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Ein ganz gewöhnliches Leben
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eBook601 Seiten7 Stunden

Ein ganz gewöhnliches Leben

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Über dieses E-Book

Um die Jahrtausendwende folgt Kurt Harmsen den Verlockungen des Finanzberaters Harry Grotte und will teilhaben an dem Aktienhype. Er investiert, träumt von Millionengewinnen und muss erleben, wie seine Aktien ins Bodenlose stürzen. Seine Ehe zerbricht, sein Arbeitsplatz gerät in Gefahr und ist schließlich verloren. Mehr und mehr verwandelte sich Kurt Harmsen in einen Wutbürger, der nach einem Ventil sucht, um seinem Zorn freien Lauf zu lassen.
Mit ihm haben zwei seiner besten Freunde und der Abiturient Tom Schwüler den Verlockungen des Anlageberaters nicht widerstehen konnte. Ihr einziger Gedanke: Harry Grotte muss büßen!
Sie observieren Harry Grotte und stellen fest, dass er Mitglied einer Gruppe von kriminellen Spekulanten ist, die ihr Spinnennetz europaweit ausgeworfen haben. Als Tom begreift, dass das Umfeld Harry Grottes die Immobilienkrise in Südeuropa zur Geldwäsche benutzt hat, beginnt ein unerbittlicher Wettlauf …
Ein Roman zur Finanzkrise 1998-2013.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum10. Feb. 2016
ISBN9783741214493
Ein ganz gewöhnliches Leben

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    Buchvorschau

    Ein ganz gewöhnliches Leben - Günter Schnelle

    Inhalt

    Kapitel 1

    Kapitel 2

    Kapitel 3

    Kapitel 4

    Kapitel 5

    Kapitel 6

    Kapitel 7

    Kapitel 8

    Kapitel 9

    Kapitel 10

    Kapitel 11

    Nachwort

    »Oh, wer will wohl nach Glanz und Reichtum ringen,

    wenn sie uns hin zu Schmach und Armut zwingen.«

    Shakespeare (Timon von Athen)

    1

    Verlegen betrachtete Kurt seine Fingernägel. Er hatte sie minutenlang erfolglos unter fließendem Wasser gebürstet. Der schmierige, ölige Film, der sich tagsüber unter ihnen abgesetzt hatte, erwies sich als überaus hartnäckig. Er schaute auf seine Armbanduhr. Wenn er nicht zu spät kommen wollte, musste er sich sputen. Kurt war in seine beste Hose geschlüpft, hatte sein dunkelblaues Lieblingshemd und ein dazu passendes Jackett angezogen. Schließlich ging es um Geldgeschäfte und zu Geldgeschäften kommt man adrett gekleidet, sagte sich Kurt Harmsen.

    Kurt Harmsen hatte sich 1997 entschlossen, beim Aktienhype dabei zu sein. Er wollte Kleinanleger werden und hatte rasch zugegriffen, als er Helmut Krug, Sonntagabendaufklärer und Tatortkommissar, im Werbefernsehen gesehen hatte. Wie der Zufall es wollte, wurde zur gleichen Zeit ein Sparvertrag fällig, von dessen Ertrag er einen erheblichen Teil in Telekomaktien investierte.

    Kurt träumte von Millionengewinnen. Wenn Gerda sich erkundigte, ob er nicht ein zu hohes Risiko eingehe, reagierte er unwirsch. Er setzte auf steigende Kurse und fühlte sich wie im Kasino.

    Immer wieder zögerte er in den Winterwochen des Jahres 2000, seine Aktien zu verkaufen.

    Gerda flehte ihn an: »Kurt, wir brauchen das Geld. Unser Haus muss fertig renoviert werden und Herbert...«

    »Herbert kann warten.«

    Als Kurt am sechsten März 2000 immer noch nicht verkauft hatte, stürzten die Telekomaktien wie eine Lawine bergab und begruben tausende Kleinaktionäre unter ihren Trümmern.

    Kurt musste ernüchternd einen Verlust von achtzig, neunzig Prozent hinnehmen, Er setzte darauf, dass die Aktienkurse wieder Fahrt aufnehmen und den früheren Höchststand locker erreichen, wenn nicht übertreffen, würden.

    Ungefähr neun Jahre nach dem ersten Börsengang war davon nicht mehr die Rede. Der Ausgabekurs lag immer noch weit unter dem von 1996, und es gab wenig Aussicht auf Besserung. Während Kurt Harmsen langsam begriff, was eine zu heiß gelaufene Börse für finanzielle Schmerzen und Wunden nach sich ziehen kann, witterte Harry Grotte in diesen Jahren gute Geschäfte. Schließlich hatte er Kurt Harmsen die Aktien vermittelt.

    »Sie hatten mir immense Hoffnungen mit der Telekomaktie gemacht. Ich hätte 2000 verkaufen sollen«, erinnerte Kurt den Finanzberater.

    »Sie wissen gar nicht, wie richtig Sie liegen, Herr Harmsen. Ich habe leider auch versäumt, meine eigenen Aktien abzustoßen. Wir sitzen in einem Boot.«

    Er zeigte mit seinem fleischigen Daumen auf sich, mit dem durchgestreckten Zeigefinger auf Kurt.

    Harry lächelte milde. Kurt schaute stumm in die Ferne, als könnte er dort einen jähen Höhenflug der Telekomaktie erblicken und irgendwo dahinter die Trümmer ihres Absturzes. Für einen knappen Moment flackerte ein zorniges Grummeln in Kurts Körper auf. Er lächelte es weg. Einfach so.

    *

    Im Mai 2004 gaben erst die Eisheiligen und in ihrem Gefolge die Kalte Sophie ihr Bestes. Nass und kalt breitete sie sich in den Maitagen aus. Die Sonne verkroch sich vor ihnen hinter Wolkenungetümen, und von der Nordsee pfiff ein nasskalter Wind durchs Land.

    Kurt und Gerda hatten es sich vor ein paar Minuten auf ihrem Sofa mit einer Kanne Tee gemütlich gemacht. Kurt hatte endlich Abstand von seiner Arbeit gewonnen. Er hielt seine Teetasse mit beiden Händen und spürte die wohlige Wärme des heißen Getränks durch das Porzellan. Der Regen prasselte gegen die Fensterscheiben. Gerda und Kurt sahen sich fragend an, als die Klingel energisch und ohne Unterbrechung läutete. Kurt legte seine Stirn in nachdenkliche Falten und schüttelte den Kopf. Gerda schob ihre Tasse zur Seite, erhob sich und öffnete die Haustür. Ein durchgefrorener und plitschnasser Henning stand vor ihr.

