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Shanghai Passage: Emigration ins Ghetto
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eBook230 Seiten3 Stunden

Shanghai Passage: Emigration ins Ghetto

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Über dieses E-Book

Das Schicksal einer jüdischen Familie im Wien der späten 1930er Jahre, die unprätentiöse Lebensgeschichte einer Vertriebenen.
"Zwei Passagen auf dem Dampfer USARAMO nach Shanghai frei".

Das Schicksal einer jüdischen Familie im Wien der späten 1930er Jahre, die unprätentiöse Lebensgeschichte einer Vertriebenen: Eindringlich und in aller Präzision schildert Franziska Tausig die verzweifelten Versuche, 1938 aus Österreich ausreisen zu können - irgendwohin. Ihren Sohn Otto Tausig - damals 16jährig, heute bekannter Wiener Schauspieler - kann sie 1938 durch einen Kindertransport nach England retten, er lebt dort bis 1945 in der Emigration. Für sich selbst und für ihren Mann bekommt sie durch Zufall zwei Schiffspassagen nach Shanghai.

"Man sagte uns, dass wir Glück hätten. Die Besitzer dieser Passagen hatten am Vortag Selbstmord verübt, der Dampfer war von der Gestapo gechartert worden und sollte nach Shanghai fahren."
Der Zufluchtsort Shanghai, der Krieg, Blicke in das Leben der EmigrantInnen im Ghetto unter japanischer Kontrolle - aufgezeichnet von einer Frau, die zunächst nur durch ihre Fähigkeit, Apfelstrudel und Sachertorte zu backen, überlebt und deren Mann im Exil an TBC stirbt. Erst 9 Jahre später kann sie nach Wien zurückkehren. Am Westbahnhof sehen ihr Sohn Otto und sie einander wieder.
Franziska Tausig verstarb 1989, zwei Jahre nachdem dieses Buch erstmals erschien (Verlag für Gesellschaftskritik, Wien 1987). Ich war bereits vollkommen hoffnungslos, als ein junger Mann an mich herantrat. "Entschuldigung, gnädige Frau”, sagte er sichtlich verlegen, "sind Sie vielleicht meine Mama?"

Überarbeitete und erweiterte Neuauflage mit einem Nachwort von
Otto Tausig und einem Vorwort von Helmut Opletal
SpracheDeutsch
HerausgeberMilena Verlag
Erscheinungsdatum7. Okt. 2015
ISBN9783902950659
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    Buchvorschau

    Shanghai Passage - Franziska Tausig

    Tausig

    Shanghai – eine versunkene Welt

    So wie Casablanca oder der Orient-Express hat auch Shanghai Stoff für unzählige Filme, Schlager und Träumereien geliefert: Shanghai signalisierte Exotik und Verruchtheit, Abenteuer und schnelles Geld, Schmelztiegel der Völker und alle Variationen des Nachtlebens einer großen Hafenstadt in einem. Daneben die Vorstädte des chinesischen Elends, das andere Shanghai mit Hungerlöhnen, Kinderarbeit, Seuchen und unmenschlichen Wohnverhältnissen.

    Der rasante Aufschwung Shanghais seit der Mitte des 19. Jahrhunderts war eng mit der Blüte des chinesischen Kapitalismus verknüpft. Die Fabriken und Manufakturen, der Handel mit der Außenwelt machten die Hafenstadt an der Mündung des Yangtse-Flusses bis 1930 zur fünftgrößten Stadt der Welt.

    Chinas Begegnungsstätte mit dem Westen ist Shanghai jedoch nicht freiwillig geworden. Mit Kanonenbooten erzwangen die Ausländer – voran die Briten 1842 im Opiumkrieg – das Recht auf Ansiedlung, freien Handel, Grundbesitz, eigene Gerichtsbarkeit und sogar die Stationierung von Truppen. Shanghai war zwar nie eine Kolonie im strengen Sinn, aber bis in die vierziger Jahre gab es eine von Fremden regierte Stadt in der Stadt: das »Settlement«. Genau genommen waren es deren zwei, die eigenständige französische Konzession und das aus den Vierteln der Briten und der Amerikaner entstandene »Internationale Settlement«, so etwas wie eine Stadtrepublik mit eigener Verwaltung und Armee. Zusammen waren sie stattliche 30 Quadratkilometer groß und umfassten das eigentliche Herz Shanghais: Das Geschäftszentrum, die Bankpaläste, Clubs und mondänen Einkaufsstraßen.

