City oder durch die mythische Stadt Santa Marἱa von Juan Carlos Onetti, Uruguays literarischem grand old man, erlebe Lissabon von José Saramago oder Pascal Mercier, ich reise im Geiste in ein Bauerndorf in der Ukraine oder besteige einen Zikkurat in Babylon, überhaupt ist es herrlich, im Drehfauteuil zu sitzen, eine Pfeife zu rauchen, einen neckischen Rotwein zu trinken, die Füsse hochgelagert, die Kerze brennt vergnügt, durch versunkene Reiche der Hethiter, des Minoischen Kreta, von Assur, durch Kulturdenkmäler des mykenischen Lebens zu zotteln, von der Hochkultur der Mayas zu träumen, auf unterirdischen Flüssen zu fahren, durch Ruinen im aztekischen Palenque zu schlendern, den Fassadenschmuck mit den Masken des Regengotts am nördlichen Gebäude des Nonnenklosters in Uxmal zu bewundern, im Drehfauteuil wird längst Vergangenes Gegenwart, wie herrlich ist es doch, ohne Touristen mit ihren Plumpbäuchen in kurzen Hosen und den ewigen Kameras Sorbas’ Griechenland zu erleben, es ist ein Fest, die ganze Welt, wie sie war und zurzeit ist, an sich vorbeiziehen zu lassen, ohne einen Schritt machen zu müssen, es gibt auch Reisen in den Träumen, die alle so wunderbar oder verteufelt gefährlich sind – und Reisen ins eigene Unterbewusstsein, sofern man einen Schlüssel gefunden hat, um dies zu bewerkstelligen, da gibt es auch Archetypen, auf die zu stossen ein Erlebnis unvergleichlicher Art ist, heute reise ich, Simon, mit Nikos Kazantzakis in den „Felsengarten", ich habe mir soeben eine neue Pfeife angezündet, das Weinglas gefüllt, schwenkte im Drehfauteuil ein paar Zentimeter nach links und nach rechts, und los geht die Weltreise nach Japan und China, dazu höre ich Pjotr Iljitsch Tschaikowskijs Klavierkonzerte,
fremd bist du mir Sprache Alttagssprache Feuersprache rote kalte Sonnen erfrieren verhüllt und taumelnd fiebrig das ist wahr das Meer das hoffnungsvoll farbveralgte tanzt mit dem Tod bauchnabelanbauchnabelnackt unumstösslich lustvoll gibst du Antwort Sprache? liebst du mich? leugnest du mich? du schweigst? die Wunde glüht Flammen leibgefesselt verfinstern die Stirn in deinen Augen erkennt sich der Dämon die Lust zu sein komm Sprache wir töten uns um uns endlich im Fremden nah zu träumen täuschungslos
du bist nihilistisch schön ich bete dich an Gott als Fülle des Seins des Nichts Schlammfisch in den verkrauteten Gewässern der Nacht Urlust drängt ins Wort in die Welt der Idee ursachlos du bist züngelst mit deinem Körper Lust Primat des Erkennens ich lache du lachst wir lachen wir tasten uns zueinander das Pfeilhechtgebiss lobt Gott und ich psalmodiere deine Erregung vergib mir du befriedigen wir uns zwischenhinein Windblütler Zittergras tun wir nicht so als ob Leben irrtumslos Leben hiesse – fiebern wir uns gegenseitig aus
Wirklichkeit ist nicht von der Täuschung zu trennen
Philosophen sind Menschen die bei Sonnenschein einen Regenschirm aufspannen
man macht sich allzu viel Sorgen über Unnützes, Vergängliches – über die Winde in eines Lebens Auf und Ab, potztausend, warum etwas wichtig nehmen, wenn man weiss, auch das Wichtige dauert nur einen Augenblick, Uneinigkeit, Streit, Zwist, ich nehme mir nicht mehr die Mühe, das ernst zu nehmen, ich, Simon der Dichter, atme ein paar Mal ein und aus und siehe da, all das Bittere ist verflogen und die Süsse hält Einzug, sich Sorgen zu machen über unbezahlte Rechnungen, über abgesagte Begegnungen verweise ich vergnügt ins Trübe, Schwammige, das einen Augenblick später wieder hell und ziseliert, jung strukturiert vor mir liegt, über mürrische, verdriessliche, missgelaunte Miesepeter (o diese Knurrhähne!) muss ich lachen, das Miese ist mir widerwillig – ausser der blau-schwarz beschalten Miesmuschel, die ein Schmaus ist, das Gewoge der Zeitalter und Kulturen, die zyklisch Auf- und Niedergänge kennen, die alle höchstens ein paar Jahrhunderte dauern, sind auch nur ein paar Augenblicke der Geschichte, so wie die Reiche