    »Henning«, sagte sie verblüfft, »dass du bei dem Wetter vor die Tür gehst. Komm rein.«

    Gerda drückte ihm ein Handtuch in die Hand und nahm ihm seine nasse Regenjacke ab. Sie griff nach Hennings Regenschirm und bewegte ihn vor der Tür einige Mal heftig hin und her, bis er einiger Maßen von den Regentropfen befreit war, schüttelte den Kopf und ließ den Schirm aufgespannt im Flur liegen. Sie warf einen Blick auf seine völlig durchnässten Halbschuhe. Sie öffnete eine Schublade, zog ein paar Gästehausschuhe heraus und reichte sie dem durchnässten Besuch. Henning nickte dankbar, stellte seine Schuhe neben den Schuhschrank und glitt in die bereitgestellten Filzpantoffel.

    Er folgte Gerda ins Wohnzimmer. Sie stellte eine dritte Tasse auf den Tisch und schenkte Henning ein. Als Kurt Henning begrüßte, fiel der Händedruck des Gastes matt aus, die Umarmung schlaff und fast teilnahmslos.

    Henning stierte abwesend auf seine Füße. Kurt setzte sich, warf Gerda einen besorgten Blick zu, den diese mit einem knappen Nicken erwiderte. Er tat ihnen leid. Henning hatte die Trennung von Jutta nicht verkraftet.

    Sie hatte vor wenigen Wochen ihre gemeinsame Wohnung, die keine zehn Minuten von dem Grundstück des Ehepaars Harmsen entfernt in einem Neubauviertel lag, verlassen. Hennings Gedanken pendelten seitdem haltlos wie ein defekter Glockenköppel durch sein Hirn. Sein Kopf war nichts anderes als ein zerfallener Rotationskörper. Er war sich nicht im Klaren darüber, was er Kurt und Gerda sagen sollte und wo er ansetzen sollte. Henning brauchte einfach jemanden zum Quatschen, jemanden, der seine verletzte Seele verbinden sollte. Jutta kam dadurch nicht zurück. Er hatte sie verloren und würde Jahre benötigen, um darüber hinwegzukommen, dass sie ihn verlassen hatte. Henning hob den Blick, schaute zu Kurt. Er empfand den Besuch bei Gerda und Kurt als wohltuend. Er spürte ihre Gemeinschaft als kleinen Trost. Henning schloss seine Augen, lehnte sich zurück, versuchte sich zu entspannen, nippte an seiner Teetasse.

    Er habe sich für den Abend vorgenommen, Unterlagen und Kontoauszüge zu ordnen und abzuheften, flüsterte er.

    »Ich kann nicht«, murmelte Henning, »ich kann meine Kontoauszüge nicht ordnen.«

    Gerda und Kurt schüttelten ungläubig den Kopf. Henning entging das Kopfschütteln. Er hatte die vor ihm liegenden Kontoauszüge an die äußerste Kante seines Schreibtisches geschoben, wollte sie nicht sehen und dort lagen sie tagelang, ohne dass die Abbuchungen und Eingänge sich verändert hätten oder dass Jutta gekommen wäre.

    Er hatte die Belege von April und Mai 2005 angestarrt, war von ihnen hypnotisiert. Sie lagen vor ihm und bedrohten ihn wie eine hinterhältige Schlange, deren Giftzähne sich in sein Leben gebohrt und deren toxische Mixtur längst sein Leben vergiftet hatte, seit Jahren schon. Sie kam Monat für Monat und hinterließ untilgbare Spuren von knapp dreihundert Euro. Auf dreihundert Euro monatlich belief sich der Kredit für die Immobilie in Halle. Er würde in zehn Jahren auslaufen und dann wollte Henning versuchen, die Wohnung zu verkaufen, selbst wenn der Verkauf ihm erhebliche Verluste einbringen würde. Wie trostlos!

    Henning schob seine Brille bis nach vorn an die Spitze seiner etwas zu klein geratenen Nase, schaute über sie hinweg, Richtung Fenster, durch die Scheibe, in der er, wenn er gewollt hätte, sein Spiegelbild hätte entdecken können. Allerdings war seine Stimmung angesichts der Bankbelege nicht danach, genau hinzusehen, zu sehr verschwammen Gegenwart und Vergangenheit und mündeten in der üblichen miesen Stimmung.

    Jutta und er hatten nach dem Fall der Mauer, als zahllose beglückte Ostbürger gen Westen strömten, um bei Aldi und anderen Supermärkten ihre frisch erworbene Deutsche Mark zu lassen, ebenfalls und in umgekehrter Richtung ihr Glück machen wollen. Das Sparbuch, so dachten sie und ihr Bankberater stimmte ihnen zu, werfe ungenügend Rendite ab. Sie folgten der Goldgräberstimmung wie einer Kompassnadel und wünschten sich von Herzen einen kleinen Schatz, der ihnen eine unbeschwerte Zukunft im Alter garantieren sollte.

    Ihr Bankberater, der Filialleiter einer bedeutenden Bank in dem norddeutschen Städtchen Heppenstett, kratzte sich an seinem beginnenden Doppelkinn und versprach ihnen das Beste vom Besten.

    Sie tranken einen Kaffee mit ihm, gesüßt, mit Milch und aßen von seinem feinen Gebäck.

    »Wir suchen, Herr Grotte, eine Anlagemöglichkeit. Wir möchten unser Kapital sicher und gut anlegen«, sagte Henning Schreiber. Seine Frau Jutta ergänzte: »Wir stellen uns vor, Herr Grotte, dass die Anlage einen Teil unserer Alterssicherung ausmacht.«

    Harry Grotte, dessen schwarzes Haar erste graue Strähnen aufwies, schaute in die hoffnungsvollen dunkelbraunen Augen seines Klienten.

    »Das lässt sich machen«, versprach er.

    Das Ehepaar Schreiber verließ mit unglaublicher Vorfreude im Gepäck die Bank.

    Harry war zeit seines Lebens gut vernetzt. Er kannte Juristen, Steuerberater, Fondsmanager und Makler. Mit einem dieser Makler, Dieter Tregtdorff, brachte Grotte das Ehepaar kurz nach dem Mauerfall zusammen. Waren die Ostdeutschen geblendet von der westdeutschen Konsum- und Glitzerwelt, so wollten die Westdeutschen den großen und herrlich duftenden Kuchen, den ihnen der immerwährende Bundeskanzler Kohl gebacken hatte, unter sich aufteilen.

    Und mittendrin saßen Harry und Dieter. Ein paar dieser Krümel beanspruchte das Ehepaar Schreiber für sich, nicht für gleich und sofort, sondern für später. Fürs Alter. Als Sicherung. Harry gönnte sie ihnen von Herzen gern. Er fegte mit Dieter Tregtdorff die Krümel für das Ehepaar Schreiber in Form einer Altbauwohnung in Halle zusammen.

    Harry lud das Ehepaar nach Berlin ein und versprach, dass der Herr Tregtdorff, ein sehr versierter Makler und Freund, mit am Tisch sitzen würde.

    »So wird das Haus, in dem sich Ihre Wohnung befinden wird, auch aussehen«, schwärmte Hinrichs von der Aufbau-Ost und kratzte sich seinen blanken Schädel. Er blätterte enthusiastisch in einem Prospekt, das eine Reihe fertiggestellter Objekte auswies.