    »Für Hunde und Chinesen verboten« stand zwar nicht wörtlich an den Eingängen zum gepflegten Hwangpu-Park am Hafen, aber in der langen Verbotsliste, die auf den Schildern angeschlagen war, fanden sich irgendwo eben auch Hunde und Einheimische aufgezählt.

    Die chinesische Regierung hatte in den »Settlements« jedenfalls nichts mitzureden, auch wenn man später ein paar Alibi-Chinesen in die französische und internationale Stadtverwaltung aufnahm und »sauber gekleideten« Chinesen den Zugang zu besagtem Park erlaubte. Erst die japanische Besatzungsmacht schaffte 1943 die letzten exterritorialen Vorrechte der westlichen Mächte ab.

    Mehr als 100.000 Europäer und Amerikaner, Japaner und andere Asiaten lebten um 1940 in der Stadt. Den Höhepunkt erreichte der ausländische Bevölkerungsanteil, als in den zwanziger und dreißiger Jahren immer mehr Flüchtlinge in Shanghai ihr Exil aufschlugen. An die 20.000 kamen allein aus Österreich und Deutschland.

    Die ersten Heimatlosen waren die »Weißrussen« – Gegner der »roten« Bolschewiken, die nach der Oktoberrevolution aus Sibirien nach China geflüchtet waren. Ende der dreißiger Jahre, nach der Besetzung Österreichs und der Tschechoslowakei durch Hitler, folgten immer mehr Opfer des Nazi-Regimes. Als der Zweite Weltkrieg näher rückte und die Judendeportationen begannen, wurden in Europa und in den klassischen Einwanderungsländern die Grenzen zunehmend dichter. Shanghai war bald der letzte Zufluchtsort, der noch ohne Visum, komplizierte Bürgschaften und Kautionszahlungen erreichbar war. So wurde die gebuchte Schiffspassage nach Shanghai für viele die letzte Rettung vor den Gaskammern der KZs.

    Auch die schon vorher recht bedeutsame Stellung der Juden in Shanghai kam den Emigranten dabei zu Hilfe. Die Familien der Sassoons, der Hardoons und der Kadoories, die, aus Baghdad und Indien stammend, mit den Briten nach Ostasien gekommen waren, dominierten nicht nur das Geschäftsleben, sondern gründeten auch Sozialeinrichtungen sowie Hilfsfonds für die notleidenden Glaubensbrüder aus Europa. Sie sorgten für die ersten Unterkünfte und Notgroschen der Neuankömmlinge in Shanghai und später auch für die notwendig gewordene Arbeitserlaubnis. Viele jener, die nicht freiwillig nach Shanghai gekommen waren, lebten unter eher ärmlichen Verhältnissen, in Massenunterkünften und von Armenausspeisungen versorgt. Doch auch ihnen ging es immer noch besser als der Mehrzahl der Chinesen in der Stadt.

    Aber es waren keinesfalls nur Juden, auch politische Flüchtlinge – Spanienkämpfer, Kommunisten, Sozialisten, Monarchisten – suchten in Shanghai Exil, und manch engagierter Linker fand hier Kontakt zu chinesischen Revolutionären. Sie alle gesellten sich zu den Geschäftsleuten, Journalisten, Künstlern und Weltenbummlern, die sich schon seit mehr als 80 Jahren in der Stadt angesiedelt hatten. Die Welt der Ausländer, der »Shanghailänder«, wie sie sich nannten, war jedenfalls eine sehr vielfältige: Feine britische Clubs, französische Restaurants, indische Sikh-Polizisten, Wiener Kaffeehäuser, Synagogen, die alte Jesuitenmission in Ziccawei, Bordelle mit weißrussischen Damen (aber auch anderen), Pferde- und Hunderennen mit dem dazugehörenden Wettspiel. Zeitungen und Magazine erschienen auch auf Deutsch, Französisch, Englisch, Russisch und noch in einem guten Dutzend weiterer Sprachen.