    »Sehen Sie nur, wie wunderbar die Fassade geworden ist.« Er faltete seine Stirn in Sorgenfalten: »Und das trotz strenger Auflagen und Denkmalschutz!«

    Tregtdorff nickte zustimmend.

    »So wird das Haus, in dem sich Ihre Wohnung befindet, auch aussehen.«

    Harry Grotte lächelte verträumt.

    »Ist dieser Jugendstil nicht herrlich?«

    »Mit Ihrem Kapital und dem Kapital der anderen Eigentümer sanieren wir das Gebäude komplett. Es wird entkernt, die altehrwürdige Fassade wieder in den ursprünglichen Zustand versetzt und mit privaten und staatlichen Mitteln hergerichtet«, fasste Hinrichs zusammen. Seine Stirn glättete sich. Er lächelte hingabevoll.

    »Sie sparen Steuern, denn das Haus ist wie gesagt denkmalgeschützt und wird vom Staat gefördert. Zudem erhalten Sie Mieteinnahmen und haben damit zusätzlichen Gewinn«, lockte Grotte.

    Das Ehepaar Schreiber fieberte dem Besitz entgegen, unter- schrieb eine Reihe von Verträgen, jubelte über die vielen Deutschen Mark, die später ihr Konto füllen würden, und dankte Harry Grotte von Herzen.

    Im verflixten siebten Jahr, die Deutsche Mark war dem Euro gewichen, Harry Grotte hatte längst die dröge Bank verlassen, das Ehepaar Schreiber aus seinen Erinnerungen gestrichen und sich zum Finanzberater aufgeschwungen, standen Jutta und Henning klagend in seinen Räumen.

    »Nun, Herr Tregtdorff hat einen guten Job gemacht. Das Konzept war einwandfrei. Ihn trifft keinerlei Schuld an den Baumängeln«, sagte Grotte.

    »Es kann doch nicht sein«, warf Henning Schreiber ein, »dass wir eine Wohnung in einem Haus erhalten haben, das nachlässig saniert wurde. Die ersten vier, fünf Jahre hatten wir Mieter. Zog einer aus, hatte die Mietgesellschaft bald den nächsten. Aber dann, vor zwei Jahren muss es gewesen sein«, Henning schaute zu Jutta, »als plötzlich die Bausubstanz marode wurde und die Zimmerdecken bröckelten.«

    Harry Grotte klopfte gleichmäßig und leise mit seinem Bleistift auf seinen Schreibtisch.

    »Und was glauben Sie, Herr Grotte, machen die Mieter?« Wütend blickte Jutta zum Finanzberater, der mit einer schnelleren Taktfolge reagierte.

    Grotte verzog keine Miene, ließ die Blicke von sich abprallen. Er stülpte seine wulstigen Lippen nach vorn und sog kräftig Luft in seine ungleichmäßig gewachsene Nase. Sein graublauer Blick heftete sich fest an seine Klienten.

    »Sie sind ausgezogen, Herr Grotte«, stöhnte Henning und strich sich durch sein dichtes, pechschwarzes Haar, »Herr Tregtdorff ist nicht aufzufinden. Die Vermietungsgesellschaft hat uns mitgeteilt, dass die Aufbau-Ost Insolvenz angemeldet hat.« Er strich sich über sein glatt rasiertes Gesicht und rückte seine modische Brille zurecht.

    »Wir haben keine Mieteinnahmen und müssen Ihrer Bank den Kredit zurückzahlen«, klagte Jutta.

    »Wie Sie wissen, arbeite ich nicht mehr für meine Bank«, erwiderte Grotte stoisch. Er verschwieg, dass es zur Geschäftspraxis der Aufbau-Ost gehörte, gutgläubigen Kunden überteuerte Immobilienobjekte oder Schrottimmobilien zu verkaufen, um sich anschließend mit einer Insolvenz aus dem Staub zu machen. Dieselben Personen verkauften heute für die Europa-Aufbau überteuerte Immobilien in Leipzig, Magdeburg und seit ein paar Monaten auch in Portugal, Spanien und Griechenland. Tregtdorff hatte sein Büro von Hannover nach Hamburg verlegt, sich einen phantasievollen Namen für sein Geschäft zugelegt und blieb damit für das Ehepaar Schreiber unauffindbar.

    »Können Sie nicht etwas für uns tun, Herr Grotte?«, flehte Jutta.

    Der Angesprochene straffte seinen Körper, strich über seinen Bauch und zupfte seine Krawatte zurecht. Als sie ordentlich genug lag, sagte er: »Ich sehe, was sich machen lässt. Am besten, ich spreche mit der Bank. Versprechen will ich nichts, aber es ist möglich, einen günstigen Kredit auszuhandeln, mit einer anderen Laufzeit, geringeren Zinsen und überschaubarer Belastung für Sie.«

    Ohnmächtig vor Zorn, voller Trauer über die eigene Dummheit und wütend wegen der Dreistigkeit des Dreigestirns Berater, Makler und Baugesellschaft verschlug es Jutta und Henning die Sprache. Seit zwölf Jahren stotterten sie ihre mittlerweile unvermittelbare Wohnung in Halle ab. Zehn Jahre, in denen das Ehepaar Schreiber hinter Harry Grotte herschlich und endlich Mut gefasst hatte, um ihn zur Rede zu stellen.

    Und dann so etwas.

    Jutta knirschte kaum merklich mit den Zähnen. Henning atmete auf, als das Gespräch endlich beendet war, zerwühlte sein schwarzes Haar und versuchte es mit fahrigen Bewegungen wieder zu glätten. Harry Grotte begleitete sie zur Tür seines Anwesens. Sie bedankten sich höflich bei ihrem Gastgeber und verabschiedeten sich.

    Kaum hatte Harry Grotte die Haustür hinter ihnen zugezogen, gerieten Jutta und Henning Schreiber in einen heftigen Streit, der Carmen Grotte, die nur wenige Schritte entfernt in der Garage stand, den Atem stocken ließ.

    »Ich habe dir von Anfang an gesagt, Henning, der Tregtdorff ist ein windiger Kerl und steckt mit Grotte unter einer Decke. Das war alles ein abgekartetes Spiel«, rief Jutta empört.

    Henning zuckte wie unter Stromschlägen zusammen.

    »Ich wollte Steuern sparen, Kapital in einer sicheren Altersvorsorge anlegen und für uns beide vorsorgen«, bekannte er leise.

    Sie nickte heftig. »Du bist Normalverdiener, Angestellter in einem kleinen Handwerksbetrieb, Henning, und ich bekomme für meinen Job in der Altenpflege auch nicht die Welt«, gab sie zu bedenken. Sie hatte ihm das oft gesagt. Wieder und immer wieder. Jetzt wollte sie nicht mehr sprechen, kniff ihre Lippen zusammen, als hätte sie ein Schweigegelübde abgelegt.

    Er hatte nicht auf sie gehört. Er wollte unbedingt zu den Vereinigungsgewinnern gehören.

    »Wir haben kein Spielgeld«, hatte sie ihm zugerufen.

    Henning Schreiber sah sich mit der deutschen Mittelschicht in den neunziger Jahren und noch mehr um die Jahrtausendwende in einem nie endenden Aufschwung, der, emporgejubelt von Politikern, vom Mainstream der Volkswirte und orakelnden Wissenschaftlern gefeiert, ungeahnte Einnahmen aus Investmentgeschäften versprochen hatte. Tief in seinem Inneren hatte er seinen Fehler längst bereut, versuchte ihn gutzumachen, indem er für Jutta und sich Urlaubsfahrten zu Juttas Lieblingsorten organisierte. Später fehlte ihm der Mut, sich Jutta gegenüber zu bekennen, seinen Fehler einzugestehen.

    Er schaute schamhaft auf die steinernen Treppenstufen, hielt sich am hölzernen Geländer fest, stieg langsam, Böses ahnend, empor. Seine Widerworte versickerten wie erste Regentropfen nach Wochen der Dürre.

    Sie stritten, bis sie ihre Wohnung erreicht hatten. Jutta schloss wortlos auf. Ohne ein Wort zu sagen, nahm sie einen Koffer, packte ihn mit den Kleidungsstücken, die ihr am liebsten waren, sortierte Kosmetikartikel und das, was für ihre tägliche Hygiene am wichtigsten war. Sie füllte den Koffer, schnappte ihn und verließ wortlos ihre gemeinsame Wohnung.

    Henning hatte Kurt angerufen, wollte sprechen. Gleich nach der Trennung. Sofort. Er brauchte Trost, als wäre wohlwollender Zuspruch ein gutes Medikament. Mit einem alten Freund. Über die Wohnung in Halle. Er brauchte jemanden, der ihm zuhörte. Henning saß bereits eine viertel Stunde vor dem verabredeten Zeitpunkt vor einem Glas Weißwein, schaute immer wieder auf seine Uhr, deren Zeiger sich mühsam vorwärts quälten. Als Kurt mit einer Verspätung eintraf, die bei Henning Erinnerungen an die üblichen Verspätungen der Deutschen Bahn wachriefen, war aus dem Glas längst eine Flasche geworden. Gefrustet saß er an seinem Fensterplatz wie ein versetzter junger Kerl, dessen erstes Rendezvous geplatzt war, als Kurt endlich ins Lokal schlich.

    Henning sah kaum auf, als Kurt seine Jacke ablegte und sich ihm gegenüber auf den Holzstuhl setzte.

    Kurt hörte Hennings Stimme, die brüchig klang, als würde er mühsam eine nicht enden wollende Enttäuschung unterdrücken, während es im Inneren seines Freundes immer heißer brodelte. Nach zwei, drei weiteren Gläsern und einem Happen zu essen hatte er sich gefangen. Die Trennung von Jutta machte ihm zu schaffen.

    Sie bestellten eine weitere Flasche Weißwein. Hennings Erregungspegel war auf Normalstand heruntergefahren.

    »Ich verfluche den Tag«, schnaubte Henning, »an dem wir die Wohnung in Halle gekauft haben. In ein paar Monaten will ich sie verkaufen. Einfach nur loswerden. Grotte hat uns einen windigen Vermittler, diesen Tegtdorff, vermittelt. Dem sind wir auf den Leim gegangen.«

    »Ich will nicht klagen«, erwiderte Kurt, »für unser Haus hat Herr Grotte uns einen zinsgünstigen Kredit verschafft.«

    Sie hatten früher einige Male, als Henning und Jutta noch ein Paar waren, über die fragwürdige Immobilie, die Henning und Jutta erworben hatten, gesprochen.

    Die Talfahrt der Telekomaktien verschwieg er. Das brauchte Henning nun wirklich nicht zu wissen.

    »Nicht nur, dass unsere Ehe an dieser Scheißimmobilie kaputtgegangen ist. Ich bezahle sie bis heute ab. Als ich vor ein paar Wochen versucht habe, die Bude zu verkaufen … ich hätte dreißigtausend zuschießen müssen. Habe ich nicht gehabt.«

    »Und jetzt?

    »Stottere ich zwanzigtausend ab und hoffe, dass ich in ein paar Jahren die Bude verscherbeln kann.«

    Kein angenehmes Gesprächsthema, aber immerhin besser als über seinen Job oder diesen Widerling von Produktionsleiter. Kurt seufzte erleichtert, trank und setzte das Glas ab. Henning starrte auf den gefliesten Boden.

    Fünf Sekunden später hatte er genug gesehen.

    Sie unterhielten sich bei einer weiteren Flasche Weißwein über gemeinsame Urlaubsfahrten, denen ihr Alkoholpegel verhalf, in guter Erinnerung zu bleiben. Sie lachten über verwaschene Anekdoten, lobten, dass es Fotos gab oder sogar kurze Filme. Sie hatten nach ihren Fahrten gemeinsame Abende verbracht, Filme geschaut, Fotos betrachtet.

    Und jetzt saß Henning dem Ehepaar Harmsen wie ein Häufchen Elend gegenüber, jammerte, bemitleidete sich selbst.

    Für einen winzigen Moment halfen der heiße Tee und das Gefühl, nicht allein zu sein.

    *

    Wie hatte ihn die kleinstädtische Behäbigkeit in Heppenstett genervt. Dieses träge, miesepetrige Dasein. Immer gleichmäßig. Ohne Höhen und Tiefen. Als hätte sich das Meer des Lebens in einer ewigen Ebbe in weite Ferne zurückgezogen und käme nicht einmal mehr am Wochenende zu Besuch.

    In diesem Heppenstett hatte Tom das Licht der Welt erblickt und dort war er aufgewachsen. Als er knapp drei Jahre alt gewesen war, rebellierten die Uranatome im Reaktor von Tschernobyl und stießen sich zu einer ungeplanten Kettenreaktion an. Luft, Wasser und Erde wurden kontaminiert. Heiner und Doris, Toms Eltern, sammeln seitdem keine Pilze mehr in der Lüneburger Heide. Ein Jahr zuvor, im Mai 1985, waren mehr als zehntausend Menschen gestorben, als ein Wirbelsturm mit Sturmflut Bangladesch heimgesucht hatte. Knapp vier Jahre später läuft der Öltanker Exxon Valdez vor Alaska auf ein Riff. Vierzigtausend Tonnen Rohöl laufen aus.

    Es ist, als wäre er vor einem einzigen Katastrophenszenarium aufgewachsen.

    Was lag näher, als sich politisch zu engagieren? Er trat als sechzehnjähriger Abiturient der Bürgerinitiative ProNatur in Heppenstett bei, machte für sie den Internetauftritt und verlinkte die Website der Bürgerinitiative mit der anderer Naturschutzorganisationen.

    Tom war in der elften Klasse, als er 1999 mit gespannter Neugier verfolgte, wie in Seattle Demonstranten eine Vollversammlung der Welthandelsorganisation zum Scheitern brachten. Zwei Jahre später hinderten ihn eine Matheklausur und eine Sportleistungsprüfung an der Teilnahme der Kundgebung gegen das G7-Treffen in Genua, die überschattet wurde von heftigen Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und Demonstranten.