    1940 leben in Shanghai mehr als 3000 österreichische Juden, ein »Little Vienna« ist in der Stadt entstanden, eine Wiener Subkultur auf chinesischem Boden, mit Kaffeehäusern, einem Wiener Operettentheater und Österreichvereinen. Man pflegt ein Österreichbewusstsein zu einer Zeit, wo der Staat von den Landkarten verschwunden war. Die Wiener Kaffeehäuser mit den Marmortischen, auf denen die Ober Gugelhupf und Buchteln servieren, werden beliebte Treffpunkte für Ausländer und chinesische Intellektuelle gleichermaßen. In ganz Shanghai kennt man das Restaurant »Fiaker« in der vornehmen Avenue Joffre Nummer 997, das Gulyas, Schnitzel und Gefüllte Paprika auf der Speisekarte führt, und wo »Pepi am Klavier unterhält«, wie ein Inserat in der englischsprachigen »Evening Post« wirbt. Andere Wiener Gaststätten heißen »Weißes Rössel« oder auch »Kolibri«, das Café, das in den vorliegenden Erinnerungen von Franziska Tausig eine Rolle spielt.

    Inzwischen macht Japans Expansionsdrang auch vor Shanghai nicht halt. 1937 fallen japanische Bomben, Tokios Soldaten terrorisieren mit brutalen Unterdrückungs- und Vergeltungsmaßnahmen die Chinesen in der besetzten Stadt.

    Der Zustrom von Emigranten kommt Anfang der vierziger Jahre allmählich zum Erliegen. Schon der Kriegseintritt Italiens hat die Seeroute über das Mittelmeer versperrt, Juden können nur mehr in plombierten Zügen durch Russland China erreichen. Nach dem Bruch des Hitler-Stalin-Paktes und dem Kriegsbeginn im europäischen Osten ist auch diese Route nicht mehr möglich.

    Dafür erreicht Hitlers Rassenpolitik nun auch den Fernen Osten. Unter dem Druck Nazi-Deutschlands führen die Japaner Zwangs- und Kontrollmaßnahmen für die Juden in Shanghai ein. 1942 erhalten sie Identitätskarten mit gelben Streifen, und ab Februar 1943 müssen sie in ein eigenes Ghetto im Stadtteil Hongkew abseits des einstigen Lebensbereiches der Europäer übersiedeln und ihre Geschäfte und Wohnungen aufgeben. Zum Verlassen des Stadtteils brauchen sie eigene Passierscheine.

    Dennoch haben die Japaner nie wirklich Verständnis für Hitlers Judenhass aufgebracht. Obwohl die Nazis, die für die Shanghai-Deutschen eigene Schulen, HJ-Gruppen, Zeitungen und Deutschtumsverbände betrieben, Druck auf die Japaner ausübten, ließen sie sich zu keinen weiteren Zwangsoder gar Vernichtungsmaßnahmen drängen. Es blieb bei der Internierung in dem Ghetto, in dem die Juden immer noch besser dran waren als die Angehörigen der Alliierten, die in stacheldrahtumschlossenen Lagern gehalten wurden. Zeitweise ließen die Japaner zum Entsetzen der Deutschen sogar die Shanghaier Nazi-Zeitung »Ostasiatischer Lloyd« durch zwei Juden zensurieren – »weil sie so gut Deutsch können«.

    Erst 1945, als amerikanische Soldaten die Japaner nach der Kapitulation entwaffneten, konnten die europäischen Flüchtlinge langsam an Rückwanderung denken. Doch in den Nachkriegswirren brauchte das seine Zeit. Erst Ende 1946 liefen die ersten großen Schiffstransporte Richtung Österreich aus. Amerikanische und Internationale jüdische Hilfsorganisationen kümmerten sich um die im Fernen Osten gestrandeten Heimatlosen. Auch eine »Austrian Resident Association«, eine Art österreichisches Bürgerkomitee, sorgte sich um die Österreicher. Viele drängte es aber gar nicht mehr nach Europa, sondern nach Amerika oder gleich nach Palästina, wo der zukünftige Staat Israel im Entstehen begriffen war.

    Shanghai jedenfalls fand nie mehr zurück zu seiner Vorkriegsatmosphäre. Auch der chinesische Bürgerkrieg warf seine Schatten auf die Stadt. Inflation und Kriminalität nahmen zu, die Wirtschaft lag danieder.