    Ende der neunziger Jahre beteiligte sich die rotgrüne Regierung aktiv am Kriegsgeschehen im Kosovo, und am 11. 09. 2001 steuerten Terroristen zwei Passagiermaschinen in die Zwillingstürme des Word Trade Center in New York. Mehr als dreitausend Menschen wurden ermordet. Und am zweiten Weihnachtstag 2004 hatte die Erde tief unten im Indischen Ozean gebebt. Ein entsetzlicher Tsunami ertränkte fast eine viertel Million Menschen.

    Tom sah sich bestätigt, dass nur politisches Engagement die Umdrehungszahl der Erde auf ein vernünftiges Maß reduzieren konnte. Er wollte das Leben, die Arbeit und die Gesellschaft aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten und diese Voraussetzungen sollten sein Leben bestimmen.

    Tom Schwiller, der junge, ehrgeizige Technikfreak, war noch nicht geboren, als der erste Mikroprozessoren durch pfiffige Ingenieure und Techniker bei Intel entwickelt wurden. Später sollten sie das Herz elektronischer Steuerungselemente für Maschinen und Anlagen, aber auch für Heimcomputer, von denen IBM noch in den achtziger Jahren meinte, sie würden nie und nimmer Haushalte, Büros und Arbeitszimmer bereichern, die aber als Macintosh mit feinem Design und später und intensiver durch Microsoft mit ihrem Betriebssystem Windows eine rasante Informations- und Kommunikationstechnologie beinhalteten, die sich wie ein gigantisches Spinnennetz rund um den Globus in Form von Computern, Laptops, Tabletcomputern und Smartphones verbreitete und dreißig Jahre später mit dem Internet ihre wahre Bedeutung fand.

    War die Elektronik in den Fabrikhallen und Büros eben noch unterstützendes Element, so durchlief sie eine Metamorphose bis hin zu dem bestimmenden Element der Arbeitswelt und legte Spuren bis weit in Familien und Einzelpersonen.

    Als Tom heranwuchs, hatte Steve Jobs den ersten Apple-Computer längst vorgestellt und Microsoft begann, die Haushalte mit Computern zu erobern. Handwerklich geschickt, analytisch einer der Besten, fleißig, neugierig, baute Tom jedes technische Gerät, das ihm in die Hände fiel, auseinander, zerlegte den Fernseher, worauf Heiner Schwiller, sein Vater, einen seiner seltenen Tobsuchtsanfälle bekam, betrachtete sich den Telefonhörer von innen und setzte zum Erstaunen seiner Eltern die technischen Geräte wieder funktionsfähig zusammen.

    Ob er ein Teil der technischen Geräte war oder sie ein Teil von ihm waren, hatten Freunde, die ihn gut kannten, nie wirklich herausgefunden. Auf jeden Fall waren sie seine Schwestern und Brüder.

    Wer ihn suchte, sah Toms schwarzen Schopf hinter Türmen von Bildschirmen, Reihen von Rechnern und neuerdings unzähligen mobilen Computern leuchten. Er hatte sein Zimmer in eine Elektronikwerkstatt verwandelt, kaufte alte Rechner für ein paar Euro, machte sie wieder gebrauchsfähig und schneller, als sie jemals gewesen waren, und verkaufte sie anschließend zu guten Preisen.

    Tom liebte zudem die Werkstatt seines Großvaters, eines Elektromeisters. Mit Draht, Lötzinn, Lötkolben und Transistoren bewaffnet, ersann er kleine Empfänger. Später half er in der Nachbarschaft aus. Reparierte, was defekt war, brachte zusammen, was auseinanderfiel, und besserte damit sein Taschengeld auf. Großvaters Herzversagen schockte ihn mehr, als er seinen Eltern gegenüber zugab.

    Er bekam nichts geschenkt und nahm nichts geschenkt.

    Seine Fähigkeiten nutzte er später, um staatlichen und privaten Institutionen zu dokumentieren, dass sie unglaublich träge und selbstzufrieden waren, eingebildet von ihrer Größe, dem Wahn verfallen, in der Hierarchie ganz oben zu stehen, und nicht mehr fähig, sich ausreichend gegen die Gefahren des Internets zur Wehr zu setzen.

    Er hatte sich noch während seines Abiturs in einer Reihe von Banken und Behörden eingehackt und setzte sich nach seinem Angriff mit den Verantwortlichen der Banken in Verbindung.

    Tom zeigte ihnen unbarmherzig ihre Sicherheitslücken auf.

    Die Bankmanager waren empört, als der eben der Pubertät entsprungene Schüler ihnen die Defizite ihrer Sicherheitssysteme vor Augen führte.

    Zwei der Manager konnten ihre Niederlage nicht verkraften und zeigten ihn an. Heiner und Doris fielen aus allen Wolken. Durch einen guten Freund in Hamburg lernte Tom Pitt Rotstett kennen, einen bulligen Anwalt, der ihn vor Gericht vertrat.

    Tom erhielt eine Vorstrafe, die sich auf eine Bewährungsstrafe von einem Jahr streckte. Seitdem arbeitete er für diverse Behörden und Institutionen des öffentlichen Rechts, um deren Computer und Server gegen unerwünschte Eindringlinge zu schützen.

    Sein erster Kunde wurde der Richter, der ihn verdonnerte, ein Jahr lang die Finger von der Hackerei zu lassen.

    Tom war so etwas wie ein Doppelagent, nur mit dem Unterschied, dass sowohl die Behörden wie auch seine Freunde und Kollegen wussten, was ihn antrieb.

    Umgekehrt stellte Tom fest, dass ihm weder früher noch später jemals wieder eine Akquise so gut gelungen war. Sein Prozess wurde öffentlich, Manager aus Banken, Versicherungen und Verwaltungen luden ihn ein.

    Er schloss einige Lecks in ihren Sicherheitssystemen, neue Schleusen öffneten sich und wieder riefen sie nach Tom Schwiller, um für den geeigneten Verschluss zu sorgen. Tom pendelte zwischen Widerstand gegen das Establishment und Sicherung des Establishments, zumindest soweit es seine EDV anging.

    Politisch war er weiter von ihnen entfernt als die internationale Weltraumstation ISS.

    Er umkreiste das Establishment, das ihn einlud. Er landete wie mit einer Weltraumfähre, eine Art Außerirdischer, und sie bemächtigten sich seiner Kompetenzen, Fertigkeiten und Fähigkeiten, nicht aber seines Geistes und seines Willens.

    Die Manager sahen ihm sein politisches Engagement nach.

    Sie waren gewohnt, mit dem Teufel einen Pakt zu schmieden, wenn es nur ihren Interessen diente, was in diesem Fall bedeutete, dass Tom ihre Daten zu sichern hatte.

    Sie vertrauten historisch bedingt den Herrschern und Politikern, den Schatzmeistern und Finanzjongleuren.

    Im Grund genommen waren ihre Welten gut geordnet.