    Ende Mai 1949 marschierte schließlich die »Volksbefreiungsarmee« Mao Zedongs in Shanghai ein, und die Revolution erreichte wieder jenen Ort, von wo sie 1921 mit der Gründung der Kommunistischen Partei Chinas ihren Ausgang genommen hatte.

    Die Veränderungen unter den neuen kommunistischen Machthabern schnitten tief in das Leben der Stadt. Das zunächst Wichtigste war, dass Shanghai wieder ausschließlich chinesisch wurde, und alle Ausländer mussten bis auf ganz wenige Ausnahmen die Stadt verlassen. Auch viele reiche Chinesen flüchteten nach Taiwan oder Hongkong. Massenmedien, Industrie, öffentliche Einrichtungen wurden schrittweise verstaatlicht. Der Kampf gegen Kriminalität, Drogensucht und Prostitution wurde radikal und kompromisslos geführt. Ausländischer Einfluss in Kultur und Bildungswesen wurde systematisch zurückgedrängt.

    Genügend zum Essen und ein Dach über dem Kopf für jedermann waren das erste Ziel, und es ist auch weitgehend verwirklicht worden. Auch das muss man bedenken, wenn man heute etwas nostalgisch auf das bunte Leben im alten Shanghai blickt und bedauert, dass die mächtigen Gebäude der Gründerzeit oder die zahlreichen Inneneinrichtungen im klassischen Art déco-Stil verkommen.

    In die Bank- und Versicherungspaläste der Gründerzeit sind jetzt Partei- und Staatsbehörden einquartiert. Die Kaufhäuser an der Nanking Road wie das Sincere oder Wing On wurden genauso verstaatlicht wie die einst feinen Luxusgeschäfte in der Avenue Joffre. Die ehemalige Pferderennbahn wurde zu einem Paradeplatz umgebaut, nur mehr die Tribünen sind heute übrig. Viele Kirchen, auch die Synagogen, wurden teilweise demoliert und zweckentfremdet. Erst nach der »Kulturrevolution« der sechziger Jahre hat man ein paar Kirchen renoviert und wieder geöffnet.

    Jetzt, fast vierzig Jahre nach der Revolution, sehen auch chinesische Historiker die »ausländische« Vergangenheit Shanghais wieder etwas differenzierter, nicht nur als unerwünschte Fremdherrschaft, sondern auch als Zeit der wirtschaftlichen Blüte und kulturellen Bereicherung, an die man sogar wieder ein wenig anknüpfen will, vor allem wenn es um Wirtschaft und Wissenschaft geht. Seit Anfang der achtziger Jahre zum Beispiel führt die von deutschen Missionaren gegründete Tongji-Universität wieder eine eigene Abteilung mit deutscher Unterrichtssprache und 40 bundesdeutschen Lektoren.

    Vor allem für die Touristen bemüht man sich, das Vorkriegs-Shanghai wieder ein wenig lebendig zu machen. Im Peace Hotel, dem ehemaligen »Cathay« im Sassoon-Haus am »Bund«, spielt jetzt jeden Abend eine Jazz-Band. Ihr Durchschnittsalter: um die siebzig Jahre, Veteranen der Jazz-Clubs des alten Shanghai. Auch so manche Art Déco-Kostbarkeit, um die Wien oder Paris neidisch sein könnten, wird wieder auf Hochglanz gebracht. Und in etlichen Restaurants und Konditoreien Shanghais pflegt man wieder die Striezel und Creme-Torten, das Beef Stroganoff und die Schnitzel, deren Rezepte die Europäer einst hinterlassen haben.

    Aber es ist eine versunkene Welt, genauso wie die des alten Österreich-Ungarn oder der jüdischen Städte und Dörfer im europäischen Osten. Eine Welt, die nur mehr durch die Erzählungen der Menschen, die sie erlebt und geschaffen haben, lebendig gehalten wird.

    Wien, 28. Jänner 1987 Helmut Opletal

    Shanghai – eine Wiedergeburt?

    Zur Neuauflage

    Shanghai ist wieder Weltstadt, und es erinnert sich heute bewusst jener Zeit, in der es Zufluchtsort für Tausende politisch und rassisch Verfolgte aus Mitteleuropa war. Doch Franziska Tausig würde das neue Shanghai kaum wieder erkennen, denn keine andere Großstadt der Welt hat sich in den letzten Jahrzehnten so rasch verändert.

    Nirgendwo sonst ist der atemberaubende Wirtschaftsboom, der mit Deng Xiaopings Reformpolitik vor einem Vierteljahrhundert eingesetzt hat, spürbarer als in der ostchinesischen 15-Millionen-Metropole. Ganze Stadtviertel werden innerhalb weniger Monate niedergerissen und neu gebaut. Auch von vielen Gründerzeitbauten, die das Shanghai der Emigration geprägt haben, stehen nur noch mit einem neuen Innenleben gefüllte Fassaden. Erst in jüngster Zeit besinnt man sich auf den Denkmalschutz, doch der »Bund«, das alte Wahrzeichen mit seinen Hotels und Bankenpalästen, wird längst von einer um ein Vielfaches höheren Wolkenkratzer-Kulisse überragt.

    Noch trägt China insgesamt die Züge eines Entwicklungslandes, doch die Region Shanghai erreicht heute einen Lebensstandard, der durchaus mit dem des Industrielandes Südkorea vergleichbar ist, auch wenn die Spanne zwischen Arm und Reich, zwischen diskriminierten Wanderarbeitern aus den armen Bauernprovinzen und der selbstbewussten, konsumorientierten Mittel- und Oberklasse bald wieder so weit auseinander klafft wie vor dem Krieg. Als Kehrseite des relativen Wohlstands und einer Wirtschaft, die zunehmend durch den »Markt« bestimmt wird, haben auch organisiertes Verbrechen und Prostitution in der Stadt neuerlich Fuß gefasst.

    Mit der Öffnung Chinas ist Shanghai durchaus wieder international geworden. Nicht nur haben ausländische Firmen längst die besten Werbeflächen für japanische, deutsche und US-amerikanische Markennamen erobert, auch schätzungsweise 150.000 Menschen aus dem Ausland, Tendenz weiter zunehmend, leben heute wieder in der Stadt, darunter ca. 500 mit österreichischem Pass. Neben einem Generalkonsulat gibt es eine Außenhandelsstelle, die rund 140 österreichische Firmen in Ostchina (überwiegend im Großraum Shanghai) betreut, ein »Österreich-Zentrum« an der Fudan-Universität, österreichische Fremdenverkehrswerbung und einen Österreicher-Verein.

    Zu den unzähligen McDonalds, Pizza Huts, Paulaner-Bräus und wie sie sonst alle heißen, hat in der Shaoxing Road (im alten französischen Settlement) im Dezember 2004 auch ein »Vienna Café« eröffnet. Und im »Max und Moritz« im neuen Stadtteil Pudong trifft sich einmal im Monat ein Österreicher-Stammtisch, fast schon so wie es Franziska Tausig vor mehr als 60 Jahren erlebt hat.

    Ein wesentlicher Unterschied allerdings ist, dass die Behörden penibel darauf achten, dass im heutigen Shanghai, trotz wiedergewonnener Internationalität, alle wichtigen politischen und ökonomischen Entscheidungen in chinesischer Hand bleiben und keine exterritorialen Rechte und Befugnisse entstehen, wie zur Zeit der ausländischen Niederlassungen vor dem Krieg.

    Auch daher ist das offizielle China, aber auch die einheimische Bevölkerung, immer noch gespalten im Umgang mit dieser Vergangenheit: Einerseits wächst ein nostalgisches Interesse am alten Shanghai, und in chinesischen Buchläden findet man ganze Regale mit Erinnerungsliteratur und Bildbänden mit alten Fotos oder Postkarten. Auch wenn es darum geht, mit Reminiszenzen an damals um Touristen zu werben oder finanzkräftige Investoren aus Israel oder den USA nach Shanghai zu locken, geben sich die Stadtbehörden nicht kleinlich. Auf der anderen Seite will man die fremde Präsenz von einst im heute recht nationalistisch gesinnten China nicht allzu sehr verklärt sehen.