    Tom faszinierte diese seltsame Welt, in der er alle Welt im Unklaren ließ, wer das Raubtier war und wer nur herumschwamm, um gefressen zu werden.

    Als alleinige Daseinsberechtigung.

    Oder ganz am Anfang der Nahrungskette ein klägliches Grünzeug abgab.

    Diese faszinierende Welt des Fressens und Gefressenwerdens steckte voller Geheimnisse und Rätsel.

    Und dann waren es die friedlichen Fischschwärme, in die immer wieder die spitze Nase des Hais stieß, mit rasierklingenscharfen Zahnreihen, um zu fressen, was es zu fressen gab.

    Tom senkte sein Kinn in seine rechte Hand, grübelte über Fressen und Gefressenwerden, über oben und unten, Arm und Reich. Gedanken, die ihn nicht losließen, ebenso wenig wie die Bilder von Seattle oder Genua.

    Bis vor etwa drei Jahren hatte Tom einen gesunden Ausgleich für die zeitfressenden und energetisch anstrengenden Anforderungen besessen, die die Schule ihm abverlangte. Er spielte Fußball. Und das ziemlich gut.

    Der Fußball trug Thomas durch Grundschule und Gymnasium. Mathematik war nach Sport sein Lieblingsfach. Er wollte Lehrer werden, für beide Fächer. Sein Traum. Und jetzt hatte es sich ausgeträumt. Im Saisonfinale 2002 stürmte Tom auf die gegnerische Verteidigung zu, spielte den ersten Gegner aus und geriet mit dem zweiten Verteidiger in einen Zweikampf. Ohne dass dieser ihn ernsthaft berührte, blieb Tom mit schmerzverzerrtem Gesicht am Boden liegen, hielt sich das rechte Knie, schrie, wie man aus Verzweiflung und vor Schmerz nur schreien kann. Die Späher umliegender Profivereine aus Hannover oder vom FC St. Pauli zogen unverrichteter Dinge, mit Kopfschütteln ab. Alles, was ihm blieb, waren Wimpel vom FC St. Pauli Hamburg und ein Kicker-Spielgerät in seinem Zimmer.

    Tom litt still vor sich hin, sprach kaum und trug seinen Kummer auf den Schultern seines zusammengekrümmten Körpers. Nichts war mehr zu sehen von dem dynamischen Sportler, von einem der besten Jugendfußballer Heppenstetts.

    Tom hatte seine persönliche Katastrophe erlebt. Heiner Schwiller schmerzte das Herz, wenn er seinen Sohn sah.

    Dass sein Sohn in Mathe und am Rechner ein Genie war, wusste er, und dass er selbst gute Programme schrieb, hatte er spätestens bei dem Gerichtsprozess mitbekommen, aber dass sie von Unternehmen und Behörden nachgefragt wurden, verblüffte ihn. Wenig davon hatte er bisher mitbekommen. Er kratzte sich verlegen am Hinterkopf. Er hätte es lieber gesehen, wenn sein Sohn Mathematik oder Informatik studiert hätte.

    Heiner erschien es, nach dem Sportunfall mehr noch als früher, dass Tom zu seinem Rechner eine besondere Freundschaft pflegte. Dass Tom in einem landesweiten Informatikschulwettbewerb den zweiten Platz gemacht hatte, hatte er durch Toms Depression völlig aus den Augen verloren.

    Er bemühte sich erfolglos, suchte Toms Nähe, ohne dass er darauf einging.

    Tom war abgeschnitten von der Welt.

    In einer eigenen.

    Einer unbetretbaren.

    Seiner Welt.

    Doris hatte vorsichtig angeklopft. Behutsam. Sprach mit ihm. Die dunkle Welt der Sinnlosigkeit, die Toms eigenes Selbst aufzusaugen drohte, erlebte eine Dämmerung. Aus Schwarz wurde Grau, aus Nacht dichter Nebel, der sich nach und nach lichtete und leichte Tropfen auf der Haut bildete.

    Zum Wachwerden. Wie morgendlicher Tau.

    Toms Frage blieb unbeantwortet: »Welchen Sinn macht das alles?«

    Ein leichtes Beben erschütterte seine junge Persönlichkeit. Risse wurden sichtbar.

    »Warum?«

    Tom fühlte ein hohes Maß an Verunsicherung: »Wieso ich?«

    Seine persönliche Verunsicherung traf auf Umwälzungen, die Deutschland und vor allem die deutsche Sozialdemokratie bis ins Mark erschütterten. Sie beinhalteten eine grundlegende Reform der sozialen Sicherungssysteme und des Arbeitsmarktes. Sein Berufswunsch war mit dem Sportunfall zerborsten. Tom musste sich anders orientieren. Er ahnte, dass der Arbeitsmarkt von ihm enorme Flexibilität und Anpassungsbereitschaft erwartete.

    Er hatte keine Vorstellung, wie er darauf reagieren sollte.

    Er fühlte sich niedergeschlagen, gequält von dem Gedanken, keinen Leistungssport mehr ausüben zu können, ja zu dürfen. Immerhin gab es einen kleinen Lichtblick: Er hatte vor ein paar Jahren eine Versicherung abgeschlossen, die ihn davor bewahren sollte, bei einer möglichen Invalidität durch einen Sportunfall den Boden unter den Füßen zu verlieren. Ein kleiner Schutz, nicht mehr.

    Oder die Vorstellung von einem Schutz.

    Diese Versicherung sollte ihm helfen, eine berufliche Alternative zu entwickeln. Er würde einen ausreichend hohen Betrag bekommen und den wollte er gut und sicher anlegen.

    Er lag nachts oft wach, schlief tagsüber mit offenen Augen, antwortete selten auf Fragen. Tom zog sich in seine eigene Welt zurück, ließ die Jalousien herab und war kaum ansprechbar.

    Tom Schwiller würde nie wieder Leistungssport betreiben können, lautete die Diagnose der behandelnden Ärzte. Tom schluckte das Ergebnis. Sein neunzehnter Geburtstag und das Abitur lagen hinter ihm, eine ungewisse Zukunft vor ihm.

    Er schrieb seiner Versicherung, fügte die ärztlichen Bescheinigungen hinzu, verschloss den Briefumschlag und frankierte ihn.

    Der fällige Betrag wurde ohne Zögern und weitere Nachfragen von der Versicherungsgesellschaft überwiesen. Er lag im höheren fünfstelligen Bereich.

    Für einen jungen Mann, der am Eintrittstor zur Arbeitswelt pochte, hörte sich der Betrag gigantisch an. Er wollte ihn gut anlegen, lange von seinem kaputten Knie etwas haben.

    Tom hatte von seinem Schulfreund Martin Harmsen gehört, dass in Heppenstett der frühere Filialleiter der Bank, Harry Grotte, als fähiger Finanzberater galt. Kurt, Martins Vater, hatte bei Harry sein Vermögen als Alterssicherung angelegt. Auch hatte Harry ihm bei der Bereitstellung eines Kredits für den Umbau des elterlichen Hauses zur Seite gestanden.