    Eine positive Ausnahme dabei bildet die Erinnerung daran, dass Shanghai vor allem jüdischen Emigrantinnen und Emigranten Zuflucht in größter Not geboten hat. Dass dies heute möglich ist, dazu mögen auch die 1992 aufgenommenen diplomatischen Beziehungen zwischen China und Israel (und das gegenseitige Interesse an einer sicherheitspolitischen und militärischen Zusammenarbeit) beigetragen haben. Man unternimmt jedenfalls gemeinsame Anstrengungen, das jüdische Erbe in Shanghai zu wahren. Seit der damalige Bundespräsident Thomas Klestil 1995 das frühere »Ghetto« in Shanghai besucht hat, zeigt sich auch das offizielle Österreich engagiert.

    Die Stadtbehörden haben im Bezirk Hongkew (»Hongkou« nach heutiger Schreibweise) einige alte Häuserzeilen, wo die jüdischen Flüchtlinge gewohnt haben, vor dem Abriss bewahrt und zum Teil so renoviert, dass China-erfahrene Skeptiker schon von einer allzu kommerzialisierten Touristenfalle warnen.

    In der früheren Ohel-Moishe-Synagoge wurde jedenfalls ein kleines Museum eingerichtet, und ein paar Schritte weiter im Huoshan-Park steht seit 1994 ein Gedenkstein, auf dem auf Englisch, Chinesisch und Hebräisch recht nüchtern vermerkt ist:

    »Auf der Flucht vor der Verfolgung durch die Nazis kamen 1937 bis 1941 Tausende Juden nach Shanghai. Die japanischen Besatzungsbehörden betrachteten sie als ›staatenlose Flüchtlinge‹ und wiesen ihnen diesen Stadtbezirk zu, um ihre Bewegungsfreiheit einzuschränken.«

    Österreich oder Deutschland werden nicht erwähnt, auch jüdische Symbole fehlen.

    Die Shanghaier Akademie für Sozialwissenschaften unterhält aber ein »Zentrum für jüdische Studien«, das sich unter dem umtriebigen Professor Pan Guang um die Erforschung der Emigrationszeit (und auch der verstreuten jüdischen Gemeinden, die es schon seit der Tang-Dynastie vor 1400 Jahren in China gab) verdient gemacht hat. Seit Februar 2006 leistet ein Österreicher dort seinen Zivilersatzdienst in Form eines »Gedenkdienstes«.

    Zum ersten Mal treffen sich, mehr als sechzig Jahre nach Kriegsende, auch wieder 120 überlebende »Shanghailänder« und ihre Nachfahren aus Israel, den USA und Australien ganz offiziell und mit chinesischer Unterstützung zu einer »Rickshaw Reunion« in ihrem einstigen Wohnbezirk.

    Franziska Tausig, hätte sie das Jahr 2006 noch erleben können, wäre wohl zumindest in Gedanken dabei gewesen.

    Wien, im September 2006Helmut Opletal

    I Die »unbeschwerte« Zeit

    IN EINEM GEMÜTLICHEN WOHNZIMMER saßen in einer Maiennacht drei Herren und spielten Karten, tranken starken, heißen Kaffee, kippten von Zeit zu Zeit einen klaren Schnaps und regten sich weiter nicht sonderlich auf. Es waren drei Ärzte, Vater, Sohn und Schwiegersohn.

    In gewissen Abständen huschte die Hebamme Regina Schwarzenberg aus dem Nebenzimmer heraus und flüsterte mit den Herren etwas über Fruchtwasserabgang. Das war der ernste Zeitpunkt, zu dem mir das Wasser, in dem ich als Embryo fröhlich geplätschert hatte, entzogen worden ist. Spitze, schrille, zunehmend lang gezogenere Schreie störten das Kartenspiel. Immer wieder nickte einer der drei und murmelte: »Gut, gut, sehr gut«, und die Schwarzenberg wusste nicht, ob das auf die näher rückende Geburt oder das Kartenspiel bezogen war. Die Gattinnen der drei Herren waren im Wochenbettzimmer versammelt und jammerten mit der Wöchnerin um die Wette. Ab und zu stürzte eine von ihnen ins Nebenzimmer und machte dem Gatten bittere Vorwürfe. Die Herren ließen sich aber nicht aus der Ruhe bringen. Es war

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