    Tom suchte Harry Grotte auf. Grotte versprach, das Geld gut und sicher anzulegen. Er begriff schnell, dass Tom auf Computer, Rechner und Internet abfuhr. Wie elektrisiert war der Sportinvalide, als ihm der Finanzberater von aufstrebenden Start-Ups der IT-Branche berichtete, von willensstarken Jungunternehmern und phantasiereichen jungen Kerlen, mit Jeans, Turnschuhen und Pulli bekleidet. Die kalifornische

    Silicon-Valley-Welt würde auch seine Welt werden.

    Ein Windhauch des modernen Lebens sollte in Heppenstett wehen.

    In der Welt der IT-Unternehmen wollte er heimisch werden.

    Was sprach dagegen, in einem ersten Schritt das eigene Kapital in Technologiefirmen anzulegen?

    Harry klopfte ihm kameradschaftlich auf die Schulter.

    »Mensch, Tom«, sagte er lachend, »das ist doch deine Welt.« Tom nickte. Das war seine Welt. Sie einigten sich darauf, dass Grotte Toms Kapital bei Firmen des 1997 an der Deutschen Börse eingerichteten Marktsegments ›Der Neue Markt‹ anlegte. Grotte legte Tom eine Wachstumskurve nach der anderen vor die Nase. Der Aufstieg war rasant, die jungen Unternehmen brillant. Tom war begeistert, fragte nicht nach, suchte auch nicht das Gespräch mit Heiner. Er trottete stattdessen einmal monatlich auf Grottes Gehöft, trank mit ihm Sekt auf den ›Neuen Markt‹. In ihren Gläsern perlte noch der Champagner, als die Blase längst geplatzt war. Frühe Insolvenzen einzelner Unternehmen hatte Grotte verharmlost oder gar nicht erst erwähnt, auch nicht, dass Ende 2001 die deutsche Börse die Portalseite neuermarkt.com eingestellt hatte.

    Ende der neunziger Jahre flossen aus dem ›Neuen Markt‹ durch wahnwitzig hoch notierte Internetwerte und weitere einschmeichelnde Technologiewerte aus der Medien- und Unterhaltungsbranche sowie hoffnungsfrohe Biotechnologiedaten unglaubliche Mengen finanzieller Mittel zu den unscheinbarsten Start-Up-Unternehmen. Sie sollten der digitalen Welt zu ungeahnten Höhenflügen verhelfen, die im März 2000 in einem Nebel aus ehemals schillernden Seifenblasen verschwand.

    Die Dotcom-Blase war geplatzt. Die Wunderkerze der Deutschen Börse, der Nemax, verglühte, die Werte waren pulverisiert. Er wurde gestrichen, als die Anlegerverluste neunzig Prozent überschritten hatten.

    Betrugsfälle, Insidergeschäfte und Insolvenzen wechselten sich ab. Ende.

    Gegen Ende des Jahres humpelte Tom die Treppe zur Eingangstür von Grottes Wohnhaus hoch. Eine falsche Physiotherapie hatte seinem Knie den Rest gegeben. Tom erkundigte sich, was aus seinem Geld geworden war.

    »Die Entwicklung war nicht so stabil, wie es anfänglich aussah«, analysierte Grotte.

    Tom starrte durch ihn hindurch. Wenn er statt pechschwarzer Augen zwei Laserlichtquellen gehabt hätte, hätten diese Grotte auf der Stelle durchbohrt.

    »Wir können deinen verbleibenden Betrag natürlich alternativ anlegen«, schlug Grotte vor.

    »Nein«, sagte Tom, schüttelte resigniert den Kopf, legte beide Hände auf sein schmerzendes Knie.

    Grotte erledigte die notwendigen Formalitäten. Er wollte den Kerl loswerden, an den Schultern aus seinem Haus schieben.

    Endlich stand der Typ auf der Treppe vor dem Eingang zu Grottes Wohn- und Arbeitshaus.

    Mein Gott, dachte der Finanzberater, ein blöder junger Fratz, der sein Versicherungsgeld verspielt hatte.

    Gut, kann vorkommen.

    Er grübelte, was er zu tun hatte. Fünf Minuten später wusste er es. Grotte begann, Kundenprofile anzulegen. Mit dem Profil von Thomas Schwiller wollte er beginnen. Und dann sollten die anderen folgen.

    Tom taumelte wie betäubt nach Hause, verschwendete keinen Gedanken mehr an Grotte und wartete einfach nur noch auf den zusammengeschmolzenen Betrag.

    Der Sportunfall hatte ihn aus der Bahn geworfen. Nach dem Absturz seiner Anlagen versackte Tom in eine tiefe Depression. Eine dunkle Welt umwebte ihn für fast ein halbes Jahr. Er lebte in einem dunklen Tunnel, in dem jede seiner Bewegungen, die ohnehin eingeschränkt waren, schmerzte. Seine Studienwünsche Lehramt für Mathematik und Sport hatten sich längst in Luft aufgelöst, er zog sein rechtes Bein nach, manchmal schien es, dass es Schleifspuren auf den Wegen hinterließ. Seine schwarzen Augen hatten jeden Glanz verloren, den Blick nach unten gerichtet, schlappte er durch Heppenstett. Sein drahtiger, sportlicher Körper hatte jegliche Energie verloren.

    Sein Interesse zu studieren war auf den Gefrierpunkt gesunken. Die Sorgenfalten seiner Eltern gruben sich immer tiefer in ihre Gesichtszüge ein.

    »Mensch, Tom«, sagte Heiner Schwiller verzweifelt, »geh zum Arzt, zur Therapie. Schreib dich ein. Mach dein Studium. Zieh es durch. Dann kommst du auf andere Gedanken.« Er zog seinen Sohn an seinem kräftigen Körper, sprach leise, beschwörend.

    Tom schaute ihn lange verloren aus seinen dunklen Augen an, in denen Trauer und Niedergeschlagenheit heimisch geworden waren.

    »Ich kann nicht«, sagte er tonlos.

    Schüttelte den Kopf. Kein Studium. Heiner fürchtete, die Depression seines Sohnes könnte schlimmste Auswirkungen haben, ihn nicht mehr verlassen. Er wollte ihm helfen, zur Seite stehen, wusste nicht, wie.

    Tage später, Heiner hatte nicht mitbekommen, ob es einen Anlass gab und welcher das gewesen sein könnte, raffte Tom sich auf.

    »Ich gehe«, sagte er lächelnd, und das war das erste Mal seit Monaten, dass Heiner Tom lächeln sah, »nach Hamburg."

    Heiner, der eine Tasse Tee in der Hand hielt, strich durch seinen dichten Bart und betrachtete aufmerksam das Gesicht seines Sohnes. Dann wandte er sich Doris zu.

    »Hast du davon gewusst?«

    Sie verneinte.

    »Wovon willst du leben?«, hakte Heiner vorsichtig ein. Besorgt schaute er zu Doris.

    Tom wiegelte ab: »Keine Sorge, ich verdiene mein Geld selbst.«

    Heiners Stirn zog sich misstrauisch zusammen. Als Tom begonnen hatte, Programme zu schreiben, hatte er sich eine Bewährungsstrafe eingehandelt.

    »Was heißt das genau?«, fragte er argwöhnisch.

    Tom hatte noch während der Schulzeit einfache Sicherheits- und Antispionagesoftware entwickelt, was es ihm leicht machte, in eine kleine Hamburger IT-Firma einzusteigen.

    »Verdienst du damit genug?«

    Toms Mutter warf ihrem Mann einen sorgenvollen Blick zu. Tom lachte kurz auf.

    »Sicherheitssoftware. Pitt Rotstett …«

    »Dein ehemaliger Anwalt …«

    »Und Freund«, ergänzte Tom, »hat mir die Tür geöffnet.«

    »Pitt hat mich mit ein paar Programmierern zusammengebracht, die neben seiner Kanzlei ihre Räume haben. Die suchten noch jemanden, der Lust hat, Programme mitzuschreiben, Sicherheit, Verschlüsselungen, Anti-Virenprogramme und so weiter. Ich habe mich sofort gemeldet. Viel besser als Spiele und anderes unsinniges Zeug.« Er schnaufte einmal durch.

    »Und jetzt mache ich bei denen mit, entwickele für unsere Kunden Sicherheitssoftware und finanziere mein Leben selbst.«

    Tom hatte bereits das gesamte Team kennengelernt. Ein wenig anarchistisch, kritisch, politisch engagiert, in einem der letzten ziemlich üblen Hinterhöfe in St. Pauli hausend. Immerhin waren es nur ein paar Schritte zum Stadion des FC St. Pauli.

    Er schielte zu Heiner, der, überrascht, sich fast überrumpelt fühlte, sprachlos war und der Stolz empfand. Tom hatte sich an seinem eigenen Schopf aus dem bedrohenden Sumpf gezogen.

    Er lachte dröhnend, schlug seinem Sohn auf die Schulter, begeistert, innerlich jubelnd und noch mehr erleichtert.

    »Die Firma wurde übrigens von Pitt Rotstett gegründet, der außer Rechtsanwalt auch Inhaber einer Kunstkampfsportschule ist. Einem Bullen von Kerl, der noch breiter und größer ist als du, Paps«, ein dunkler Schatten huschte über sein Gesicht und seine Stimme klang bitter, als Tom sagte: »Ich war nicht der Einzige, der Geld verloren hatte. Eine Menge Leute haben Ersparnisse und Vermögen abschreiben müssen. Pitt sagt, wir müssen versuchen zu verstehen, wie die Leute ticken, die sich an den Verlusten anderer bereichern. Wir sollten uns dafür interessieren, wie ihre sozialen und technischen Programme funktionieren.«

    Tom bezweifelte, dass er Doris überzeugt hatte. Sie hätte es gern gesehen, wenn er ein Studium absolviert und eine feste, sozialversicherungspflichtige Stelle gehabt hätte.

    Tom wollte sich nicht in Hierarchien einfügen und keinen unsinnigen Zwängen unterwerfen müssen. Formale Arbeitsanweisungen zu befolgen, die die Kreativität nur einschränkten und an deren Sinn er zweifelte, kam für ihn nicht in Frage.

    Und vor allem wollte er das tun, was für ihn wichtig war.

    »Ich will mich nicht darauf abrichten lassen, mich der Wirtschaft möglichst günstig zu verkaufen.«

    Er wollte kein beißwütiger Kampfhund im Wirtschaftsleben werden, nicht vom Jagdfieber nach höheren Dotierungen und machtbesessenem Einfluss getrieben werden.

    Nicht einmal zwei Jahre waren vergangen. Tom saß in seiner kleinen Wohnung, schaute aus dem Fenster und hörte die S-Bahn vorbeirattern, die 16.04 Uhr an der S-Bahn-Station halten sollte. Er lauschte dem zähfließenden Straßenverkehr, sah auf die Fahrzeuge, die sich mühsam und im Schritttempo über den Asphalt schlängelten, und dabei sollte doch alles immer schneller, schneller gehen.

    Heiner verzieh seinem Sohn, dass er ihm nichts gesagt hatte. Nur zu gut wusste er, dass die innere Dunkelheit immer wieder drohte Tom einzuholen. Er floh vor ihr, wollte Abstand gewinnen.

    Er humpelte an einem der Apriltage, an denen sich Graupelschauer mit Nieselregen, kurzfristigen blauen Fetzen am Himmel, geschönt durch sekundenlange Sonneneinstrahlung und windböengetriebenen Schneeregen, abwechselten, mit Regenjacke und Stiefeln bewaffnet durch Heppenstett. Eben noch voller Tatkraft und Euphorie, sackte Tom in sich zusammen, nahe daran, zu resignieren.

    Immer dann, wenn seine innere Verunsicherung, das Tasten nach Richtig und Falsch, ihn überrollte und er Gefahr lief, in einem schwarzen Loch zu verschwinden, lockte ihn mieses Wetter wie an diesem Sonntag, den er bei seinen Eltern verbrachte, nach draußen. Er unternahm zum x-ten Mal den Versuch, seine Gedanken zu ordnen. Er empfand Angst. Angst, dass Morgen und Abend sich wieder vermischen könnten, dass er in einer permanenten Dämmerung leben würde, die sich niemals zur Nacht zusammenziehen und ihm keinen Schlaf schenken würde. Wieder und immer wieder floh der Schlaf vor ihm. Tanzte um ihn herum. Er fürchtete nichts mehr, als nachts wieder wach zu liegen. Er lag mit aufgerissenen Augen in der Dunkelheit. Wartete. Wartete, dass sich die Dunkelheit verkroch. Licht durchs Fenster fiel. Er wenigstens Schemen erkennen konnte. Was früher Sicherheit versprochen hatte, löste sich auf und nicht immer war das Neue sichtbar, blieb schattenhaft im Dämmerlicht verborgen. Er bewunderte Heiner, der durch alle Widersprüche watete, der, so gut es ging, die Hand über seine Mitarbeiter hielt und der robust genug war, sich nicht klein schreddern zu lassen.

    Und Heiner hatte auch über ihn seine schützende Hand gehalten. Toms Vater hatte in den siebziger Jahren bei der Umform GmbH zu arbeiten begonnen, hatte in dem mittelständischen Unternehmen, das sich zu der Zeit noch in Familienbesitz befand, als Facharbeiter begonnen und sich nach der Meisterschule zum Abteilungsleiter hochgearbeitet.

    Heiner hatte seitdem jeden Veränderungsschritt miterlebt. Hatte die Meisterschule gemacht, abends, hatte sich das Wissen angeeignet. Hatte sich selbst verändert.

    Tom hatte größten Respekt vor der Leistung seines Vaters.

    In den achtziger Jahren führten neue Chemieanlagen zu neuen Anforderungen, die den Chemiearbeitern mehr Wissen und nicht unbedingt mehr Können abverlangten. Der Arbeitstag hatte

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